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[ox-de-raw] Re: [ox-de] Request for Comments: Die Peer-Ökonomie



Hallo Christian,

Christian Siefkes schrieb:
Insbesondere kommen mir Fragen der Verantwortungsübernahme, der
Umgang mit "gebrochenen Versprechen" usw. - kurz, die ganze
Thematik von Buch 2 des BGB - zu kurz. Will ich hier aber erst mal
nicht weiter ausführen.

das Bürgerliche Gesetzbuch scheint es dir ja angetan zu haben ;-) Aber
natürlich ist das bürgerliche Recht aus den Notwendigkeiten des Kapitalismus
entstanden, und wird mit diesem zusammen auch wieder verschwinden...

Nun, ganz so mechanisch sehe ich das nicht. Aber um's ins Konkrete zu wenden: Deine Reputation - als zentrale Kategorie in deinem Text - ist (m.E.) vor deine allem akkumulierte Fähigkeit, Versprechen auch zu halten, besonders vielleicht dann, wenn du eine Task ersteigert hast. Wenn du die dann in den Sand setzt ... Auch ist mir nicht klar, wie das bei deiner Auktion funktioniert, ob da jede(r) für alles mitbieten darf oder offensichtlicher Fake irgendwie aussortiert wird. Wobei das Problem ja oft ist, dass alle wissen, der schafft das nicht, allein der Betroffene selbst ... Kurz, Verantwortungsfähigkeit und deren Reproduktion ist schon ein Topic, der mir bei dir zu kurz kommt. BGB Teil 1 halt. Muss man ja nicht so lösen wie dort, aber lösen muss man's schon.

Und es gibt viele gute und schlechte Gründe, ein Versprechen nicht einzuhalten oder einhalten zu können. Man muss sich ja nicht von vornherein überhoben haben, sondern die Umstände gestalten sich halt anders als gedacht, erwartet, das Unerwartete tritt ein. Zukunft ist halt in vielen Dimensionen offen. Kann ja mal passieren, und wenn es bei einer konkreten Person nicht zu oft passiert, ist es ja auch nicht schlimm. Blöd halt nur, wenn du (Person A) jemand (Person B) was versprochen hast, wobei du dich drauf verlassen hast, dass ein anderer (Person C) sein Versprechen dir gegenüber einhält. Und wenn das Kind im Brunnen liegt, dann will es keiner gewesen sein und den letzten in der Kette beißen die Hunde. Diese Art von Schuldverhältnissen, also das Abwickeln von "Exceptions", muss auch irgendwie behandelt werden. BGB Teil 2 halt. Ich nehme mal an (du hast dazu nix geschrieben), dass B dann was dagegen hat, dass A die "weighted hours" in voller Höhe gutgeschieben bekommt und A einen Teil des Defizits C "in Rechnung stellen" will. Dass sich Schuldverhältnisse also irgendwie auf die Rechnungslegung auswirken.

BGB Teil 3 braucht dann Eigentum, um diese Schuldverhältnisse zu besichern, dass nicht eine(r) dauernd "weighted hours" abgezogen bekommt bis er (oder sie) tief in den roten Zahlen ist. Streng genommen ist in dieser Gesellschaft nur jemand mit positivem Wert-Saldo (in einem hier nicht näher explizierten Sinn) überhaupt schuldfähig. Wie das bei dir funktioniert, welche Bremse da eingebaut ist, ob es so was wie Insolvenz gibt, wie sich das auf die Gesamtrechnung auswirkt, all das habe ich nicht wirklich begriffen.

Der Umgang mit "gebrochenen Versprechen" wird in einer Gesellschaft wie ich
sie beschreibe wohl eher so aussehen wie heute schon im privaten Bereich, wo
man ein Versprechen kaum vor Gericht einklagen würde. Wo aber
Vertrauensverstöße oder schwere Unzuverlässigkeit natürlich Konsequenzen
haben. Insbesondere werden Menschen, die sich so verhalten, wahrscheinlich
zunehmend Schwierigkeiten haben, andere Menschen zu finden, die bereit sind
mit ihnen zusammenzuarbeiten. Was in einer Gesellschaft, die auf Kooperation
basiert, natürlich durchaus unangenehm sein kann...

