Re: [ox-de] Re: Schlaraffenland?
- From: Hans-Gert Gräbe <hgg hg-graebe.de>
- Date: Sun, 05 Dec 2010 14:23:04 +0100
Hallo Stefan,
Am 12.11.2010 17:11, schrieb Stefan Merten:
Ich gehe da sogar noch viel weiter - Konflikte sind nach meinem
Verständnis das zentrale Strukturierungselement der Welt, alle
sichtbaren Strukturen sind "Waffenstillstandslinien" in dem einen oder
anderen Sinn.
Interessanter Gedanke. Ich würde allerdings nicht so weit gehen, dass
*alle* sichtbaren Strukturen Ergebnis solcher Waffenstillstände sind -
aber vielleicht habe ich mich noch nicht genug an den Gedanken gewöhnt.
Proud vom K-Pax dazu: "Alles auf euerm Planeten strebt mit solcher Kraft
zum Licht, dass diese Energie 10 Planeten mit Leben versorgen könnte."
Die wirklich wichtigen (und interessanten) Konflikte
lassen sich auch nicht "lösen", sondern sind dauernde Gratwanderungen.
Könnte sein. Wichtiges Ziel wäre m.E. aber, dass vermeidbare Konflikte
auch vermieden werden. Was vermeidbar ist, ist natürlich im Detail
eine gute Frage, aber in vielen Fällen auch einfach.
Ich denke, das ist allerdings für Außenstehende schwer zu beurteilen.
Im Übrigen ist in einem Konflikt das Urteil Außenstehender auch oft
irrelevant. Diese Gesellschaft ist so gebaut, dass - jenseits dessen,
was man Geschäftsunfähigkeit nennt - nur du für deine Entscheidungen
verantwortlich gemacht wirst.
Viele dieser Konflikte treten auf als Zielkonflikte zwischen kürzer-
und längerfristigen Perspektiven und damit zwischen verschiedenen
Zeitebenen.
Sowohl die Metapher "Schlaraffenland" als auch "Selbstentfaltung"
blenden diese Konfliktebene aus bzw. betrachten sie als sekundär.
Für Selbstentfaltung bestreite ich das entschieden.
Nun, da diese Zielkonflikte, zwar oft von außen reingetragen, meist auch
*innere* Konflikte sind, müsste eine Theorie der Selbstentfaltung dazu
was sagen. Das kann ich, wenigstens in den Ansätzen, die auf dieser
Liste diskutiert wurden, nicht erkennen. Ich sehe nur Überlegungen zu
personalisierten Konflitregulationsszenarien - wir einigen uns oder
gehen uns aus dem Weg (Fork).
Wir haben das gerade noch einmal am Beispiel des Films "Wall Street"
diskutiert. Ich habe auch keine Antworten, aber die Frage, wie
Selbstentfaltung mit Konkurrenzsituationen umgeht, steht natürlich. Die
gab es ja lange vor dem Kapitalismus, und wenn es das Ringen zweier
Männer um dieselbe Frau ist (oder umgekehrt).
Selbstentfaltung müsste dazu wenigstens im Plural, und zwar jenseits
eines "je ich", entwickelt werden.
Das ist eigentlich StefanMz' / Holzkamps Domäne, aber nach meinem
Verständnis ist das "je ich" schon ein Plural wenn wir "ich" als
Singular setzen. Und wenn wir Selbstentfaltung auf "je ich" beziehen,
dann ist das schon im Plural.
Nicht unbedingt, das "je ich" hebt auf etwas Prototypisches ab und maßt
sich damit ein äußeres Urteil an, was Selbstentfaltung ist und was
nicht. Was ist, wenn sich jemand darauf nicht affirmativ bezieht?
Am Beispiel: Wenn ich in einem Freie-Software-Projekt oder in
Wikipedia handele, dann habe ich doch z.B. kurz- und langfristige
Perspektive ebenfalls. Im Idealfall liegt der Konflikt dann sogar in
mir und im Idealfall handele ich dann so, dass die *Maxime* meiner
Handlung als Grundlage für eine allgemeine Regel gelten könnte.
