[ox-de-raw] Re: [ox-de] Request for Comments: Die Peer-Ökonomie
- From: Hans-Gert Gräbe <hgg hg-graebe.de>
- Date: Tue, 09 Oct 2007 22:31:47 +0200
Hallo Christian,
Christian Siefkes schrieb:
Insbesondere kommen mir Fragen der Verantwortungsübernahme, der
Umgang mit "gebrochenen Versprechen" usw. - kurz, die ganze
Thematik von Buch 2 des BGB - zu kurz. Will ich hier aber erst mal
nicht weiter ausführen.
das Bürgerliche Gesetzbuch scheint es dir ja angetan zu haben ;-) Aber
natürlich ist das bürgerliche Recht aus den Notwendigkeiten des Kapitalismus
entstanden, und wird mit diesem zusammen auch wieder verschwinden...
Nun, ganz so mechanisch sehe ich das nicht. Aber um's ins Konkrete zu
wenden: Deine Reputation - als zentrale Kategorie in deinem Text - ist
(m.E.) vor deine allem akkumulierte Fähigkeit, Versprechen auch zu
halten, besonders vielleicht dann, wenn du eine Task ersteigert hast.
Wenn du die dann in den Sand setzt ... Auch ist mir nicht klar, wie das
bei deiner Auktion funktioniert, ob da jede(r) für alles mitbieten darf
oder offensichtlicher Fake irgendwie aussortiert wird. Wobei das Problem
ja oft ist, dass alle wissen, der schafft das nicht, allein der
Betroffene selbst ... Kurz, Verantwortungsfähigkeit und deren
Reproduktion ist schon ein Topic, der mir bei dir zu kurz kommt. BGB
Teil 1 halt. Muss man ja nicht so lösen wie dort, aber lösen muss man's
schon.
Und es gibt viele gute und schlechte Gründe, ein Versprechen nicht
einzuhalten oder einhalten zu können. Man muss sich ja nicht von
vornherein überhoben haben, sondern die Umstände gestalten sich halt
anders als gedacht, erwartet, das Unerwartete tritt ein. Zukunft ist
halt in vielen Dimensionen offen. Kann ja mal passieren, und wenn es bei
einer konkreten Person nicht zu oft passiert, ist es ja auch nicht
schlimm. Blöd halt nur, wenn du (Person A) jemand (Person B) was
versprochen hast, wobei du dich drauf verlassen hast, dass ein anderer
(Person C) sein Versprechen dir gegenüber einhält. Und wenn das Kind im
Brunnen liegt, dann will es keiner gewesen sein und den letzten in der
Kette beißen die Hunde. Diese Art von Schuldverhältnissen, also das
Abwickeln von "Exceptions", muss auch irgendwie behandelt werden. BGB
Teil 2 halt. Ich nehme mal an (du hast dazu nix geschrieben), dass B
dann was dagegen hat, dass A die "weighted hours" in voller Höhe
gutgeschieben bekommt und A einen Teil des Defizits C "in Rechnung
stellen" will. Dass sich Schuldverhältnisse also irgendwie auf die
Rechnungslegung auswirken.
BGB Teil 3 braucht dann Eigentum, um diese Schuldverhältnisse zu
besichern, dass nicht eine(r) dauernd "weighted hours" abgezogen bekommt
bis er (oder sie) tief in den roten Zahlen ist. Streng genommen ist in
dieser Gesellschaft nur jemand mit positivem Wert-Saldo (in einem hier
nicht näher explizierten Sinn) überhaupt schuldfähig. Wie das bei dir
funktioniert, welche Bremse da eingebaut ist, ob es so was wie Insolvenz
gibt, wie sich das auf die Gesamtrechnung auswirkt, all das habe ich
nicht wirklich begriffen.
Der Umgang mit "gebrochenen Versprechen" wird in einer Gesellschaft wie ich
sie beschreibe wohl eher so aussehen wie heute schon im privaten Bereich, wo
man ein Versprechen kaum vor Gericht einklagen würde. Wo aber
Vertrauensverstöße oder schwere Unzuverlässigkeit natürlich Konsequenzen
haben. Insbesondere werden Menschen, die sich so verhalten, wahrscheinlich
zunehmend Schwierigkeiten haben, andere Menschen zu finden, die bereit sind
mit ihnen zusammenzuarbeiten. Was in einer Gesellschaft, die auf Kooperation
basiert, natürlich durchaus unangenehm sein kann...