Das sind die peanuts, die leichten Fälle. Es geht nicht primär um "Vertrauensverstöße oder schwere Unzuverlässigkeit", sondern um den Umgang mit der *prinzipiell* nicht zu vermeidenden Multioptionalität von Zukunft. Das Hauptproblem der heutigen Versprechen ist ja, dass sie erst morgen eingelöst werden.

Ich fände es deshalb spannend, einmal die impliziten Voraussetzungen
deines Ansatzes zu explizieren. Dabei muss man ja nicht gleich so weit
gehen wie Robert Kurz in seinem Aufsatz "Der Unwert des Unwissens", in
dem er sich bekanntlich (u.a.) mit dem Oekonux-Theoriekontext
auseinandersetzt.

Auch wenn ich mir mit Ernst Lohoff und Stefan Meretz inhaltlich keineswegs
einig bin: "Auseinandersetzung" trifft es wohl nicht ganz. Dafür müsste Kurz
schließlich inhaltliche Argumente bringen, das tut er aber höchstens in 5%
seines Textes. Über den peinlichen Rest wollen wir lieber den Mantel des
Schweigens hüllen...

Nun, ob der so peinlich ist oder nicht schlicht meine These (3) [meine mail vom 25.9., leicht kommentierte Übersetzung ins Deutsche siehe http://www.dorfwiki.org/wiki.cgi?HansGertGraebe/CSSW07] expliziert, sei dahingestellt. Zumal es ja auch Jacken gibt, deren Zuschnitt man studieren kann (und sollte), ohne dass man sie sich gleich anziehen muss.

Explizieren ist immer gut, aber ich denke dass ich das schon weitgehend
gemacht habe. V.a. zeichnet sich mein Text auch gerade dadurch aus, dass er
auf Annahmen, etwa über die Natur des Menschen (die sich meist als
problematisch und oft genug als unhaltbar erweisen), gerade _verzichten_
kann und dass das vorgeschlagene Modell auch ohne solche Annahmen
funktioniert.

Ja, das stimmt. Ob es allerdings ein Modell oder doch eher eine Utopie ist? Der Text enthält mir sehr viele normative Stellen (man muss, man macht usw.), an denen ich nicht sehe, wie sich das praktisch einstellen soll.

Und es wäre interessant, peer economy im praktischen Kontext von
Regionalentwicklung zu studieren. Der Fokus wird ja von Franz Nahrada
hier immer wieder reingetragen, ist aber selbst für ein
Krisis-Zusammenbruchsszenario relevant, denn [Klix/Lanius] machen auf
historischem Hintergrund deutlich, dass ein solcher Zusammenbruch mit
dem Rückgang der Komplexität gesellschaftlicher Interaktion - also der
wachsenden Bedeutung regionaler Kontexte - verbunden sein wird.

Ich glaube nicht, dass sich die Gesellschaft, die ich beschreibe, durch eine
geringere Komplexität als die heutige auszeichnen wird. Sicherlich wird die
materielle Produktion lokalisierter werden, wenn die Borniertheiten des
kapitalistischen Systems entfallen (Produktion in Asien, weil dort die Löhne
niedriger sind). Aber warum die globale Kooperation, wie sie etwa für die
Freie-Software-Szene oder auch für die Wissenschaft typisch ist, künftig
wieder zurückgehen sollte, sehe ich nicht.

Genau das wäre präziser auseinanderzunehmen, denn die Tendenz zu stärkerer Lokalität und damit globaler Entflechtung *produktiver* Grundprozesse ist m.E. weltweit mit Händen zu greifen. Nicht Produkte sharen, sondern die Ideen, wie man sie lokal herstellen kann. Stefan Matteikat hat übrigens am 26.9. hier in Leipzig schön ausgeführt, dass und wie das die alten Inkas auch schon gemacht haben.

Und über den Zusammenbruch oder das Eintreffen menschenfressender Aliens
mache ich mir Sorgen, wenn es passiert, nicht vorher ;-)

Hmm, ich weiß nicht, wie du dir die zeitliche Dimension eines solchen Zusammenbruchs vorstellst. Bei [Klix/Lanius] findest du eine Reihe vergleichender Studien gesellschaftlicher Zusammenbrüche unter Klimastress, die historisch lokal ja schon mehrfach passiert sind. Da kann ich nur sagen, wir sind bereits mitten drin. Deutlichster Ausdruck ist der starke Bedeutungszuwachs von Regionalgeld (als Spitze eines Eisbergs regionaler peer economy). Deshalb mein nachdrücklicher Hinweis auf die Veranstaltung am 19.10. mit Rolf Walther.

