Re: [ox-de] keimform.de: Vom Strike Bike zum Free Bike?
- From: Hans-Gert Gräbe <hgg hg-graebe.de>
- Date: Fri, 31 Dec 2010 12:54:23 +0100
Hallo Christian!
Am 29.12.2010 19:19, schrieb Christian Siefkes:
mir scheint, du hast großen Respekt vor der dichten und hochkomplexen
Vernetzheit der modernen kapitalistischen Gesellschaft -- mit
Just-in-Time-Produktion und verwickelten weltweiten Produktionsketten.
Wovor auch immer - meine Ehrfurcht vor diesen
kulturell-organisatorischen Errungenschaften scheint in der Tat deutlich
größer zu sein als (u.a.) deine. In dieser Wahrnahme des Zusammenhangs
zwischen Produktivkraftentwicklung und Entwicklung von
Produktionsorganisation weiß mich allerdings in guter Gesellschaft (MEW
4, 462-467). Und die Zunahme dieser Komplexität und Vernetztheit ist
wohl auch eine der wenigen Konstanten in der Entwicklung der Menschheit
seit wenigstens der neolithischen Revolution. An die Komplexität und
Vernetztheit natürlicher Prozesse kommt das allerdings (noch) in keiner
Weise heran - die Natur hatte dafür ja auch mehrere Mrd. Jahre Zeit, die
Menschheit seit der Sesshaftwerdung nur etwa 11.000. Dafür sind die
Resultate schon erstaunlich.
Übrigens scheint jede Zeit ihre spezifische Erfahrung mit "Fülle"
vorweisen zu können, die stets mit "Respekt vor dichter und
hochkomplexer Vernetzheit" verbunden war, siehe etwa die letzte OYA,
beispielsweise Jochen Schilks Aufsatz
http://oya-online.de/article/read/195-Zurueck_in_die_Steinzeit_.html
Nicht zu unrecht, aber man sollte nicht vergessen, dass diese hohe
Komplexität auch eine hohe Fragilität bedeutet -- einzelne Ausfälle,
ob bei Produktion oder Transport können einen Domino-Effekt hinter
sich herziehen, wo immer mehr ausfällt.
Als gelernter DDR-Bürger kenne ich auch eine andere produktive Praxis,
die mit dieser "Fragilität" deutlich schlechter zurecht kam als die
heutige. Spannend ist ja, dass, bezogen auf die latente Fragilität,
solche Dominoeffekte selten genug auftreten. Ein ambivalentes Thema -
aber was mir gerade in diesen Wintertagen im Vergleich zu früher
auffällt - was früher durch Einsatz von Menschen bewältigt wurde, wird
heute mit viel größerem maschinellen und organisatorischen Einsatz
angegangen, auch wenn die Reproduktion dieser Vorsorgefähigkeit schon
stark unter der Finanzsituation der Kommunen gelitten hat.
Es gibt diverse Autor/innen, die argumentieren, dass Gesellschaften
dann kollabieren, wenn sie zu komplex geworden sind.
Klix/Lanius beschreiben in "Wege und Irrwege der Menschenartigen" den
Zusammenbruch komplex organisierter Gesellschaften unter Klimastress
(dort Kap. 9: Kanaan, das südliche Maya-Tiefland, altnodrische
Siedlungen in Westgrönland, das weströmische Reich) vor allem als
Phänomen der Erstarrung der kulturell-organisatorischen Strukturen und
damit fehlender Flexibilität, auf die neuen Herausforderungen zu
reagieren. Das sind aber deutliche Sackgassen, die immer überwunden
wurden, indem eine solche Kultur unterging und andere Kulturen diesen
(physischen) Raum eingenommen haben. Die kulturell-organisatorische
Komplexität hat sich im Mittel trotzdem dauernd weiter erhöht.
Im Kontext der Peer-Produktion ist dagegen oft von "resilience"
(Belastbarkeit, Unverwüstlichkeit) die Rede. Statt der langwierigen
Abhängigkeitsketten, wo der Ausfall eines einzelnen Glieds die komplette
Kette zum Stillstand bringt, werden modulare Architekturen mit
austauschbaren Bausteinen favorisiert. Wenn ein Element ausfällt, gibt es
dann genug kompatible Alternativen, die man einfach stattdessen verwenden kann.
