Kapitalistisches Komplexitätsversagen (war: Re: [ox-de] keimform.de: Vom Strike Bike zum Free Bike?)
- From: Stefan Meretz <stefan meretz.de>
- Date: Fri, 31 Dec 2010 15:35:55 +0100
Hallo HGG und alle,
On 2010-12-31 12:54, Hans-Gert Gräbe wrote:
Und die Zunahme dieser Komplexität und
Vernetztheit ist wohl auch eine der wenigen Konstanten in der
Entwicklung der Menschheit seit wenigstens der neolithischen
Revolution.
Würde ich auch so sehen.
An die Komplexität und Vernetztheit natürlicher Prozesse
kommt das allerdings (noch) in keiner Weise heran - die Natur hatte
dafür ja auch mehrere Mrd. Jahre Zeit, die Menschheit seit der
Sesshaftwerdung nur etwa 11.000. Dafür sind die Resultate schon
erstaunlich.
Das kannst du nicht vergleichen, denn die gesellschaftlichen Formen
bauen einerseits auf den natürlichen auf und stehen andererseits zu
diesen (als äußerer Natur) im einem Vermittlungsverhältnis.
Versteht man Komplexität als Einheit von von Differenziertheit und
Vermittlung, dann kann man sogar sagen, dass der gesamte Prozess seit
der Entstehung des Lebens (möglicherweise noch davor) ein Prozess der
Zunahme von Komplexität (Differenzierung und Vermittlung des
Differenzierten) ist.
Insofern würde ich dir, HGG, zustimmen.
Im Gegensatz zu dir sehe ich aber als eine Grenze des Kapitalismus, mit
dieser steigenden Komplexität klarzukommen. Dabei vergleiche ich nicht
den Kapitalismus mit dem gehabten "Realsozialismus" (den ich nicht von
innen gelernt habe), der zwar real aber nicht sozialistisch oder gar
kommunistisch war, sondern sich auch in Bezug auf die
Komplexitätsdimension höchstens als unreifer Kapitalismus erwies.
Als gelernter DDR-Bürger kenne ich auch eine andere produktive
Praxis, die mit dieser "Fragilität" deutlich schlechter zurecht kam
als die heutige. Spannend ist ja, dass, bezogen auf die latente
Fragilität, solche Dominoeffekte selten genug auftreten.
Wer so schreibt, muss vollständig ausblenden, dass die produktive Praxis
des Kapitalismus Mensch und Natur derartig untergräbt, dass nicht nur
jetzt eine Milliarde Menschen hungert und noch ein paar Milliarden mehr
weitere elementare Lebensbedingungen nicht haben etc., sondern auch
hierzulande Komplexitätsreduktion durch Sphärenspaltung betreibt, so
dass die kapitalistische Praxis mit dem Drittel von Tätigkeiten
klarkommt, die direkt über die Wertform laufen, indem sie die anderen
für seine Logik "fragilen" zwei Drittel abspaltet.
Da war der Staatskapitalismus der DDR ja noch komplexer, weil der die
Betriebe gezwungen hat, lauter unnütze und unproduktive Sperenzien zu
finanzieren (Kindergärten, Ferienlager etc. -- das kennst du besser), die
gefälligst in die abgespaltene Sphäre gehören (wo sie ja dann auch
hinkamen, sobald die Betriebe auf den freien Markt traten).
Der Kapitalismus scheitert an der Komplexitätsproblematik, weil er eben
nicht in der Lage ist, das gesamte Mensch-Natur-System so zu entwickeln,
dass a) die menschlichen Bedürfnisse befriedigt werden und b) dies auch
noch für die nächsten Generationen gewährleistet ist. Er kann mit der
Anforderung nur durch Komplexitätsreduktion umgehen, was Millionen
Menschen umbringt und die Natur zerstört (als "externale Effekte"
verbrämt).
Ein ambivalentes Thema - aber was mir gerade in diesen Wintertagen im
Vergleich zu früher auffällt - was früher durch Einsatz von Menschen
bewältigt wurde, wird heute mit viel größerem maschinellen und
organisatorischen Einsatz angegangen, auch wenn die Reproduktion
dieser Vorsorgefähigkeit schon stark unter der Finanzsituation der
Kommunen gelitten hat.
Also die Finanzsituation in Berlin war auch schon vor fünf Jahren
hoffnungslos, aber da fuhr die S-Bahn im Winter wenigstens noch
einigermaßen zuverlässig. Gewinn plus öffentliche Vorsorge -- das ist zu
schlicht zu komplex für dieses tolle System.
Ein Beispiel für solche resilience ist das "Open Source"-Prinzip:
bei proprietärer Software haben die Nutzer/innen Pech gehabt, wenn
der Hersteller die Weiterentwicklung der Software einstellt, bei
Freier Software können sie -- oder jede/r andere -- die Sache
dagegen selbst in die Hand nehmen.
Das ist sehr vereinfacht dargestellt, denn es ist reine Potenzialität
(es "kann" geschehen). Damit es Wirklichkeit wird, müssen auch in
einer PÖ die entsprechenden Ressourcen allokiert werden - entweder
ich mache das selber und habe dann keine Zeit mehr für die mir
wirklich wichtigen Dinge oder es finden sich genügend andere, die
auch leiden.
Ich glaube, ihr verwechselt beide die keimförmige Jetzt-Situation mit
einer entfalteten commons-basierten Peer-Produktions-Gesellschaft.
Solange auf _personale_ Lösungen zurückgegriffen werden muss, ist die
neue Vergesellschaftungsweise entweder untauglich oder noch im
unentfalteten Stadium (darum ist zu streiten).
Resilienz ist ein Ausdruck von Krise, einer Situation, in der man sich
vor dem Versagen des Alten schützen muss, weil das entfaltete Neue noch
nicht da ist. Inwieweit Robustheit und Absicherung in einer freien
Gesellschaft implementiert wird, hängt vollständig von den Bedürfnissen
der Menschen ab (nach mehr oder weniger Sicherheit, beschleunigter oder
langsamer Befriedigung neuer Bedürfnisse etc.).
einer der Gründe, warum viele Firmen Freie Software bevorzugen --
man reduziert seine Abhängigkeit.
Das ist unklar - auch Freie Softwareprojekte können eingehen - es
geht nicht um die Projekte, sondern um das Vertrauen der Firmen in
die Stabilität des Reproduktionszusammenhangs. Siehe oben - "Fülle"
hat unbedingt etwas mit Vertrauen und sich selbst erfüllenden
Prophezeiungen zu tun. Aber auch dieses Vertrauen muss
(re)produziert werden.
Exakt. Nur ist es verwunderlich, dass du dieses Vertrauen stets in den
kapitalistischen Strukturen suchst, anstatt jenseits von diesen.
Der von Christian und mir (mit Varianten) favorisierte Ansatz der
commons-basierten Peer-Produktion stellt sich dagegen dem
Komplexitätsproblem in seiner vollen Dimension: Er basiert darauf, dass
der Logik nach alle Bedürfnisse aller Menschen einbezogen werden und
dies in gleichem Maße für die jetzige wie für zukünftige Generationen
(siehe Christians Artikelserie zur Fülle).
Daran gemessen ist deine Problembetrachtung total unterkomplex.
Du suchst schon nach Antworten, wo ich (für mich) noch nach den
richtigen Fragen suche - denn was nützen richtige Antworten auf die
falschen Fragen ... ?
Was nützt die falsche Suchrichtung nach den notwendigen Fragen?
Ciao,
Stefan
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