Re: [ox-de] Text zu Keimformen bzw. der Entwicklung sozialer Vermittlungsmechanismen
- From: Stefan Nagy <public stefan-nagy.at>
- Date: Wed, 07 Sep 2011 21:58:44 +0200
Hallo Hans-Gert,
danke fÃr die Links â werd sie mir bei Gelegenheit nÃher ansehn.
Deinem Argument "... ebenso wenig als kulturelles PhÃnomen zu fassen wie
ein Ameisenstaat oder jede andere emergente EntitÃt; oder anders gesagt:
sie wÃre nicht als menschengemacht zu begreifen." halte ich entgegen,
dass die denkenden Ameisen ihren Ameisenstaat auf dieselbe Weise als von
Ameisen gemacht identifizieren wÃrden/sollten/mÃssten als es die
Menschen mit ihrer "Kultur" tun. Kulturelle PhÃnomene sind also in dem
Sinne nichts anderes als NaturphÃnomene der menschlichen Gesellschaft,
die _innerhalb_ der durch menschliche Kommunikation konstituierten
ReflexionssphÃre reflektiert werden.
Ich weià nicht, ob ich dich da richtig verstehe â deswegen hats auch so
lange mit der Antwort gedauert. Ich antworte jetzt einmal auf Grundlage
dessen, was ich glaube verstanden zu habenâ
Mir ist aufgefallen, dass ich in dem Text selbst zwischen Natur und
Kultur unterscheide; mir ist eigentlich klar, dass wir nichts anderes
als Kultur kennen, weil wir die Dinge an sich nicht erkennen kÃnnen und
jede Wahrnehmung bereits als Produkt unserer selbst begriffen werden
muss. Ebenso bin ich mir dessen bewusst, dass es absurd ist den Menschen
gedanklich aus seinen Kontexten zu lÃsen bzw. ihn sogar in einen
Gegensatz zu diesen zu setzen. Es gilt also grundsÃtzlich, die
Dichotomie Natur/Kultur in beide Richtungen aufzulÃsen.
Ich habe mich im Text und auch bei der von dir zitierten Stelle auf die
unmittelbare Wahrnehmungsebene bezogen; eben jene, auf der ich mich und
andere als Subjekte erlebe â wenn ich mich nicht irre, dann ist es eben
diese Ebene, in der du die "ReflexionssphÃre" ansiedelst.
Auf eben dieser Ebene ist das Begriffspaar Natur/Kultur m.E. durchaus
nÃtzlich insofern, als ich auf dessen Grundlage Ãber Handlungsoptionen
reflektieren kann. Und ja, man kann offensichtlich ein Projekt wie
oekonux grÃnden, man kann einen Text wie diesen schreiben, etc. Und
andererseits nein, die Ebene des grundlegenden gesellschaftlichen
Vermittlungszusammenhangs ist (hier und damit Ãberhaupt) nicht
verhandelbar.
Auf der Mirkoebene nehme ich mich nicht einfach nur aus Lust und Laune
als Subjekt wahr, sondern mein Denken & Handeln ist immer auch eine Art
der Vergewisserung meines eigenen Subjekt-Status. Ich stimme dem hier
naheliegenden Einwand schon zu, dass ich zwar tun, aber nicht wollen
kann was ich will â also auch ich leugne die Existenz eines freien
Willens. Aber ich glaube nicht, dass das fÃr unsere Diskussion hier eine
Rolle spielt.
Ich betrachte in meinem Text ja die Makroebene und bestreite zuerst
einmal deren Verhandelbarkeit. Aber nicht nur das, ich meine (mit Marx,
wie ich ihn verstehe) auch, dass sie nicht als Ergebnis der ganz vielen
Bewegungen auf der Mikroebene begriffen werden kann, sondern genau
anders herum; dass die Mikroebene nur im und aus dem Kontext des GroÃen
und Ganzen verstanden werden kann.
D.h. mein Punkt ist eben genau der, dass die Gesamtheit in *keinem
Sinne* als "kulturelles PhÃnomen" begriffen werden kann. Es geht mir
also nicht um eine allgemein kulturmaterialistische Ansage, sondern
darum, dass Gesellschaft in ihrer Gesamtheit auch nicht als kulturelles
PhÃnomen zu fassen ist, *selbst wenn* ich den Subjekt-Status von
Individuen auf der Mikroebene und Kollektiven auf der Mesoebene voll und
ganz anerkenne.
"Naturgesetz ihrer Bewegung" kann sich also nur auf die
Unreflektiertheit von VorgÃngen beziehen. Ich denke, dass Marx hier Kind
seiner Zeit ist und jegliche Reflexionsform der "prescience" abwertet.
Zumal er mit seinem von euch zu untersuchenden Versuch einer
Ãkonomietheoretischen Fundierung (auch wenn sie methodisch mit dem
geringeren Anspruch der "Kritik" daherkommt) nichts anderes erreichen
mÃchte als auch die Ãkonomie zur Science zu "adeln".
Wenn ich dich richtig verstehe, dann meinst du, dass die Marx'sche
Charakterisierung von Gesellschaft und ihrer Bewegung als "Natur" eine
temporÃre Zuschreibung ist; also dass es gilt, diese Natur zu
unterwerfen und in Kultur ÃberzufÃhren. Das entsprÃche dann meiner
Argumentation im ersten Drittel des Textes; also von wegen "klassisch
modernes Motiv der Naturbeherrschung".
Ich glaube da nicht wirklich dran & mÃchte die Diskussion, wie Marx das
eigentlich sieht, auch nicht unbedingt fÃhren. Die vielen
unterschiedlichen Zitate, die man in diesem Zusammenhang anfÃhren kann,
zeigen meiner Ansicht nach nur eines: nÃmlich dass es absurd wÃre, ihm
eine eindeutige Position zu unterstellen.
Was den Marx'schen Szientismus betrifft bin ich ein bisschen vorsichtig,
weil ich denke dass er sich der zentralen Bedeutung seiner "Methode",
oder anders gesagt seiner Axiome (der Dialektik) durchaus bewusst
gewesen sein muss. Aber ich kenn mich zu wenig in der
Wissenschaftsgeschichte aus, um beurteilen zu kÃnnen, wie zu Marx'
Zeiten Wissenschaft von Nicht-Wissenschaft unterschieden wurdeâ
Ich weià allerdings nicht, ob du mit solchen Ãberlegungen bei Karl
Reitter punkten kannst.
Ja, ich hoffe er liest nicht alle Arbeiten die er bekommt ;)
Liebe GrÃÃe,
Stefan.
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