[ox-de] Re: Kapitalistisches Komplexitätsversagen
- From: Hans-Gert Gräbe <hgg hg-graebe.de>
- Date: Sat, 01 Jan 2011 19:42:11 +0100
Hallo Stefan!
Am 31.12.2010 15:35, schrieb Stefan Meretz:
An die Komplexität und Vernetztheit natürlicher Prozesse
kommt das allerdings (noch) in keiner Weise heran - die Natur hatte
dafür ja auch mehrere Mrd. Jahre Zeit, die Menschheit seit der
Sesshaftwerdung nur etwa 11.000. Dafür sind die Resultate schon
erstaunlich.
Das kannst du nicht vergleichen, denn die gesellschaftlichen Formen
bauen einerseits auf den natürlichen auf und stehen andererseits zu
diesen (als äußerer Natur) im einem Vermittlungsverhältnis.
Eine solche Dichothomie halte ich nicht für "state of the art", denn
beide sind sehr unmittelbar miteinander verwoben. Die heutige
Kulturlandschaft der "äußeren Natur" ist extrem von der Tätigkeit der
Menschen geprägt. Auch das kannst du locker bis ins Neolithikum
zurückverfolgen. Ein "Aufbau"-Verhältnis (das für mich eine kausale
Logik enthält) kann ich also nicht erkennen, eine Verschränkung der
Dynamiken (das, was du mglw. mit "Vermittlungsverhältnis" meinst) durchaus.
Übrigens git es diese extreme Verquickung von Natur und "Kultur" auch
schon bei Staaten bildenden Tieren wie etwa Ameisen.
Versteht man Komplexität als Einheit von von Differenziertheit und
Vermittlung,...
Ich denke nicht, dass sich die Komplexität des Komplexitätsbegriffs
überhaupt und schon gar nicht derart einfach reduzieren lässt. Früher
sprach man von "Einheit und Kampf der Gegensätze" und hat auch schon mal
das Wort "Dialektik" in den Mund genommen, um sich dem Phänomen
Komplexität zu nähern. Zu den philosophischen Grundlagen ist in Z 77 von
Renate Wahsner ein instruktiver Aufsatz "Die Materie der Erkenntnis kann
nicht gedichtet werden" veröffentlicht. In Z 82 hat sie sich noch einmal
sehr fundiert gegen zwei zu leichtgewichtige Kritiken zur Wehr gesetzt.
Es ist eine alte Diskussion, die du bei Hubert Laitko
<http://www.rohrbacher-kreis.de/15-Laitko.pdf> noch einmal sehr gut
zusammengefasst findest.
.. dann kann man sogar sagen, dass der gesamte Prozess seit der
Entstehung des Lebens (möglicherweise noch davor) ein Prozess der
Zunahme von Komplexität (Differenzierung und Vermittlung des
Differenzierten) ist.
Ohne die Klammerbemerkung würde ich dem zustimmen, denn Komplexität
äußert sich an vielen Stellen durch das genaue Gegenteil von
Differenzierung - durch Synergien und kooperative Phänomene. Statt
"Differenzierung und Vermittlung" würde ich wie oben "Einheit und Kampf
der Gegensätze" setzen, die in "Waffenstillstandslinien" enden wie in
einer früheren Mail schon ausgeführt.
Im Gegensatz zu dir sehe ich aber als eine Grenze des Kapitalismus, mit
dieser steigenden Komplexität klarzukommen.
Das ist aber kontrafaktisch, wenn man auf die letzten 300 Jahre
Kapitalismus schaut. Auch ein Gefühl der Grenze, dass uns der Laden
gleich um die Ohren fliegt, gab es schon immer (Eisenbahn mit dreifacher
Postkutschengeschwindigkeit, das kann nicht gut gehen).
Dabei vergleiche ich nicht den Kapitalismus mit dem gehabten
"Realsozialismus" (den ich nicht von innen gelernt habe), der zwar
real aber nicht sozialistisch oder gar kommunistisch war, sondern
sich auch in Bezug auf die Komplexitätsdimension höchstens als
unreifer Kapitalismus erwies.
Schade, denn es war eine gelebte Praxis - das "unreife" System hat nicht
überlebt, das "reifere" gibt es noch immer - nicht gerade ein Argument
_für_ deinen Gedankengang.
Als gelernter DDR-Bürger kenne ich auch eine andere produktive
Praxis, die mit dieser "Fragilität" deutlich schlechter zurecht kam
als die heutige. Spannend ist ja, dass, bezogen auf die latente
Fragilität, solche Dominoeffekte selten genug auftreten.
Wer so schreibt, muss vollständig ausblenden, dass die produktive Praxis
des Kapitalismus Mensch und Natur derartig untergräbt, dass nicht nur
jetzt eine Milliarde Menschen hungert und noch ein paar Milliarden mehr
weitere elementare Lebensbedingungen nicht haben etc., sondern auch
hierzulande Komplexitätsreduktion durch Sphärenspaltung betreibt, so
dass die kapitalistische Praxis mit dem Drittel von Tätigkeiten
klarkommt, die direkt über die Wertform laufen, indem sie die anderen
für seine Logik "fragilen" zwei Drittel abspaltet.
Dass diese Gesellschaft Probleme zuhauf hat, bestreite ich ja gar nicht.
Allerdings nicht wegen "Fragilität" und Nicht-Beherrschung von
Komplexität, sondern weil größere Reproduktionsbereiche - wegen zu
geringer gesellschaftlicher Komplexität, das Politische ist eigenständig
faktisch unwirksam - praktisch ausgehungert werden.
