Re: [ox-de] keimform.de: Vom Strike Bike zum Free Bike?
- From: Hans-Gert Gräbe <hgg hg-graebe.de>
- Date: Tue, 28 Dec 2010 21:19:24 +0100
Hallo Christian,
es ist die alte unbeantwortete Frage, wie weit für die Peer Production
nicht nur
die vorhandenen, im und für den Kapitalismus entwickelten
Produktionsmittel einfach übernommen werden können
sondern wie weit sie die industrielle Produktionsweise, die dort
erforderliche hochgradige Präzision und Verbindlichkeit von Absprachen
(Wolf Görings "Tasse Kaffee") insgesamt voraussetzt. Das ist
unbeachtlich der Frage,
ob eine neue Produktionsweise nicht auch neue Produktionsmittel
braucht -- Produktionsmittel, die selbst Ergebnis dieser
Produktionsweise sind.
Neue Produktionsweisen setzten bisher immer auf den
kulturell-technischen Errungenschaften bisheriger Produktionsweisen auf
und gingen nicht hinter den erreichten Grad der Vernetzung der
Produktionsorganisation zurück.
Es geht dabei nicht nur (und in deiner Gesellschaftsutopie wohl
überhaupt nicht mehr) um die Allokation der _finanziellen_ Mittel für
die erforderliche Infrastruktur-Reproduktion, sondern um die Mechanismen
einer verbindlichen und verlässlichen Infrastruktur-Reproduktion selbst.
Die auch - wie bei Strike Bike nun letztlich doch geschehen - in der
Lage sind, ökonomische Aktivitäten abzuwickeln, wenn die Zeit dafür reif
ist, auch wenn dies (hier) quer zu den partikularen Interessen der
beteiligten LohnarbeiterInnen liegt.
Wie's in _dieser_ Gesellschaft geschieht hatte ich kurz beschrieben.
Dort wird (in grober erster Näherung) eine Produktion abgewickelt, wenn
der am Markt erlöste Gewinn nicht mehr ausreicht, die
Infrastruktur-Reproduktion zu gewährleisten, wenn also der Rest der
Gesellschaft seine Kooperationsbereitschaft zurückfährt, weil es
inzwischen einfachere Wege gibt, das Bedürfnis zu befriedigen.
Das hat ein "Enthusiast" um Strike-Bike wie folgt klar zum Ausdruck
gebracht:
TraumSpinner (09.12.2010, 20:01 Uhr)
Sehr geehrte(r) Kundin/Kunde, aufgrund der momentan regen Nachfrage
können wir frühestens nach 4-6 Wochen ausliefern! Wir danken für Ihr
Verständnis…
lol
http://www.keimform.de/2010/ende-des-strike-bike/#comment-18854
Da es in diesem Kommentar von TraumSpinner auch nicht ansatzweise ums
Geld geht, denke ich, das könnte eine typische Reaktion in der
Peer-Ökonomie in einer solchen Situation sein.
Es wäre also interessant zu erfahren, wie du dir das Prozessieren
derartiger essentieller, tief in den sich widersprechenden individuellen
Interessen und Begehrlichkeiten verankerter Konflikte (in einer anderen
Mail hatte ich von "Waffenstillstandslinien" geschrieben) vorstellst an
Stellen, wo man sich nicht mit einem Fork aus dem Weg gehen kann (wie
eben bei der Einbettung von Strike Bike in die Fahrradproduktion
insgesamt).
Die von dir entwickelte Utopie einer Peer-Ökonomie ist für mich eine
seltsame Symbiose des Traums vom Schlaraffenland und einer
protestantischen Arbeitsethik. Während im originalen
Schlaraffenlandtraum alle Bedürfnisse vollkommen konfliktfrei
unmittelbar befriedigt werden, so bald sie nur gedacht sind, muss in der
Peer-Ökonomie zunächst ("selbstentfaltend") gearbeitet werden, damit
sich die "Fülle" - auf ebenfalls wundersame Weise - einstellt, an der
alle teilhaben können.
Der Traum vom Schlaraffenland - wenigstens in der vor 300 Jahren auf
einer klaren produktionsorganisatorischen Basis geträumten Form - ist
heute mit der Konsumgesellschaft, mal von der Frage nach der nötigen
Knete abgesehen, weitgehend realisiert. Allerdings erlaubt uns die dabei
geschaffene kulturell-technische Infrastruktur keineswegs - wie im Traum
vom Schlaraffenland - ein Leben in der Hollywood-Schaukel, weil sich
herausgestellt hat, dass diese Infrastruktur "kollateralschadensfähig"
ist und wir alle unsere koordinierten Bemühungen, die wir vor 300 Jahren
für die Organisation unseres Alltags aufbringen mussten, nun für die
Begrenzung dieser Kollateralschadensfähigkeit - unseren neuen Alltag -
aufbringen müssen. Woran uns eine Perversion des eigenen Denkens
("Entfremdung") zusätzlich hindert. Spannenderweise setzen sich
Änderungen in _dieser_ Gesellschaft "hinter unserem Rücken" durch, die
in den vergangenen 300 Jahren zu genau dieser entwickelten
kulturell-technischen Infrastruktur mit all ihrem Licht und Schatten
geführt haben.
Derartige Mechanismen _dieser_ Gesellschaft haben auch Strike Bike trotz
harten Widerstands von - auch in Selbstentfaltung gründenden, wohl aber
mehr von der materiellen Sorge vor drohender Arbeitslosigkeit
motivierten, sehr nachvollziehbaren - Partikularinteressen abgewickelt.
Allein das (mal wieder) im PÖ-Diskurs zu thematisieren war das Ziel
meines Beitrags - eine etwas stringentere Theorie zu einer utopischen
Praxis zu entwickeln (im Blochschen Sinne), auch wenn's letztlich wohl
keiner von euch hören mag. Die sehr praktische Frage "Gibt es ein
richtiges Leben im falschen?" und die Zwerenz'sche Antwort - "Nein, aber
wir haben gar keine andere Alternative als es zu versuchen" - ist eine
andere Frage, nämlich Praxis unbedingt auch ohne Theorie zu machen, wenn
die Zeit heran ist.
Viele Grüße,
Hans-Gert
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