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Re: [ox] Re: Wissenschaft et al



Hi Stefan!

Das wird wieder lang...

3 days ago Stefan Meretz wrote:
Stefan Merten schrieb:
Diese Mail ist in Teilen nicht freundlich.

Meine Antworten sind in allen Teilen freundlich.

:-)

Nach Lesen deiner Antwort sehe ich, daß wir an bestimmten Stellen doch
tieferliegende "weltanschauliche" Unterschiede haben. Gut, die hier
mal rauszuarbeiten, damit wir wenigstens wissen, von was wir mailen
wenn wir mailen. Ich sehe auch besser, was mich so aufgeregt hat. Ich
hab's jetzt klarer - und unaufgeregter :-) .

BTW: Vielleicht wäre es hübsch, ab und an mal Bezüge zu unseren
Kernthemen zu bilden. Aber ich fürchte, das packe ich in dieser Mail
auch nicht. Das Thema ist so schwierig, daß ich mich da wohl werde
drauf konzentrieren müssen.

Ach und ich versuche mal, mit den bisher benutzten Worten auszukommen
- um nicht immer neue Unklarheiten aufzureißen.

Last week (10 days ago) Stefan Meretz wrote:
Die Begriffe sind immer schon da? Werden aber in der Regel
definiert? Dieses "sie sind immer schon da" verstehe ich dann
nicht. Wenn etwas immer schon da ist, wird es in der Regel gerade
nicht mehr definiert, sondern gesetzt (wie bei den Prämissen in
Kuhns Paradigma). Musst mir nochmal erklären.

"Immer schon da" meint, das sie im Alltag (manchmal gehobener:
Wissenschaftsalltag) einfach verwendet werden. Als solche sind sie
natürlich mehrdeutig. Deswegen müssen sie in der
wissenschaftsförmigen Verwendung 'definiert' werden, damit klar
wird, welche der - eigentlich vorausgesetzten - Bedeutungen
gemeint ist.

Es gibt einen begrifflichen Unterschied zwischen Worten und Begriffen.
Was du hier beschreibst ist genau die Überführung eines im Alltag
vorgefundenen Wortes in eine wissenschaftlich umrissenen fixierten
Begriffen. Das ist m.E. auch genau das Wesen einer Definition.

Der Unterschied von Wort und Begriff ist klar, doch ich meinte
wirklich Alltagsbegriffe. Worte werden nicht dadurch zu Begriffen,
in dem man sie definiert. Das ist nicht das Wesen einer Definition.

Ok. Worte sind niemals Begriffe m.E. also können sie es auch nicht
werden. Was eine Definition im obigen Sinne leisten kann, ist eine
Assoziation zwischen einem Wort und einem Begriff herzustellen.

Vormails verglich ich einen Begriff mit einer Brille, die einem
einen bestimmten Blick auf den Gegenstand (was auch immer) erlaubt.

Ein Begriff ist für mich eine Denkfigur, die grundsätzlich auch ohne
Sprache existieren kann - obwohl unsere Lebensform auch diesbezüglich
von Sprache sehr profitiert. Als solche kann der Begriff durchaus
schon da sein bevor ich ein damit assoziiertes Wort habe.

Eine Definition ist damit für mich der (i.a.) sprachliche Versuch,
einen Begriff im Denken der LeserIn zu evozieren. In dieser Sicht kann
eine Definition durchaus einen neuen Begriff fixieren - wie z.B. das
Schwarze Loch.

Eine erkenntnistheoretische Frage scheint mir zu sein, ob die
Gegenstände immer schon da sind und die Begriffe erst als Brille
dazutreten oder ob die Begriffe nicht auch teilweise erst neue
Gegenstände hervorbringen können. Ist "Freie Software" nicht ein
Beispiel dafür, wie mit einem Wort ein neuer Begriff erst geschaffen
wird? Ist "GPL-Gesellschaft" nicht ein Wort, zu dem wir den Begriff
hier uns zusammensuchen? Wahrscheinlich gibt es einfach beide Fälle.

Im Alltag besitzen solche Begriffe eine recht grosse Ambiguität
(Mehrdeutigkeit),

Weiß ich nicht, ob alle Worte eine so große begriffliche Ambiguität im
Alltag haben. Ist "Löffel" so ein ambiges Wort?

in der Wissenschaft werden sie auf einen
Bedeutungausschnitt fixiert.