Es reicht mir erstmal, die _Verwertung_ aufzuheben. :-) Ob man auch ohne die
Möglichkeit und Notwendigkeit der Wertverwertung trotzdem noch
sinnvollerweise von "Wert" sprechen kann, will ich mal offen lassen. Der
Wert als unbewusste Basis für den _Tausch_ bzw. Verkauf im Kapitalismus und
der (gewichtete) Produktionsaufwand als bewusste Basis für die _Kooperation_
in meinem Modell sind zwar zweifellos verwandt -- aber das es für das
Verständnis hilfreich ist, sie einfach in einen Kopf zu werfen, glaube ich
nicht.

Ich weiß nicht, ob du hier nicht einer zentralen Meretz'schen Dichotomie aufsitzt, die es so nicht gibt. *Das* nimmt Kurz ja nun wirklich sehr präzise auseinander. Im Übrigen findest du ja auch die "weighted hours" in meinem Aufsatz zur "Arbeitswerttheorie nach Marx" als Arbeitswertfaktoren wieder - fast genau in derselben mathematischen Konstellation wie bei dir, allein in Matrixform, um Input-Output-Analyse zu betreiben. Dort habe ich auseinandergenommen, warum du dich damit im Herz der Wertvergesellschaftung befindest und dass Marx zwei krude Probleme ganz am Anfang in seine Theorie einbaut: (1) sein Zeitmaß und (2) dass er mit der Reduktion aller Arbeit auf einfache Arbeit diese Arbeitswertfaktoren rauswirft, um sich "die Mühe der Reduktion" (MEW 23, S. 59) zu ersparen. (1) hat er in den Grundrissen ja wenigstens noch thematisiert. Auch du bleibst mit deinem Auktionsmodell mit "weighted hours" bei einem Zeitmaß, obwohl das vollkommen unnötig ist. Denn das Ergebnis kannst du in VBE (= Vollbeschäftigteneinheiten), VZÄ (= Vollzeitäquivalenten) oder UHU's messen, weil es stets nicht auf die absolute Größe der "weighted hours", sondern nur auf deren Quotienten untereinander ankommt (siehe etwa deine Formeln (A.7) und (A.10)). Dann muss aber der Skalierungsfaktor auch kein Skalar sein, sondern kann schlicht die Dimension VE/h (VE = Verrechnungseinheit) haben. Oder noch deutlicher: "weighted hours" ist nix anderes als die Abrechnung der Arbeitsleistung in Geldform. Mit der Dynamik *dieses* Abrechnungsmodells hast du die ganze Wertvergesellschaftung also wieder durch die Hintertüre am Hals.

Im Gegensatz zu Meretz sage ich allerdings - überhaupt nicht schlimm, weil du im gleichen Atemzug über unternehmerisches Handeln (eben der Auktionäre, die ja nix anderes als Kleinunternehmer ihrer selbst sind) schreibst. Und der Warenfetisch ist sehr eng mit dem Lohnarbeiter, aber deutlich weniger eng mit dem Kleinunternehmer verbunden. Letzterer hat mit dem cash flow den Produktionsprozess (eben T-S-T') wenigstens bei seiner produktiven Konsumtion immer im Hinterkopf und versteht intuitiv, dass sich hinter der Geldform der Dinge Produktionsprozesse verbergen.

So, ist nun doch etwas ausführlicher geworden. Ich hoffe, ich konnte mich verständlicher machen als am 8.9. in der Hellen Panke.

Viele Grüße, hgg

--

  Dr. Hans-Gert Graebe, apl. Prof., Inst. Informatik, Univ. Leipzig
  Johannisgasse 26, D-04109 Leipzig, Raum 5-18 (Interim)	
  tel. : [PHONE NUMBER REMOVED]
  email: graebe informatik.uni-leipzig.de
  Home Page: http://www.informatik.uni-leipzig.de/~graebe




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