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Re: [ox-de] keimform.de: Vom Strike Bike zum Free Bike?



Hallo Christian,

es ist die alte unbeantwortete Frage, wie weit für die Peer Production nicht nur

die vorhandenen, im und für den Kapitalismus entwickelten
Produktionsmittel einfach übernommen werden können

sondern wie weit sie die industrielle Produktionsweise, die dort erforderliche hochgradige Präzision und Verbindlichkeit von Absprachen (Wolf Görings "Tasse Kaffee") insgesamt voraussetzt. Das ist unbeachtlich der Frage,

ob eine neue Produktionsweise nicht auch neue Produktionsmittel
braucht -- Produktionsmittel, die selbst Ergebnis dieser
Produktionsweise sind.

Neue Produktionsweisen setzten bisher immer auf den kulturell-technischen Errungenschaften bisheriger Produktionsweisen auf und gingen nicht hinter den erreichten Grad der Vernetzung der Produktionsorganisation zurück.

Es geht dabei nicht nur (und in deiner Gesellschaftsutopie wohl überhaupt nicht mehr) um die Allokation der _finanziellen_ Mittel für die erforderliche Infrastruktur-Reproduktion, sondern um die Mechanismen einer verbindlichen und verlässlichen Infrastruktur-Reproduktion selbst. Die auch - wie bei Strike Bike nun letztlich doch geschehen - in der Lage sind, ökonomische Aktivitäten abzuwickeln, wenn die Zeit dafür reif ist, auch wenn dies (hier) quer zu den partikularen Interessen der beteiligten LohnarbeiterInnen liegt.

Wie's in _dieser_ Gesellschaft geschieht hatte ich kurz beschrieben. Dort wird (in grober erster Näherung) eine Produktion abgewickelt, wenn der am Markt erlöste Gewinn nicht mehr ausreicht, die Infrastruktur-Reproduktion zu gewährleisten, wenn also der Rest der Gesellschaft seine Kooperationsbereitschaft zurückfährt, weil es inzwischen einfachere Wege gibt, das Bedürfnis zu befriedigen.

Das hat ein "Enthusiast" um Strike-Bike wie folgt klar zum Ausdruck gebracht:
TraumSpinner (09.12.2010, 20:01 Uhr)
Sehr geehrte(r) Kundin/Kunde, aufgrund der momentan regen Nachfrage
können wir frühestens nach 4-6 Wochen ausliefern! Wir danken für Ihr
Verständnis…
lol
http://www.keimform.de/2010/ende-des-strike-bike/#comment-18854

Da es in diesem Kommentar von TraumSpinner auch nicht ansatzweise ums Geld geht, denke ich, das könnte eine typische Reaktion in der Peer-Ökonomie in einer solchen Situation sein.

Es wäre also interessant zu erfahren, wie du dir das Prozessieren derartiger essentieller, tief in den sich widersprechenden individuellen Interessen und Begehrlichkeiten verankerter Konflikte (in einer anderen Mail hatte ich von "Waffenstillstandslinien" geschrieben) vorstellst an Stellen, wo man sich nicht mit einem Fork aus dem Weg gehen kann (wie eben bei der Einbettung von Strike Bike in die Fahrradproduktion insgesamt).

Die von dir entwickelte Utopie einer Peer-Ökonomie ist für mich eine seltsame Symbiose des Traums vom Schlaraffenland und einer protestantischen Arbeitsethik. Während im originalen Schlaraffenlandtraum alle Bedürfnisse vollkommen konfliktfrei unmittelbar befriedigt werden, so bald sie nur gedacht sind, muss in der Peer-Ökonomie zunächst ("selbstentfaltend") gearbeitet werden, damit sich die "Fülle" - auf ebenfalls wundersame Weise - einstellt, an der alle teilhaben können.

Der Traum vom Schlaraffenland - wenigstens in der vor 300 Jahren auf einer klaren produktionsorganisatorischen Basis geträumten Form - ist heute mit der Konsumgesellschaft, mal von der Frage nach der nötigen Knete abgesehen, weitgehend realisiert. Allerdings erlaubt uns die dabei geschaffene kulturell-technische Infrastruktur keineswegs - wie im Traum vom Schlaraffenland - ein Leben in der Hollywood-Schaukel, weil sich herausgestellt hat, dass diese Infrastruktur "kollateralschadensfähig" ist und wir alle unsere koordinierten Bemühungen, die wir vor 300 Jahren für die Organisation unseres Alltags aufbringen mussten, nun für die Begrenzung dieser Kollateralschadensfähigkeit - unseren neuen Alltag - aufbringen müssen. Woran uns eine Perversion des eigenen Denkens ("Entfremdung") zusätzlich hindert. Spannenderweise setzen sich Änderungen in _dieser_ Gesellschaft "hinter unserem Rücken" durch, die in den vergangenen 300 Jahren zu genau dieser entwickelten kulturell-technischen Infrastruktur mit all ihrem Licht und Schatten geführt haben.

Derartige Mechanismen _dieser_ Gesellschaft haben auch Strike Bike trotz harten Widerstands von - auch in Selbstentfaltung gründenden, wohl aber mehr von der materiellen Sorge vor drohender Arbeitslosigkeit motivierten, sehr nachvollziehbaren - Partikularinteressen abgewickelt.

Allein das (mal wieder) im PÖ-Diskurs zu thematisieren war das Ziel meines Beitrags - eine etwas stringentere Theorie zu einer utopischen Praxis zu entwickeln (im Blochschen Sinne), auch wenn's letztlich wohl keiner von euch hören mag. Die sehr praktische Frage "Gibt es ein richtiges Leben im falschen?" und die Zwerenz'sche Antwort - "Nein, aber wir haben gar keine andere Alternative als es zu versuchen" - ist eine andere Frage, nämlich Praxis unbedingt auch ohne Theorie zu machen, wenn die Zeit heran ist.

Viele Grüße,
Hans-Gert
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Kontakt: projekt oekonux.de



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