Mein Verdacht ist, daß gerade die Worte, die aus einer Wissenschaft -
mit ihrer wissenschaftlichen Begrifflichkeit - zurück in den Alltag
diffundieren - wie es in der Psychologie sicher so ist - ambig werden.
Das liegt aber daran, daß hier einfach Nicht-Fachleute von Dingen
reden, von denen sie vielleicht besser schwiegen. Populärwissenschaft
ist wohl die Bezeichnung.

Und das finde ich auch ganz legitim so vorzugehen.

Unter bestimmten Umständen und für bestimmte Bereiche: ja.

Die Bereiche scheinen mir wichtig. Gleich mehr dazu.

Wie willst du denn
sonst die neuen Dinge, die dir gerade in innovativen Wissenschaften
wie der Informatik andauernd begegnen respektive, die du entwickelst -
kurz: über die du plötzlich reden mußt -, wie willst du diese Dinge
denn benennen? Das Wort "schwarzes Loch" hat auch eine
alltagssprachliche Bedeutung, die mit dem komplexen physikalischen
Phänomen, das die PhysikerInnen entdeckt haben, so gut wie nichts zu
tun hat (seit Hawking sind sie ja nicht mal mehr schwarz...).

Die Probleme liegen weniger in den Natur- und Technikwissenschaften
selbst, sondern in den Überschreitungen und Grenzbereichen. Die
Physik hat ihre Verfahren - so weit ich das überschaue - sehr gut
expliziert, wobei es dort auch interessante Grenzfragen gibt. Sie
nehmen nicht den Begriff "schwarzes Loch" mit einer Alltagsbedeutung
und schneiden eine interessierende Bedeutung heraus. Hier ist es
doch gerade umgekehrt: Wissenschaftlich entwickelte und explizierte
und schließlich auch definierte Begriffe dringen in den Alltag ein
(als _Begriffe_, als Worte mögen sie schon vorher existiert haben).

Genau die Bereiche. Das ist wichtig.

Punkt 1: Die Physik ist eine _sehr_ alte Wissenschaft mit einem
erheblichen Bodensatz an mehr oder weniger unveränderlichen
Basiswahrheiten - die Mechanik z.B. (Annette kann mich vielleicht
verbessern wenn's nicht so ist).

Dadurch hatten solche Begriffe wie "Hebel" oder auch "Schwerkraft"
lange Zeit, in die Alltagssprache einzudringen. Das ging natürlich
nur, weil die Menschen eine entsprechende (Aus)Bildung genießen, in
denen diese Dinge nahe gebracht werden.

Ich behaupte mal: Wenn das nicht so wäre, dann wäre die Physik heute
eine esoterische Wissenschaft (= Geheimwissenschaft), und es würden
sich haufenweise RattenfängerInnen finden, die den Leuten die dollsten
Dinge über die Wirkung von "Hebeln" unterjubeln würden.

Punkt 2: Noch dazu ist der Gegenstandsbereich der modernen Physik -
Quantentheorie etc. - _weit_ vom Alltag der Leute entfernt. Da ist es
klar, daß bei einem Wort wie "Schwarzes Loch" wenig
Verwechslungsgefahr besteht.

Anders ist das natürlich bei Wissenschaften, deren Gegenstandsbereich
der Mensch in der einen oder anderen Dimension ist. Das ist es sehr
naheliegend, daß du mit dem Alltag in Berührung kommst. Anders kann es
auch gar nicht sein, denn eine menschenbezogene Wissenschaft _muß_
sich ja gerade auch mit dem Alltag befassen oder sie ist (nur)
abgehoben und damit reines Glasperlenspiel - was ja auch Spaß machen
kann ;-) .

Punkt 3: Ganz schwierig wird es dann in der Zusammenschau: Neue
Wissenschaft mit Menschen als Gegenstandsbereich. Da kann es gar nicht
anders sein, als das hier alles permanent kreuz und quer geht. Das
kann mensch bedauern - abschaffen geht aber nicht. Dafür ist die
Psychologie sicher ein Beispiel aber auch die "Künstliche
Intelligenz".

Was du hier erlebst ist m.E. das Ringen um (neue) Begriffe, eine
(neue) Sicht der Dinge, die eben (für die meisten Menschen) nur
dadurch entstehen kann, daß sie auf vorhandenes aufsetzen und da dran
weiterdenken. Ob das immer "richtig", "sinnvoll", "lauter" gemacht
wird, ist dabei durchaus nicht ausgemacht und unterliegt der Kritik.

Das ist eben ein Ausfluß des Prozeßcharakters von Wissenschaft.

Das Beispiel: Wenn ich mir z.B. unseren Laden hier angucke -
wenngleich ihn auch nicht als wissenschaftlich im engeren Sinne
bezeichnen würde -, was machen wir denn anderes als vage Begriffe zu
verfolgen, Worte für diese Begriffe zu finden und diese Begriffe zu
verfestigen.