*Du* setzt damit die allgemeine Regel? Wo ist das Maß dafür, mit dem die
Maxime eigener Handlung als Grundlage für eine allgemeine Regel gemessen
werden kann? Stirner hält dem entgegen: "Was soll nicht alles Meine
Sache sein! Vor allem die gute Sache, dann die Sache Gottes, die Sache
der Menschheit, ... Nur Meine Sache soll niemals Meine Sache sein. »Pfui
über den Egoisten, der nur an sich denkt!« "
Ich denke, hier ist zumindest noch über einen Kohärenzprozess zu
sprechen, wie aus den privaten Urteilen ein allgemeines wird und welche
Gültigkeit dieses allgemeine Urteil verlangen kann. Eine solche
Ideologiekritik hat Marx bekanntlich nicht hinterlassen (im Gegenteil,
er war froh, die "Deutsche Ideologie" der "nagenden Kritik der Mäuse"
überlassen zu haben). Der "Präanarchist" Stirner ist hier m.E. ein
erstklassiger Ausgangspunkt, siehe genauer die Argumente in
http://www.calsky.com/lexikon/de/txt/d/de/der_einzige_und_sein_eigentum.php
("Stirner beschreibt auch einen Verein der Einzigen, die in freier
Assoziation gemeinschaftlich ihre Produktivität entfalten.")
So gesehen würde sich die Qualität einer MaintainerIn genau daran
messen, ob sie dazu in der Lage ist, ein Handeln nach solchen Maximen
zu mehren.
Hmm, ich messe eine MaintainerIn eher daran, ob sie in der Lage ist, den
Laden zusammenzuhalten.
Nun, der Anarchismus ist eine breite Strömung und es gibt Schulen, die
über die "ich"-Ebene nicht hinauskommen und solche, bei der die
"ich"-Ebene kaum vorkommt.
Das kennst du natürlich in Größenordnungen genauer als ich. Neben den
o.g. Verbindungen finde ich es vor allem spannend, dass in der
amerikanischen Free Software Szene solches Gedankengut immer wieder eine
zentrale Rolle spielt, siehe etwa
Eben Moglen: Anarchism Triumphant: Free Software and the Death of
Copyright, First Monday, August 1999. http://emoglen.law.columbia.edu
Eben Moglen: Freedom In the Cloud: Software Freedom, Privacy, and
Security for Web 2.0 and Cloud Computing.
http://www.softwarefreedom.org/events/2010/isoc-ny/FreedomInTheCloud-transcript.html
Hinter den Profitinteressen steckt /auch/ der Spagat zwischen
kurzfristigen operativen Interessen und langfristigen
investiv-reproduktiven. Da kommen dann, wenigstens im produktiven
Anlagekapital, auch die sachlogische Gründe zum Tragen.
Hier müssen wir m.E. begrifflich sauber trennen - auch wenn das in den
konkreten Handlungen sich meist mischt. Das Profitinteresse ist nicht
an den Wirkungen der Investitionen interessiert *außer* der G -> G'.
Hier lautet meine Standard-Gegenfrage inzwischen: "Was ist Profit?",
ergänzt um etwas, das ich am 22.11. "ökonomische Trvialitäten" genannt
habe:
* Geld vermittelt zwischen Vergangenheit und Zukunft – das Geld,
welches ich heute ausgebe, muss ich gestern eingenommen haben
* p=c+v+m – Preis, Sachkosten, Personalkosten und Rohgewinn
* m=u+r – Unternehmer und „fungierender Kapitalist“ - Reproduktion
der Infrastruktur
* r=a+z+t+r' – Rohgewinn, Abschreibungen, Transfers und Reingewinn
* These: In den Größen r' sowie den analogen Größen a' und t' ist die
Reproduktionsfähigkeit der gesellschaftlichen Infrastruktur und damit
die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft ökonomisch kodiert.
http://www.dorfwiki.org/wiki.cgi?HansGertGraebe/SeminarWissen/2010-11-22
Siehe dazu detaillierter den Abschnitt "Ökonomie des Fortschritts" in
http://www.hg-graebe.de/EigeneTexte/fortschritt-10.pdf
Das Finanzkapital arbeitet in seinen abgehobeneren Sphären auf genau
dieser Ebene und ist damit frei von Sachlogik.
Das die KapitalistIn natürlich ihren Betrieb am Laufen halten muss und
dafür sorgen muss, dass ihre Produkte verkäuflich bleiben, ist
natürlich auch richtig. Hier spielt natürlich jede Menge Sachlogik mit
rein.
Ich denke, die Logiken zwischen Anlage-Kapital und Finanz-Kapital sind
da genauer zu unterscheiden. Für letzteres (noch einmal Bezug auf den
Film "Wall Street") ist der Fokus auf G - G' sicher richtig. Aber auch
da gibt es noch den "Dash" zwischen G und G', wie der Sprecher Tony in
Christoph Spehrs u.a. Film "On Blood and Wings" betont
Mehr dazu siehe
http://www.dorfwiki.org/wiki.cgi?HansGertGraebe/SeminarWissen/2010-11-29
Wie so oft plädiere ich dafür, diese Ebenen auseinanderzuhalten. Die
erste Ebene verschwindet in der Peer Production, die zweite natürlich
nicht, auch wenn sie sich dort nicht an der Verkäuflichkeit sondern am
Nutzen orientiert.