Kein anderes Paradigma liegt der kulturell-organisatorischen Struktur
der kapitalistischen Gesellschaft seit 300 Jahren zugrunde. Ich staune
immer wieder, wie wenig du das zu sehen scheinst. Verhärtungen dieser
kulturell-organisatorischen Struktur, wie sie derzeit insbesondere im
Ringen um die politische Verfasstheit der "digitalen Gesellschaft" zum
Ausdruck kommen, gab es mehrere in dieser langen Zeit. Sie hingen immer
mit technologischem "Stress" zusammen, der gewohnte
kulturell-organisatorische Strukturen in Frage stellte und letztlich zu
Umbrüchen derselben führte. Die meisten waren übrigens von größeren
Krisen des Geldsystems begleitet.
Ein Beispiel für solche resilience ist das "Open Source"-Prinzip: bei
proprietärer Software haben die Nutzer/innen Pech gehabt, wenn der
Hersteller die Weiterentwicklung der Software einstellt, bei Freier Software
können sie -- oder jede/r andere -- die Sache dagegen selbst in die Hand
nehmen.
Das ist sehr vereinfacht dargestellt, denn es ist reine Potenzialität
(es "kann" geschehen). Damit es Wirklichkeit wird, müssen auch in einer
PÖ die entsprechenden Ressourcen allokiert werden - entweder ich mache
das selber und habe dann keine Zeit mehr für die mir wirklich wichtigen
Dinge oder es finden sich genügend andere, die auch leiden. Das ist
aber in keiner Weise auf Freie Software beschränkt, siehe etwa die
Macsyma Saga
<http://maxima-project.org/wiki/index.php?title=The_Macsyma_Saga>. Du
kannst dem entgegenhalten, dass mit Maxima nun doch eine Freie Lösung
gefunden wurde - das ist aber eine andere Geschichte.
> Das Ausfallrisiko wird dadurch stark reduziert, und das ist ja auch
einer der Gründe, warum viele Firmen Freie Software bevorzugen -- man
reduziert seine Abhängigkeit.
Das ist unklar - auch Freie Softwareprojekte können eingehen - es geht
nicht um die Projekte, sondern um das Vertrauen der Firmen in die
Stabilität des Reproduktionszusammenhangs. Siehe oben - "Fülle" hat
unbedingt etwas mit Vertrauen und sich selbst erfüllenden Prophezeiungen
zu tun. Aber auch dieses Vertrauen muss (re)produziert werden.
Der Traum vom Schlaraffenland - wenigstens in der vor 300 Jahren auf einer
klaren produktionsorganisatorischen Basis geträumten Form - ist heute mit
der Konsumgesellschaft, mal von der Frage nach der nötigen Knete abgesehen,
weitgehend realisiert.
"Mal von der Frage nach der nötigen Knete abgesehen"...
Das haben Träume so an sich, sie erfassen nicht die volle Realität,
sondern einen mglw. utopischen Moment in derselben. Mein Argument war
übrigens: Der Traum ist heute weitgehend Realität ()siehe Ludgers
Thema), verlangt uns aber neue Anstrengungen ab, die im Traum nicht
mitgeträumt wurden.
Deine "Konsumgesellschaft als Schlaraffenland" ist darüber hinaus aber auch
falsch, selbst wenn die "nötige Knete" für alle wunderbarer Weise vorhanden
wäre. Wenn alle Menschen weltweit so leben und konsumieren würden, wie wir
in Deutschland das tun (von den Reichen in Deutschland ganz abgesehen),
würde das die Ressourcen unseres Planeten so weit übernutzen, ...
Das ist dem Traum vom Schlaraffenland schon immer eigen. Dazu hatte ich
mich früher ausführlich geäu0ert
<http://oekonux.de/liste/archive/msg12863.html> und will das hier nicht
wiederholen.
Nein, nicht unser Denken, sondern die gesellschaftlichen Strukturen hindern
uns daran. Deshalb kommt man nicht darum herum, um andere Strukturen
nachzudenken, wie ich und andere hier auf der Liste und anderswo es tun.
Du suchst schon nach Antworten, wo ich (für mich) noch nach den
richtigen Fragen suche - denn was nützen richtige Antworten auf die
falschen Fragen ... ?
Viele Grüße,
Hans-Gert
________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: http://www.oekonux.de/projekt/
Kontakt: projekt oekonux.de