Nimm' z.B. das Wort "frei" - zahllose Bedeutungen in unterschiedlichen
Bereichen. Wir verstehen hier darunter frei im Sinne der GPL - sag'
ich mal so - und verwenden seit einiger Zeit das große "F" dafür. Hat
sich so entwickelt. Ganz im obigen Sinne.

Ah genau. Vielleicht kannst du ja mal deine Position anhand dieses
Beispiels erläutern. Vielleicht verstehe ich dann noch besser, was du
meinst.

Das meine ich mit 'nicht expliziert': die Begriffe
sind nicht ausgewiesen, sie halt einfach 'da'.

Die Definition expliziert sie doch.

Nein, tut sie nicht, das ist doch gerade meine Kritik.

Verstehst du meine Position jetzt besser?

Wo sollen die Worte denn sonst
herkommen als von Vorgefundenem?

Es geht nicht um die Worte (die sind Schall und Rauch), sondern um
die Begriffe, um die Bedeutung. Kommen sie aus bloß Vorgefundenem,
und werden sie nur durch Einengung fixiert, dann nenne ich das
Oberflächenverdopplung. So könnte nie neues entstehen.

Natürlich kann. Die Einengung bildet ja auch einen Fokus auf eine
bestimmte Teilbedeutung, auf einen bestimmten Begriff. Und in diesem
Fokus können m.E. sehr wohl neue Aspekte auffallen, die vorher nicht
sichtbar waren. Der Begriff kann klarer, reichhaltiger werden, ja er
kann sogar eine ganz neue Qualität erhalten.

Auch hier wieder ein vielleicht leicht hinkendes Beispiel zur
Illustration. Das Kopieren hat in der Alltagssprache eine weite
Bedeutung - sicher unstrittig. In der Einengung auf "digitales
Kopieren" - mit unserem ganzen Gedankengut hintendran - fällt mir z.B.
in den letzten Monaten immer stärker auf, daß es sich bei diesem
Phänomen um etwas fundamental Neues handelt. Ich bilde quasi einen
neuen Begriff von "digital Kopieren" aus dem Alltagsbegriff indem ich
einfach da den Fokus drauf setze und unseren Kontext hinzunehme.

Sollen sie vom Himmel fallen? Nehmen
wir die natürlichen Zahlen als Bezeichner für die Begriffe?

Es geht _nicht_ um die Bezeichner, sondern um die Bedeutung.

Versuche die Frage zu beantworten, wie Neues entsteht, wie eine neue
Bedeutung z.B. als neue Erkenntnis auf die Welt kommt. Sie entsteht
nicht durch Definition, oder? Die Definition, so sie nötig ist,
steht erst ganz am Ende der Kette. Da ist die Bedeutung, die sie
begrenzt, längst da. Und der Bezeichner, ob schwarzes Loch oder
grüne Tomate, ist zweitrangig.

Ich würde jetzt sagen, daß es ein Prozeß ist. Arbeitsdefinitionen
können neue Begriffe im Rahmen eines Prozesses fixieren.
Lehrbuchdefinitionen teilen in geballter Form mit, was andere, vorher
schon zu einem bestimmten Gegenstandsbereich gedacht haben.

In beiden Fällen dienen Definitionen m.E. dazu, bei den
Kommunizierenden den gleichen Begriff zu evozieren. Diese Evokation
kann übrigens nicht allein aus dem Auswendiglernen von Begriffen
entstehen, sondern bedarf der aktiven Aneignung - z.B. indem mensch
mit dem Begriff rumspielt.

Nun kannst du natürlich kritisieren, daß die WissenschaftlerInnen sich
nicht an ihre eigenen Definitionen halten, daß es keine Definitionen
gibt, daß bestehende Definitionen nicht einheitlich verwendet werden,
etc. pp. M.E. sagst du damit aber nur, daß sich eine bestimmte
Definition noch nicht durchgesetzt hat. Das findest du wahrscheinlich
nicht bei Wissenschaften, die sehr alt sind und wo nicht mehr viel
passiert. Aber bei neuen Feldern ist das m.E. unumgänglich.

Das ist nicht mein Punkt.

Da bin ich nicht so sicher. Für mich sieht es immer noch so aus. Aber
vielleicht irre ich mich.

Sie liegen sozusagen ausserhalb der Wissenschaft
selbst. Faktisch werden sie durch "Anschauung" gewonnen.
Damit haben sie den Charakter von wissenschaftsförmig
(sprachlich aufgemotzt) verdoppelten Alltagsbegriffen.

