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Routine, Erfahrung und das Programmieren (war: Re: [ox] Das Programmieren)



[Nochwas vorweg: Ich habe irgendwie versehentlich mal eine
Zwischenversion einer meiner letzten Mails rausgeschickt, welche man
getrost ignorieren kann.]

Sabine Nuss <nussini zedat.fu-berlin.de> writes:
Die Menge an Erfahrungen macht uns übrigens auch zunehmend
langsamer. Das habe ich mal von einer Psychologin gelernt, die uns
Geduld mit älteren Kollegen vermitteln wollte. Recht hatte sie. 

"Die Menge an Erfahrungen macht uns übrigens auch zunehmend langsamer" -
wie kommt das? Das leuchtet mir gar nicht ein. Vielleicht eher
"gelassener"? ;-) 

Nein, im Ernst. Es klingt hier, als sei die "Menge" an Erfahrung
verantwortlich für eine wie auch immer definierte und bewertete
"Langsamkeit" der "älteren" Menschen. 

Scheinbare geistige Langsamkeit, wir meinen hoffentlich alle das
gleiche. Los geht's:

Die Psychologin hat es relativ trivial-verständlich mit der
zunehmenden Menge der zu durchforstenden Erinnerungen/Erfahrungen
erklärt. Es war ziemlich plausibel und die erlebten "Symptome"
bestätigen das auch.

Der Kollege im konkreten Fall ist praktisch schon 27 Jahre in diesem
Geschäft, selbst wenn damals die Fachrichtungen noch anders hießen und
anders programmiert wurde. (So lange schon, wie ich alt bin. Das ist
derart beeindruckend; ich bin ein richtiger Fan von ihm. Ohne Ironie.)

Auf Fragen hat er grundsätzlich eine Antwort oder eine Idee parat
gehabt. Häufig waren das die ähnlichen Ideen, wie man sie selber auch
gehabt hat und die einem noch nicht wirklich weiterhalfen. Eine paar
Minuten später kommt er nochmal rein und sagt, ihm sei noch was
eingefallen. Sie hatten bereits mit der und der Software schon mal
einen ähnlichen Fall, dort haben sie das und das versucht. Er hat also
einfach sein Gedächtnis durchsucht. Das konnte über mehrere Stunden,
manchmal Tage so gehen.

Es ist vermutlich so, als ob man sich mit jemandem über "alte Zeiten"
unterhält. Nach und nach kommen die Erinnerungen und immer mehr
Details wieder zum Vorschein. Beim Geschichtenerzählen sucht man
allerdings nicht nach einem konkreten Detail; bei der Arbeit schon,
daher fällt die Verzögerung dort eher auf.

Ein sehr natürlicher Vorgang, denke ich.

Gleichzeitig kennen die Senioren auch eine Menge Sackgassen, die sie
selber schon eingeschlagen haben und deshalb nicht nochmal probieren
wollen, was oberflächlich leicht als destruktives Gegendiskutieren
ankommt, wohingegen ein jungdynamischer Spund leicht mit hektischem
Aktionismus Eindruck schinden kann. Er hat einfach weniger
Mißgeschicke und Sackgassen zu verbuchen, die ihn unsicher machen
könnten.


Man sollte doch meinen, je mehr Erfahrung, desto mehr Routine, desto
schneller. Vielleicht hatte die Psychologin einfach unrecht und die
Langsamkeit hat gar nichts mit den Erfahrungen zu tun, sondern mit
anderen Dingen? Oder ist das alles auch ein Programmierspezifikum?

Diese Routine, wie man sie z.B. aus handwerklichen Berufen kennt, gibt 
es nach meiner Erfahrung in dieser Art nicht.

(Jetzt kriege ich den ursprünglichen Routine-Gedanken vielleicht
besser zusammen, mal sehen.)

Beim Programmieren ist es IMHO so, daß man eine Sache nie zweimal
gleich tut. Entweder man gräbt seinen alten Code aus, oder man macht
es nochmal von vorn, und dabei gleich alles mögliche anders als
früher.

Ich z.B. könnte mich im Nachhinein auch nicht daran erinnern, wie ich
ein konkretes Problem gelöst habe. Aus diesem Grund sind
Quellcode-Backups so "lebens"-notwendig, bzw. ist der Verlust von
Quellcode so fatal.

Es ist genau wie mit den Aufsätzen, die man früher in der Schule
geschrieben hat. Man hatte einen begrenzten Zeitrahmen zur Verfügung
und einen Gedanken entwickelt, der dann zum Aufsatz wurde.

Vor der Prüfung wurden bei uns damals Probe-Aufsätze mit Themen
vergangener Jahre geschrieben. Es gab von den Lehrern die
eindringliche Warnung, beim richtigen Prüfungsaufsatz nicht nocheinmal
über das gleiche Thema zu schreiben, bzw. die Rekonstruktion eines
alten erfolgreichen Aufsatzes zu versuchen, falls diese Möglichkeit
bestünde (z.B. im Rahmen eines freien Themas oder zufällig ein
verwandtes Thema einer alten Prüfung).

Alle, die sowas trotzdem probiert haben, sind damit auch gnadenlos
gescheitert.

Weil das Gedanken-Entwickeln vielleicht Routine ist, nicht aber der
Gedanke selbst.


Genauso geht's mir beim Programmieren. Und in James-Bond-Filmen, wenn
sie einem Professor die geheime Formel stehlen, die er selber nicht im
Kopf hat, ist es vermutlich genau das gleiche. Er kann sie beim besten
Willen nicht einfach so rekonstruieren.

Das gleiche dürfte für das Komponieren von komplexen Musikstücken
gelten. Schwupp, da ist er wieder, der Vergleich mit künstlerischer
Arbeit, diesmal regelrecht hergeleitet. :-)


Tja, nun reden wir doch über Routine und Erfahrung. :-)
Das ganze scheint aber durchaus ein Wesensmerkmal der Tätigkeit
Programmieren (und nicht nur dieser) zu sein. Insofern vielleicht doch
relevant.


Zurück zu Lück.

GreetinX
Steffen
-- 
Steffen Schwigon
<schwigon innocent.com>




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