Noch einmal Tony über die antikapitalistischen Versuche: "They did the
old game of confusing the blood and the Vampire. While they were eager
to kill the Vampire, they had no real idea how to manage the blood."
Ich denke, hier verbieten sich verkürzte Vorstellungen wie etwa bei
Christian Siefkes.
In der Peer-Ökonomie (PÖ) wird dieser Konflikt zwischen operativen und
strategischen Interessen durch unmittelbare Kommunikation aufgelöst.
Zur Peer-Ökonomie kann ich nicht viel sagen. In einer auf Peer
Production basierenden Ökonomie glaube ich in der Tat nicht, dass es
nur mit unmittelbarer Kommunikation geht. Da könnten z.B.
Download-Zahlen auch ein Kriterium sein - und damit eher Formen, die
wir aus anonymen Märkten kennen.
Wie auch immer. Auch in dieser Gesellschaft ist Geld nur *Teil* eines
Vertrags über einen "Deal", in dem weitere Qualitätsparameter
zugesichert werden. Nicht nur die Ergebnisse der Kommunikation über Geld
werden damit auf ein standardisiertes Maß von Verbindlichkeit gehoben.
Meine Leier vom BGB als kultureller Errungenschaft will ich hier nicht
wieder beginnen.
All das spielt sich allerdings auf der Ebene des *Vertragsrechts* ab.
Der ordnungsrechtliche Rahmen und dessen Genese ist eine zweite Story.
Und dann natürlich deren Wechselspiel. Deine weiteren Argumente greifen
mir hier zu kurz, denn du bekommst die ganze Ebene des Politischen gar
nicht mit in den Blick.
Nach meinem Verständnis verschiebt sich "schlicht" die Bedeutungslinie
zwischen (operativ) produktiven und (strategisch) reproduktiven
Aspekten.
Wenn du meinst, dass wir heute nur noch auf kurzfristige
Profitmaximierung aus sind, dann gebe ich dir recht.
Nein, ich meine, dass strategisch Reproduktives, also nur
rahmenrechtlich Regelbares gegenüber Operativem, also vertragsrechtlich
Regelbarem, an Bedeutung gewinnt. Dazu ist das Primat des Politischen
gegenüber dem Ökonomischen durchzusetzen, was zugleich das Gegenteil von
neoliberaler Politik ist. Allerdings auch die bisher wenig betrachtete
andere Seite der Medaille "Selbstentfaltung", denn Selbstentfaltung
setzt geeignete Entfaltungsbedingungen und deren Reproduktion voraus.
Ein Henne-Ei-Problem.
Damit verlassen wir vielleicht die "Tauschgesellschaft" im engeren
Sinne, dass damit auch der Kapitalismus automatisch am Ende ist, kann
ich nicht erkennen.
Hier sind wir letzlich in Definitionsfragen, aber wenn du jeden
Stoffwechsel mit der Natur als Kapitalismus bezeichnen willst, dann
gibt es denselben natürlich seit der ersten Zelle und wird es bis zum
Ende des Lebens weiter geben. Für was ein derart überdehnter Begriff
dann noch nützlich ist, weiß ich allerdings nicht.
In der Tat eine Definitionsfrage. Dazu muss allerdings erst mal
verstanden werden, was ein Technologiewechsel *innerhalb* des
Kapitalismus bedeutet. Dass "das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn
kennen" noch kein Ende des Kapitalismus ist. Erst wenn das geklärt ist,
lohnt es an der Stelle überhaupt weiterzudiskutieren. Noch einmal
Verweis auf meinen Aufsatz "Wie geht Fortschritt?"
Ich würde stets betonen, dass der Kapitalismus die bisher dynamischste
menschliche Gesellschaftsform ist - zweifellos.
Aber in den letzten 50 oder 100 Jahren hat es keinen einzigen
Transformationsprozess gegeben, der die abstrakte Arbeit oder die
Vergesellschaftung über den Äquivalententausch auch nur angetastet
hätte - inklusive der realsozialistischen im Übrigen, wiewohl die an
ein paar Stellschrauben immerhin gedreht haben.
So sehe ich das auch, allerdings habe ich mit deinen Begrifflichkeiten
Probleme, denn Marx betont ja gerade, dass die Sicht auf die
Marktprozesse als "Äquivalententausch" eine fetischisierte Sicht ist,
weil dort - ich sage es mit meinen Worten - nicht Werte getauscht,
sondern Wertvorstellungen synchronisiert werden. Es treffen sich auf dem
Markt eben nicht Produkte unabhängiger Arbeiten, sondern
gesellschaftliche Produzenten. Die dort allerdings über viel mehr als
den Preis reden.
Ist das auszubauen oder zurückzuschrauben?
Viele Grüße,
Hans-Gert
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