Das mit dem Verdoppeln verstehe ich auch nicht so recht. Du
meinst, die Begriffe sind im Kopf so verankert, entstanden in der
Wahrnehmungswelt ausserhalb des wissenschaftlichen
Erkenntnisprozesses werden sie in die Wissenschaft hinein
transformiert, dann dort nochmal affirmativ definiert und sind
deshalb "doppelt" Oder wie ????

Ja, so in etwa. Wobei sie nicht 'nochmal definiert' werden, denn
im (Wissenschafts-) Alltag wird ja normalerweise nicht definiert,
sondern von einem 'rough consensus' ausgegangen - was auch ok ist.

Na, was ist denn das, was die Leute in einem Studium lernen? Ist das
nicht u.a. eine geballte Ladung Definitionen? Definitionen als
sprachliche Fixierung eines bestimmten zugrundeliegenden Begriffes
führen natürlich in der Folge zu einem "rough consensus" - und BTW
auch zu "running code" ;-) .

Die Leute werden mit dem Endpunkt des Prozesses, den Definitionen,
konfrontiert. Daran finde ich problematisch, dass der Prozess in der
Regel nicht mehr transparent gemacht wird. Dazu bleibt oft schlicht
keine Zeit. Mir geht's aber nicht um die Lehre, sondern um den
wissenschaftlichen Forschungsprozess, um den Ort, wo Neues entsteht.

Wenigstens an der Stelle sind wir uns jetzt schon einig :-) .

Wenn aber dieser 'rough consensus' nur noch definitorisch
zugeschnitten wird, dann hat Wissenschaft ihre 'kritische' Potenz
verfehlt, dann bleibt nur noch 'Affirmation' und 'Verdopplung':
Es wird nichts Neues mehr hervorgebracht, sondern Alltägliches
wissenschaftlich verbrämt wiedergekäut.

Das sehe ich überhaupt nicht so. M.E. kommt es vielmehr darauf an, wo
du in der Wissenschaft hinschauen willst. Die Affirmation und
Verdopplung kommt nicht aus der simplen Übernahme von
Alltagswahrheiten, sondern ob du dazu bereit bist, über das Bestehende
hinauszudenken.

Meine Kritik - puh, ist das schwer auszudrücken - ist die: Es ist
keine Frage der 'Haltung' - "ich _will_ über das Bestehende
hinausdenken" reicht nicht -, sondere eine der Methodologie.

Ok. Wenn du eine Haltung hast "Ich will über das Bestehende
hinausdenken", dann wirst du dir zweckmäßigerweise eine
Instrumentarium, eine Methodologie beschaffen, mit der du das kannst.

Daß das auch fehlschlagen kann, dafür sind z.B. die Grünen ein
Beispiel. Die wollten wohl auch - teilweise - "über das Bestehende
hinausdenken", haben aber mehrheitlich sich nicht das passenden
Instrumentarium beschafft. Da stimme ich dir zu, daß die dann
Oberflächenverdopplung betreiben. Aber vielleicht ist da die Haltung
sogar eher das Problem gewesen als alles andere - würde meine These
eher bestätigen.

"Definition" ist keine Methode, erst recht keine wissenschaftliche
Reflexion der eigenen Methoden und eigenen Begriffsgenese (das meint
Methodologie).

Ack.

Aber eine Definition kann im Geiste einer bestimmten Methodologie
geschehen - oder einer anderen.

Daß selbst mit einem kritischen Instrumentarium wie dem Marx'schen die
MarxistInnen und die Arbeiterbewegung die Affirmation prima
hingekriegt haben, ist m.E. ein stützender Hinweise darauf.

Es ist m.E. ein Hinweis darauf, dass du mit Definitionen nicht mehr
erreichen kannst, als Verdopplung von Alltagsbegriffen (in der
Arbeiterbewegung etc.). Deswegen halte ich für das Wertvollste am
Marx die Methodologie (ein paar Erkenntnisse über die bürgerliche
Gesellschaft sind natürlich auch ganz ok.). Geht man damit
definitisch um, beraubt man den ollen Marx um seinen kritischen
Gehalt.

Nak.

Wir können mit den exakt gleichen Definitionen, die auch der
Arbeiterbewegung zur Verfügung gestanden haben, aber unter Verwendung
der Marx'schen Methodologie - wir versuchen's wenigstens -, eben "über
das Bestehende hinausdenken". Und genau deswegen, weil wir es wollen.

