Message 12978 [Homepage] [Navigation]
Thread: oxdeT12973 Message: 7/8 L4 [In index]
[First in Thread] [Last in Thread] [Date Next] [Date Prev]
[Next in Thread] [Prev in Thread] [Next Thread] [Prev Thread]

Re: [ox-de] keimform.de: Vom Strike Bike zum Free Bike?



Hallo HGG & alle,

On 12/28/2010 09:19 PM, Hans-Gert Gräbe wrote:
es ist die alte unbeantwortete Frage, wie weit für die Peer Production nicht
nur

die vorhandenen, im und für den Kapitalismus entwickelten
Produktionsmittel einfach übernommen werden können

sondern wie weit sie die industrielle Produktionsweise, die dort
erforderliche hochgradige Präzision und Verbindlichkeit von Absprachen (Wolf
Görings "Tasse Kaffee") insgesamt voraussetzt. 

mir scheint, du hast großen Respekt vor der dichten und hochkomplexen
Vernetzheit der modernen kapitalistischen Gesellschaft -- mit
Just-in-Time-Produktion und verwickelten weltweiten Produktionsketten. Nicht
zu unrecht, aber man sollte nicht vergessen, dass diese hohe Komplexität
auch eine hohe Fragilität bedeutet -- einzelne Ausfälle, ob bei Produktion
oder Transport können einen Domino-Effekt hinter sich herziehen, wo immer
mehr ausfällt.

Diese hohe Komplexität und Fragilität ist bei der heutigen
Gesellschaftlichen Organiation zweifellos notwendig, aber ob sie dauerhaft
tragfähig ist, ist eine andere Frage. Es gibt diverse Autor/innen, die
argumentieren, dass Gesellschaften dann kollabieren, wenn sie zu komplex
geworden sind. (Ein Literaturtipp, den ich gerade ergoogelt habe, ist "The
Collapse of Complex Societies" von Joseph A. Tainter:
http://www.amazon.com/Collapse-Complex-Societies-Studies-Archaeology/dp/052138673X
; es gibt andere.)

Im Kontext der Peer-Produktion ist dagegen oft von "resilience"
(Belastbarkeit, Unverwüstlichkeit) die Rede. Statt der langwierigen
Abhängigkeitsketten, wo der Ausfall eines einzelnen Glieds die komplette
Kette zum Stillstand bringt, werden modulare Architekturen mit
austauschbaren Bausteinen favorisiert. Wenn ein Element ausfällt, gibt es
dann genug kompatible Alternativen, die man einfach stattdessen verwenden kann.

Ein Beispiel für solche resilience ist das "Open Source"-Prinzip: bei
proprietärer Software haben die Nutzer/innen Pech gehabt, wenn der
Hersteller die Weiterentwicklung der Software einstellt, bei Freier Software
können sie -- oder jede/r andere -- die Sache dagegen selbst in die Hand
nehmen. Das Ausfallrisiko wird dadurch stark reduziert, und das ist ja auch
einer der Gründe, warum viele Firmen Freie Software bevorzugen -- man
reduziert seine Abhängigkeit. Ein anderes Beispiel sind Offene Standards,
die jeder implementieren kann -- wenn ihr Schraubenlieferant Pleite geht,
wird das keiner Firma viel Kopfzerbrechen bereiten, weil genug andere Firmen
die gleichen Schrauben herstellen. Bei komplexeren Komponenten ist das heute
oft noch nicht der Fall, aber ich denke, dass sich das mit der Ausbreitung
der Peer-Produktion ändern wird, so dass auch da das Ausfallrisiko stark
reduziert wird.

Der Traum vom Schlaraffenland - wenigstens in der vor 300 Jahren auf einer
klaren produktionsorganisatorischen Basis geträumten Form - ist heute mit
der Konsumgesellschaft, mal von der Frage nach der nötigen Knete abgesehen,
weitgehend realisiert.

"Mal von der Frage nach der nötigen Knete abgesehen" ist ja eine wunderbare
Einschränkung! Dem obigen Satz entspricht ungefähr die Aussage: "Im
absolutistischen Staat ist die Machtfrage perfekt gelöst, sobald man selbst
der Monarch ist" -- nicht falsch, aber für die Lebensrealität der meisten
Menschen absolut irrelevant.

Deine "Konsumgesellschaft als Schlaraffenland" ist darüber hinaus aber auch
falsch, selbst wenn die "nötige Knete" für alle wunderbarer Weise vorhanden
wäre. Wenn alle Menschen weltweit so leben und konsumieren würden, wie wir
in Deutschland das tun (von den Reichen in Deutschland ganz abgesehen),
würde das die Ressourcen unseres Planeten so weit übernutzen, dass
wahrscheinlich innerhalb weniger Generationen gar nichts mehr zu konsumieren
da wäre -- siehe http://www.keimform.de/2010/selbstorganisierte-fuelle-3/.
Also selbst wenn wunderbarerweise für genug Geld für alle gesorgt werden
könnten (was eine genauso unrealistische Annahme ist wie dass alle
absolutistische Diktatoren werden könnten), kommt man mit dem
"Konsumgesellschaft als Schlaraffenland"-Modell nicht weit.

Allerdings erlaubt uns die dabei geschaffene
kulturell-technische Infrastruktur keineswegs - wie im Traum vom
Schlaraffenland - ein Leben in der Hollywood-Schaukel, weil sich
herausgestellt hat, dass diese Infrastruktur "kollateralschadensfähig" ist
und wir alle unsere koordinierten Bemühungen, die wir vor 300 Jahren für die
Organisation unseres Alltags aufbringen mussten, nun für die Begrenzung
dieser Kollateralschadensfähigkeit - unseren neuen Alltag - aufbringen
müssen. Woran uns eine Perversion des eigenen Denkens ("Entfremdung")
zusätzlich hindert.

Nein, nicht unser Denken, sondern die gesellschaftlichen Strukturen hindern
uns daran. Deshalb kommt man nicht darum herum, um andere Strukturen
nachzudenken, wie ich und andere hier auf der Liste und anderswo es tun.

Herzliche Grüße
	Christian

-- 
|------- Dr. Christian Siefkes ------- christian siefkes.net -------
| Homepage: http://www.siefkes.net/ | Blog: http://www.keimform.de/
|    Peer Production Everywhere:       http://peerconomy.org/wiki/
|---------------------------------- OpenPGP Key ID: 0x346452D8 --
Der Kopf ist rund, damit sich das Denken immer im Kreis drehen kann.



[English translation]
Thread: oxdeT12973 Message: 7/8 L4 [In index]
Message 12978 [Homepage] [Navigation]