Das sind die peanuts, die leichten Fälle. Es geht nicht primär um
"Vertrauensverstöße oder schwere Unzuverlässigkeit", sondern um den
Umgang mit der *prinzipiell* nicht zu vermeidenden Multioptionalität von
Zukunft. Das Hauptproblem der heutigen Versprechen ist ja, dass sie erst
morgen eingelöst werden.
Ich fände es deshalb spannend, einmal die impliziten Voraussetzungen
deines Ansatzes zu explizieren. Dabei muss man ja nicht gleich so weit
gehen wie Robert Kurz in seinem Aufsatz "Der Unwert des Unwissens", in
dem er sich bekanntlich (u.a.) mit dem Oekonux-Theoriekontext
auseinandersetzt.
Auch wenn ich mir mit Ernst Lohoff und Stefan Meretz inhaltlich keineswegs
einig bin: "Auseinandersetzung" trifft es wohl nicht ganz. Dafür müsste Kurz
schließlich inhaltliche Argumente bringen, das tut er aber höchstens in 5%
seines Textes. Über den peinlichen Rest wollen wir lieber den Mantel des
Schweigens hüllen...
Nun, ob der so peinlich ist oder nicht schlicht meine These (3) [meine
mail vom 25.9., leicht kommentierte Übersetzung ins Deutsche siehe
http://www.dorfwiki.org/wiki.cgi?HansGertGraebe/CSSW07] expliziert, sei
dahingestellt. Zumal es ja auch Jacken gibt, deren Zuschnitt man
studieren kann (und sollte), ohne dass man sie sich gleich anziehen muss.
Explizieren ist immer gut, aber ich denke dass ich das schon weitgehend
gemacht habe. V.a. zeichnet sich mein Text auch gerade dadurch aus, dass er
auf Annahmen, etwa über die Natur des Menschen (die sich meist als
problematisch und oft genug als unhaltbar erweisen), gerade _verzichten_
kann und dass das vorgeschlagene Modell auch ohne solche Annahmen
funktioniert.
Ja, das stimmt. Ob es allerdings ein Modell oder doch eher eine Utopie
ist? Der Text enthält mir sehr viele normative Stellen (man muss, man
macht usw.), an denen ich nicht sehe, wie sich das praktisch einstellen
soll.
Und es wäre interessant, peer economy im praktischen Kontext von
Regionalentwicklung zu studieren. Der Fokus wird ja von Franz Nahrada
hier immer wieder reingetragen, ist aber selbst für ein
Krisis-Zusammenbruchsszenario relevant, denn [Klix/Lanius] machen auf
historischem Hintergrund deutlich, dass ein solcher Zusammenbruch mit
dem Rückgang der Komplexität gesellschaftlicher Interaktion - also der
wachsenden Bedeutung regionaler Kontexte - verbunden sein wird.
Ich glaube nicht, dass sich die Gesellschaft, die ich beschreibe, durch eine
geringere Komplexität als die heutige auszeichnen wird. Sicherlich wird die
materielle Produktion lokalisierter werden, wenn die Borniertheiten des
kapitalistischen Systems entfallen (Produktion in Asien, weil dort die Löhne
niedriger sind). Aber warum die globale Kooperation, wie sie etwa für die
Freie-Software-Szene oder auch für die Wissenschaft typisch ist, künftig
wieder zurückgehen sollte, sehe ich nicht.
Genau das wäre präziser auseinanderzunehmen, denn die Tendenz zu
stärkerer Lokalität und damit globaler Entflechtung *produktiver*
Grundprozesse ist m.E. weltweit mit Händen zu greifen. Nicht Produkte
sharen, sondern die Ideen, wie man sie lokal herstellen kann. Stefan
Matteikat hat übrigens am 26.9. hier in Leipzig schön ausgeführt, dass
und wie das die alten Inkas auch schon gemacht haben.