Hmm... Ich komme immer mehr dazu: Definition - es kommt darauf an, was
mensch daraus macht.

- 'neuronales Netz': so als Redeweise ok, aber sobald man ein
wissenschaftliches Erkenntnisinteresse verfolgt, darf man IMO ein
mathematisches Verfahren nicht mehr so nennen - sonst fällt man
laufend auf seine eigene Redeweise rein;

<sarcasm>Wie beim Schwarzen Loch...</sarcasm>

Wie oben geschrieben: In der Physik besteht das Problem so krass
nicht (ich kann dazu auch nicht viel sagen). Wohl aber in der
Kognitionswissenschaft. Das genannte "Reinfallen" denke ich mir doch
nicht aus, das passiert andauernd, un ich bin wahrlich nicht der
Einzige, dem das auffällt. UNd nochmal zur Klarstellung: Es geht mir
nicht um das 'Wort', sondern um den 'Begriff'.

Konnte ich oben deutlich machen, warum das gar nicht anders sein kann?

Wer ist "man"?

Die WissenschaftlerInnen oder wer auch immer das o.g. Interesse
verfolgt.

Das wäre mir schon wichtig die Akteure zu benennen.

WissenschaftlerInnen, denen ich mal unterstelle, daß sie etwas über
ihren Gegenstandsbereich lernen wollen, kann ich nämlich sagen, daß
sie mit "ungeeigneten" Definitionen nicht weiterkommen.

PolitikerInnen z.B. müßtest du aber in einer ganz anderen Weise
begegnen.

- 'Bedeutung': hier wird vom Verständnis ausgegangen, das weltliche
Bedeutungen 'vereinbart' würden. Wenn man diese 'Vereinbarungen'
algorithmisch abbilden könne (als Syntax-Semantik-Relationen),
dann sei auch ein mathematisches Verfahren ('neuronales Netz')
in der Lage, 'Bedeutungen' aus der Umwelt zu extrahieren. Ohne es
hier vorzuführen: Das ist kompletter Unsinn.

Nur, wenn du einen anderen Begriff hinter "Bedeutung" legst als das
diese Herrschaften tun.

Ja, das gehört mit zum Problem: Trotz aller Definitorik, passen sie
nämlich an den entscheidenen Stellen (etwa beim Begriff der
Bedeutung) und/oder wirbeln alles munter durcheinander.

Meine Sicht: Sie benennen ein Phänomen, das sie in ihrem
Gegenstandsbereich {vor,er}finden. Und für ihren Gegenstandsbereich
kann es ja auch genauso sein wie sie sagen - oder? Daß die

Rückübertragung dann natürlich nicht statthaft ist, da sind wir uns
wohl einig. Aber das geht genau in Richtung Sprachspiel und Beachtung
derer Grenzen.

Meine
Aussage, das sei "Unsinn", mache ich jedoch nicht einfach deswegen,
weil ich nunmal diesen Begriff von Bedeutung habe, und 'die' halt
einen anderen. Nein, das ist sachlich-inhaltlich so, das 'die'
Unsinn reden - sage ich und begründe ich.

Wie kannst du über deren Gegenstandsbereich reden? Vielleicht machen
die das ja wirklich so, daß sie vorher eine "weltliche Bedeutung" in
ihrem Sinne vereinbaren in ihren Programmen.

Das ist eine
wissenschaftliche Streitfrage (ich bin da eh in einer super
Minderheitposition), die man nicht postmodern auflösen kann. Nur:
die wichtigen Leute haben es überhaupt nicht nötig, sich mit solchen
Minderheitspositionen auseinanderzusetzen.

Das ist wohl wahr.

- 'Lernen': Lernen wird als bloße Adaption, als Anpassung gesehen,
wofür es entsprechende 'Lerntheorien' in der Psychologie gibt. Das
ist nicht nur Unsinn, sondern wird hier in seiner ideologischen
Funktion deutlich: Nichts hinterfragen, sondern an die Vorgaben
anpassen.

Das finde ich für ein Computer-Programm auch genau richtig. Das soll
gefälligst nicht mich hinterfragen, sondern sich an meine Vorgaben
anpassen. Oder findest du, wir sollten alle zurück zur Kommandozeile?

Den Einwand verstehe ich nicht. Ich schrieb von der ideologischen
Funktion, die ein Begriff von 'Lernen als Anpassung' hat, und nicht
vom Computerprogramm.

Hihi ;-) .

Du hast genau erfaßt worum es mir hier ging: Klar zu machen, daß es
sich um zwei unterschiedliche Sprachspiele handelt. Von einem
Computerprogramm erwarte ich, daß es "lernt" wie ich bin - ohne
hinterfragen - einfach nur an mich anpassen.