Letzteres (Wertabspaltung) heißt nur, dass sich gesellschaftliche
Reproduktion zu zwei Dritteln _innerhalb_ der ökonomischen Einheiten und
zu einem Drittel _zwischen_ den ökonomischen Einheiten vermittelt, denn
die Wertform zählt allein Arbeit auf _fremdes_ Bedürfnis. Das ist in
der PÖ mglw. nicht anders, denn deinen Computer (und deine Brötchen)
musst du ja mitbringen, ums mal lax zu sagen.
Da war der Staatskapitalismus der DDR ja noch komplexer, weil der die
Betriebe gezwungen hat, lauter unnütze und unproduktive Sperenzien zu
finanzieren (Kindergärten, Ferienlager etc. -- das kennst du besser), die
gefälligst in die abgespaltene Sphäre gehören (wo sie ja dann auch
hinkamen, sobald die Betriebe auf den freien Markt traten).
"Primat des Politischen" - dummerweise hat sich dieser Planungsansatz
als weniger robust herausgestellt als die Vermittlungsinstitutionen
_dieser_ Gesellschaft. Ich denke nicht, dass er komplexer war, weil die
Vermittlung ökonomischer Rationalität außerökonomisch erfolgte.
Der Kapitalismus scheitert an der Komplexitätsproblematik, weil er eben
nicht in der Lage ist, das gesamte Mensch-Natur-System so zu entwickeln,
dass a) die menschlichen Bedürfnisse befriedigt werden und b) dies auch
noch für die nächsten Generationen gewährleistet ist. Er kann mit der
Anforderung nur durch Komplexitätsreduktion umgehen, was Millionen
Menschen umbringt und die Natur zerstört (als "externale Effekte"
verbrämt).
Wer ist "er", der da "entwickelt"? Wieso personalisierst du das so? Ich
denke, das ist wenig hilfreich.
Resilienz ist ein Ausdruck von Krise, einer Situation, in der man sich
vor dem Versagen des Alten schützen muss, weil das entfaltete Neue noch
nicht da ist. Inwieweit Robustheit und Absicherung in einer freien
Gesellschaft implementiert wird, hängt vollständig von den Bedürfnissen
der Menschen ab (nach mehr oder weniger Sicherheit, beschleunigter oder
langsamer Befriedigung neuer Bedürfnisse etc.).
Hier wäre weitere Begriffsarbeit zu leisten, um was es bei genau
"Resilienz" geht. Ich hätte es als "Störfestigkeit" übersetzt, als die
Fähigkeit eines Systems, sich ändernden Rahmenbedingungen anzupassen.
Das konnte das ökonomische System der DDR zuletzt leider nicht mehr. Die
Chinesen sind hier (noch?) wesentlich erfolgreicher.
Das ist unklar - auch Freie Softwareprojekte können eingehen - es
geht nicht um die Projekte, sondern um das Vertrauen der Firmen in
die Stabilität des Reproduktionszusammenhangs. Siehe oben - "Fülle"
hat unbedingt etwas mit Vertrauen und sich selbst erfüllenden
Prophezeiungen zu tun. Aber auch dieses Vertrauen muss
(re)produziert werden.
Exakt. Nur ist es verwunderlich, dass du dieses Vertrauen stets in den
kapitalistischen Strukturen suchst, anstatt jenseits von diesen.
Warum drehst du mir das Wort im Munde herum? Ist doch deutlich gesagt:
"Fülle" hat unbedingt etwas mit Vertrauen und sich selbst erfüllenden
Prophezeiungen zu tun. Aber auch dieses Vertrauen muss (re)produziert
werden.
Wo steht da was von Kapitalismus? Allerdings sehe ich, dass es in dieser
Gesellschaft solche vertrauensbildenden Mechanismen gibt - der
fundamentalste ist wohl das Vertrauen in die bunt bedruckten
Papierschnipsel und Metallscheiben, die sich die Leute allenthalben
überreichen, wenn einer für einen anderen was Gutes getan hat.
Es gab mal ein Land, da hatten die Leute Alu-Chips für diese Zwecke -
und das Vertrauen nahm dauernd ab. Schließlich riefen die Leute "Kommt
das Papier, dann bleiben wir hier, sonst gehn wir zu dem Papier". Und
als die Alu-Chips gegen das buntbedruckte Papier ausgetauscht wurden,
waren alle glücklich (Märchen neigen halt zur Übertreibung).
Der von Christian und mir (mit Varianten) favorisierte Ansatz der
commons-basierten Peer-Produktion stellt sich dagegen dem
Komplexitätsproblem in seiner vollen Dimension: Er basiert darauf, dass
der Logik nach alle Bedürfnisse aller Menschen einbezogen werden und
dies in gleichem Maße für die jetzige wie für zukünftige Generationen
(siehe Christians Artikelserie zur Fülle).
Eben wie im Schlaraffenland - alle Konflikte lösen sich in dieser
"vollen Dimension" in Wohlgefallen auf, während rund herum in dieser
Welt Struktur überhaupt nur an den Stellen sichtbar wird, wo sich
Fließgleichgewichte temporär stabilisiert haben.
Daran gemessen ist deine Problembetrachtung total unterkomplex.
In der Tat, mich interessiert _allein_ die zuletzt genannte Frage nach
dem Prozessieren dialektischer Widersprüche in euerm Ansatz. Wo man sich
nicht durch einen Fork aus dem Weg gehen kann. Aber das schrieb ich bereits.
Du suchst schon nach Antworten, wo ich (für mich) noch nach den
richtigen Fragen suche - denn was nützen richtige Antworten auf die
falschen Fragen ... ?
Was nützt die falsche Suchrichtung nach den notwendigen Fragen?
Tja, da "falsch" ein hochgradig subjektiver Begriff ist, kann ich diese
Differenz nur stehen lassen. Diese "Waffenstillstandslinie" ist aber
nicht wirklich neu.
Viele Grüße,
Hans-Gert
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