[ox-de-raw] Re: Erkenntnisinteresse
- From: Hans-Gert Gräbe <hgg hg-graebe.de>
- Date: Tue, 26 Sep 2006 10:05:22 +0200
Hallo Stefan,
Stefan Meretz wrote:
Es sind kleine Worte, die ganze Verhältnisse zu scheitern bringen
können. Mein Wort hier ist das der "Prägung". Es kommt aus der Münzerei
oder Verwandtem und ist für eine Beschreibung des Verhältnisses von
Mensch und Gesellschaft unangebracht (weil im strengen Sinne falsch,
aber wer benutzt es im Alltag nicht). "A prägt B", nein, so ist es
nicht.
Es sind zwei Seiten derselben Medaille und im Ansatz der Koevolution
(also einer dynamischen Betrachtungsweise) durchaus sinnvoll zu fassen.
Individualentwicklung als kurzwelliger und Gesellschaftsentwicklung als
langwelliger Prozess. Die allein schon aus diesem Unterschied in der
Zeitschiene ihre gegensätzliche Grundcharakteristik beziehen:
Gesellschaftsentwicklung in ihrer nivellierenden, normierenden Wirkung
auf Indivudalentwicklung (als Extrapolation der Erfahrungen der
Vergangenheit) und Individualentwicklung in ihrer subversiven, Grenzen
auslotenden und überschreitenden Wirkung auf die
Gesellschaftsentwicklung (als Eintrag der Wahrnahme der heutigen
Praxis). Insofern ist m.E. der Ausdruck "prägt" fehl am Platze, wenn er
mechanisch-materialistisch verstanden wird, spiegelt aber die Realität
durchaus in erster Näherung richtig wider, wenn man ihn als Element
eines "geistig-lebendigen Kosmos" eines Mehrskalenmodells nimmt.
Natürlich wirst du nicht bestreiten, dass die Klein-Subjekte
andererseits eben jene beschriebene Gesellschaft re/produzieren. Das
nehme ich jetzt mal an. Wie bekommst du es nun aber logisch
zusammengedacht, dass die Klein-Subjekte jenes Big-Subjekt produzieren,
dessen Präge-Ergebnis sie sind? Das ist - nur auf der logischen Ebene -
ein infiniter Regress, ein unendlicher Zyklus.
Ist es auch, denn die Klein-Subjekte finden das aus dem Gestern
überlassene Big-Subjekt vor und produzieren das morgige. Damit hast du
automatisch einen Gradient beim Big-Subjekt drin und auch die einzig
mögliche Art der Einflussnahme: Die "je Klein-Subjekte" haben Zugriff
nicht auf die Entwicklungsgrößen des Big-Subjekts, sondern nur auf deren
Ableitung. Das ist aber in (mathematischen) Modellen dynamischer Systeme
allgegenwärtig.
Viele Grüße, hgg
--
Prof. Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig
Augustusplatz, D-04109 Leipzig, Raum 5-53
tel. : +49 341 97 32248
email: graebe informatik.uni-leipzig.de
Home Page: http://www.informatik.uni-leipzig.de/~graebe