Von einem Menschen erwarte ich das schiere Gegenteil: "Lernen" ist
gerade die aktive Aneignung, die ohne Hinterfragen nicht auskommt. Na
ja zumindest ist das auch "Lernen".

Kurzschlüssig wäre jetzt eine Übertragung vom einen Sprachspiel in das
andere - in beide Richtungen übrigens.

Klar wird es vielleicht noch daran, wenn du deren Begriff "Lernen"
durch "Adaptieren" ersetzt. Trifft vielleicht besser was sie meinen,
ist aber im historischen Prozeß nicht so gefunden worden, hat sich
nicht durchgesetzt. Jedenfalls gäbe es dann schlicht keinen Grund
mehr, sich über das aufzuregen, was die Jungs und Mädels da machen -
oder?

Well, IMHO kritisierst du hier genau das, was ich für zwei
unterschiedliche Sprachspiele halten würde (Wittgenstein soweit ich
weiß - ist nun wirklich nicht mein Fach).

Nein, das ist nicht so. Wenn du das so einordnest, entledigst du
dich des Problems, dass ich hier aufwerfe.

Hmm... Ich denke nicht. Ich würde das Problem nur auf einer anderen
Ebene sehen schätze ich. Vielleicht ist es für mich wirklich mehr eine
Frage der Haltung, die ich im übrigen auch viel leichter kritisierbar
finde - oder eben auch nicht ganz postmodern.

Und das kann ungeheure
Energien freisetzen. Ich habe auch schon Leute aus der Psychologie
beobachtet, wie die sich tierische aufregen konnten, weil sich
Computer-Leute erdreisteten das Wort Kommunikation zu verwenden. Und
solche Anhänger verschiedener Sprachspiele können auch ewig aneinander
vorbeireden - klar.

Da ging die Diskussion ja los (hallo Sabine!). Dem "Streit"
entkommst Du weder durch Definitionen, noch durch Entledigung durch
Erklärung zum bloßen Sprachspiel.

Nein, nein, da ging es nicht los.

Sabine hat den Paradigmenwechsel angeführt. Der findet aber - wie sie
auch ausgeführt hat - _innerhalb_ eines Gegenstandsbereichs statt. Die
verschiedenen Sprachspiele finden aber in _voneinander getrennten_
Gegenstandsbereichen statt. Deswegen macht es auch überhaupt keinen
Sinn, sich da gegenseitig überzeugen zu wollen - die Themen und damit
die Begriffe sind einfach verschieden und wenn die Worte noch so
gleich sind.

Und auch sich aufregen macht auch nur Sinn, wenn du im gleichen
Sprachspiel bist. Dahin kannst du natürlich kommen, wenn du die Leute
dazu bringst, über die gesellschaftliche Relevanz zu reden, die eine
bestimmte Wortwahl hat. Aber darüber müssen die auch reden wollen.

...well, weiter unten sagst du ganz ähnliches - ich versteh's
vielleicht einfach nicht.

Ich denke, wir sind auch nicht so weit auseinander.

Hmm... In dieser Mail versuche ich mal meine Sicht der Dinge zu
entwickeln. Ich denke schon, daß die sich von deiner an fundamentalen
Stellen unterscheidet - weiß nicht. Schön wäre es, wenn wir
voneinander lernen könnten.

Aber jetzt geht's wirklich ans Eingemachte ;-) .

Das ist ja richtig beschrieben - aber doch kein Grund, heute
Wissenschaft nicht zu betreiben, nur weil diese vor 1000 Jahren
oder wieviel Jahrne nicht betrieben wurde?

ups. Dass Du das, was die Altvorderen so dachten,
unwissenschaftlich nennst, erstaunt mich dann doch. In deren
historisch-kontextuellen Wahrnehmung (in ihrem Paradigma) war
das sehr wohl wissenschaftlich.

Gemessen am modernen Wissenschaftsbegriff - denn der Begriff ist
selbst ein Produkt der Modernen genauso wie das Denken des
Menschens als Individuum - war das keine Wissenschaft. Aber das
ist unerheblich, denn natürlich gabs Erkenntnisse. Aus heutiger
Sicht relative Erkenntnisse in relativer Sichtweise. Das
Oberflächendenken gehört in diese Zeit, ein anderes Denken war
nicht möglich. Heute ist ein "Entwicklungsdenken in Widersprüchen"
(dialektisches Denken) möglich.