Und über den Zusammenbruch oder das Eintreffen menschenfressender Aliens
mache ich mir Sorgen, wenn es passiert, nicht vorher ;-)
Hmm, ich weiß nicht, wie du dir die zeitliche Dimension eines solchen
Zusammenbruchs vorstellst. Bei [Klix/Lanius] findest du eine Reihe
vergleichender Studien gesellschaftlicher Zusammenbrüche unter
Klimastress, die historisch lokal ja schon mehrfach passiert sind. Da
kann ich nur sagen, wir sind bereits mitten drin. Deutlichster Ausdruck
ist der starke Bedeutungszuwachs von Regionalgeld (als Spitze eines
Eisbergs regionaler peer economy). Deshalb mein nachdrücklicher Hinweis
auf die Veranstaltung am 19.10. mit Rolf Walther.
Es reicht mir erstmal, die _Verwertung_ aufzuheben. :-) Ob man auch ohne die
Möglichkeit und Notwendigkeit der Wertverwertung trotzdem noch
sinnvollerweise von "Wert" sprechen kann, will ich mal offen lassen. Der
Wert als unbewusste Basis für den _Tausch_ bzw. Verkauf im Kapitalismus und
der (gewichtete) Produktionsaufwand als bewusste Basis für die _Kooperation_
in meinem Modell sind zwar zweifellos verwandt -- aber das es für das
Verständnis hilfreich ist, sie einfach in einen Kopf zu werfen, glaube ich
nicht.
Ich weiß nicht, ob du hier nicht einer zentralen Meretz'schen Dichotomie
aufsitzt, die es so nicht gibt. *Das* nimmt Kurz ja nun wirklich sehr
präzise auseinander. Im Übrigen findest du ja auch die "weighted hours"
in meinem Aufsatz zur "Arbeitswerttheorie nach Marx" als
Arbeitswertfaktoren wieder - fast genau in derselben mathematischen
Konstellation wie bei dir, allein in Matrixform, um Input-Output-Analyse
zu betreiben. Dort habe ich auseinandergenommen, warum du dich damit im
Herz der Wertvergesellschaftung befindest und dass Marx zwei krude
Probleme ganz am Anfang in seine Theorie einbaut: (1) sein Zeitmaß und
(2) dass er mit der Reduktion aller Arbeit auf einfache Arbeit diese
Arbeitswertfaktoren rauswirft, um sich "die Mühe der Reduktion" (MEW 23,
S. 59) zu ersparen. (1) hat er in den Grundrissen ja wenigstens noch
thematisiert. Auch du bleibst mit deinem Auktionsmodell mit "weighted
hours" bei einem Zeitmaß, obwohl das vollkommen unnötig ist. Denn das
Ergebnis kannst du in VBE (= Vollbeschäftigteneinheiten), VZÄ (=
Vollzeitäquivalenten) oder UHU's messen, weil es stets nicht auf die
absolute Größe der "weighted hours", sondern nur auf deren Quotienten
untereinander ankommt (siehe etwa deine Formeln (A.7) und (A.10)). Dann
muss aber der Skalierungsfaktor auch kein Skalar sein, sondern kann
schlicht die Dimension VE/h (VE = Verrechnungseinheit) haben. Oder noch
deutlicher: "weighted hours" ist nix anderes als die Abrechnung der
Arbeitsleistung in Geldform. Mit der Dynamik *dieses* Abrechnungsmodells
hast du die ganze Wertvergesellschaftung also wieder durch die
Hintertüre am Hals.
Im Gegensatz zu Meretz sage ich allerdings - überhaupt nicht schlimm,
weil du im gleichen Atemzug über unternehmerisches Handeln (eben der
Auktionäre, die ja nix anderes als Kleinunternehmer ihrer selbst sind)
schreibst. Und der Warenfetisch ist sehr eng mit dem Lohnarbeiter, aber
deutlich weniger eng mit dem Kleinunternehmer verbunden. Letzterer hat
mit dem cash flow den Produktionsprozess (eben T-S-T') wenigstens bei
seiner produktiven Konsumtion immer im Hinterkopf und versteht intuitiv,
dass sich hinter der Geldform der Dinge Produktionsprozesse verbergen.
So, ist nun doch etwas ausführlicher geworden. Ich hoffe, ich konnte
mich verständlicher machen als am 8.9. in der Hellen Panke.
Viele Grüße, hgg
--
Dr. Hans-Gert Graebe, apl. Prof., Inst. Informatik, Univ. Leipzig
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