Sorry, aber diese historische Siegessicherheit und die resultierende
Arroganz nerven mich gewaltig: Ja, ja, was wir heute machen ist hehere
Wissenschaft.

?? Ich versteh nix mehr.

Ich dafür inzwischen um so mehr :-) . Ich kürze mal kräftig, weil ich
denke, daß du es gut auf den Punkt gebracht hast.

Es geht mir weder um Sieg, noch heher, noch
finde ich darin Arroganz. Ich schreibe von historisch bedingten
relativen Erkenntnissen. Das ist immer so.

Eben. Aber m.E. in einem noch weiteren Sinne als du das zumindest in
deinen Vormails getan hast. Hier nimmst du m.E. eine vorsichtigere
Position ein.

Früher gab es bestenfalls Erkenntnisse - so viel
gestehen wir früheren Zeiten ja zu - wir sind ja gar nicht so. Aber
wir haben's heute gut, weil wir die ersten sind, die sich mit etwas
anderem als seichter Oberflächenverdopplung befassen können. Wir sind
die, die den Dingen wirklich auf den Grund gehen können - alle vorher
waren ja zu schlicht zu blöd oder hatten vielleicht nur das Pech der
frühen Geburt.

Das ist doch keine "Eigenschaft" der heutigen oder damaligen
Menschen, sondern eine Frage der gesamtgesellschaftliche
geschaffenen Erkenntnis- und Denkmöglichkeiten.

Eben.

Das ist doch aber
keine neue Erkenntnis, das viele Begriffe etc. erst mit der
bürgerlichen Gesellschaft überhaupt auf die Welt kamen. Sabine
erwähnt z.B. den Subjektbegriff. Oder mein Beispiel des
dialektischen Denkens: Das war vor 1000 Jahren nicht drin.

Umgekehrt - und das übersiehst du m.E. - verschwanden aber auch
haufenweise Begriffe. Daß du davon heute nix mehr weißt, liegt in der
Natur der Sache.

Dabei ist egal, ob sie vor 1000 Jahren das, was an Erkenntnissen
drin war, auch "Wissenschaft" genannt haben (das weiss ich nicht).
Es war historisch bedingt eine relative Erkenntnis, wie die unsrige
heute auch eine historisch bedingte relative ist.

Ach ja? Warum hast du dann in der Vormail bei dem einen Wissenschaft
gelten lassen, beim anderen aber nicht? Und wenn du betonst, daß
Wissenschaft immer kritisch sein muß, dann legst du da nach meiner
Wahrnehmung eine (positive) Wertung in den Begriff. Na und dann
wertest du eben alles ab, was du nicht als Wissenschaft durchgehen
läßt.

Vielleicht geht dir auch einfach die Bezeichnung "Wissenschaft"
durcheinander und du meinst damit mal diesen und mal jenen Begriff.

Anyway. Das kam die Energie für meinen Zorn her und daß ich dich der
Arroganz zieh.

Mich tröstet nur eins: Genau das wird ein Stefan Meretz in hundert
Jahren über den Stefan Meretz von heute sagen...

Au ja, die Gelegenheit hätte ich gerne. Aber ernst: Es ist immer nur
das denkbar, was im historisch gegebenen Denkmöglichkeitsraum eben
drin ist. Und in hundert Jahren wird der beträchtlich größer sein,

Er wird eben _nicht_, _nicht_, _nicht_ größer sein. Er wird anders
sein - zweifellos. Aber nicht größer. Die Menschen in hundert Jahren
werden _massenhaft_ Sachen vergessen haben, die für uns heute
lebensentscheidend sind.

und wir werden heutige Erkenntnisse nicht nur abstrakt, sondern auch
konkret als "relativ" einordnen können.

Oder wir werden sie _gar nicht mehr_ einordnen können, weil wir nicht
in diesem Kontext leben, weil wir nicht die _Praxis_ der heutigen
Menschen haben.

Guck dir die Bildsprache mittelalterlicher Kunst an. Ich bin absolut
davon überzeugt, daß ein mittelalterlicher Mensch die Bilder von
Hieronymus Bosch z.B. verstanden hat. Wir stehen heute davor und
können uns mit Mühe vorstellen, _daß_ da massenhaft Symbolik drin ist
- verstehen tun wir sie nicht.

Was ist daran doof,
arrogant, peinlich, oder was?

Doof, arrogant, peinlich und siegesgewiß ist es, wenn du von dieser
Vergrößerung einfach ausgehst. Nein, es vergrößert sich nicht.

Es ändert sich, weil unsere Praxis sich ändert. Und nur unsere Praxis
im übrigen ist auch entscheidend dafür, welche Begriffe wir überhaupt
haben können, was wichtig für uns ist.

Doch noch ein Bogen zu unseren Kernthemen: Unsere Praxis im
ausgehenden Kapitalismus ist z.B. die Industrialisierung. Von dieser
Praxis gehen wir aus und entwickeln sie mit den im Rahmen der
mikroelektronischen Revolution neu entstehenden Begriffen weiter -
perspektivisch zu einer neuen Praxis.

Letztlich geht's dabei immer um die
Praxis: Werden wir handlungsfähiger oder nicht?

Du hast ja keine Ahnung, wie handlungs*un*fähig wir heute auf manchen,
im übrigen gar nicht so irrelevanten Gebieten so sind.

Wieso sollte ich das nicht wissen? Das bestätigt doch meine Kritik
am Zustand so mancher Wissenschaften, oder?

Ähm. Durcheinander.

Mein Punkt war, der im letzten Absatz schon angedeutete: Die Praxis
entscheidet, wo Handlungsfähigkeit überhaupt erst eine Rolle spielt.
Und die Praxis ändert sich historisch und damit der Bereich, wo wir
handlungsfähig überhaupt erst sein können.

Es kommt halt
schon sehr auf die Perspektive an und es kotzt mich an, wie du mit
deiner letzlich linearen Sicht der Geschichte den heutigen Zustand mal
eben zum Höchstmöglichen erklärst.

Mir ist unklar, wie du das rauslesen konntest.

Ist dir's jetzt klarer?

Das muss sehr
assoziativ gelaufen sein. Da hast Du mich missverstanden, das würde
mich auch aufregen.

Ich denke nicht.

Für mich hat jede Sorte Wissen(schaft) ihren Platz und ich muß nicht
hingehen und andere abwerten, weil sie etwas anderes für Wissen halten
als ich. Du magst mich jetzt postmodern schimpfen, aber für mich
gehört das zum je individuellen dazu.

Eine bestimmte Sorte Wissen(schaft) hat faktisch keinen Platz mehr,
und das halte ich für einen Menschheitsfortschritt.

Das kannst du nur sagen, wenn du immanent denkst. Für unsere _heutige_
Praxis ist das - mit unserem "über das Bestehende hinausdenken" - ein
Fortschritt. Für die Menschen vor hundert Jahren haben die Dinge
anders gelegen. Es ist eben je unsere Sicht der Dinge - ganz
individuell im Kollektiv ;-) . Historisch bedingt bis zum Abwinken und
irgendwann - hoffentlich - auch historisch überholt.

Im Rahmen der Menschheitsgeschichte ist das just another way to live.
Fortschritt ist das dann höchstens noch chronologisch.

Das bedeutet
nicht, dass alles 'falsch' war, aber vieles eben doch (natürlich
relativ), und vieles wurde aufgehoben und dadurch historisch auf
seinen Platz verwiesen.

Eine relative Falschheit macht m.E. in diesem Zusammenhang zumindest
schlicht keinen Sinn. Falsch und richtig kannst du nur im gleichen
Bezugsrahmen haben und genau der flutscht dir durch die
unterschiedliche historische Praxis weg.

Manch alte Erkenntnis funktioniert auch
weiterhin ganz gut - deswegen schrieb ich vom Praxiskriterium -
obwohl ihr relativer Gehalt bekannt ist (etwa Newtonsche im
Verhältnis zur Quanten-Physik).

Ja, weil manche Teilpraxis auch in historisch neuem Kontext
fortbesteht. So werden wir in der GPL-Gesellschaft sicher nicht jeden
nur denkbaren Gegenstandsbereich von vorne denken müssen - nur viele
;-) .

Deswegen stehen
wir heute wieder in einer globalen Umbruchsituation, für die uns
die Freie Software zeigt, wie man neu mit akkumuliertem Wissen
umgehen kann (muss), um global als Menschheit wieder
handlungsfähiger zu werden.

Eben nicht handlungsfähiger im Sinne eines wirklichen Zuwachses. Wir
werden (hoffentlich) z.B. verlernen mit Geld umzugehen, an der Börse
zu spekulieren, oder andere zum eigenen Vorteil zu hintergehen.

Das fände ich aber genau "einen wirklichen Zuwachs", und bin
ziemlich sicher, es würde uns auch handlungsfähiger machen.

Ist der Umgang mit Geld keine Handlung oder was? Ist die Fähigkeit
dazu keine Handlungsfähigkeit?


						Mit li(e)bertären Grüßen

						Stefan


----------------------
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