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Re: [ox] Alieniesierung freier Software



Hi Benni und alle,

ist zwar auch schon wieder länger her....

Benni Baermann schrieb:
"Alle Aliens, ..., spulen ein Programm ab, das strukturelle Gewalt
über 5 Stufen etabliert: Befreiung von der alltäglichen
widerkehrenden praktischen Arbeit; Kontrolle der
Arbeitsorganisation; Aufbau von Aussenkontakten; Warenform der
Arbeit; Überführung in Eigentum."

Hier wird ja oft die These vertreten, die GPL mache die FS sozusagen
imun gegen Verwertung (und da viele das für das Selbe wie
Alienisierung halten, eben auch gegen diese).

Immun ist zu weit gegriffen: die GPL entzieht der Verwertbarkeit eine
ganz entscheidende Bedingung, nämlich die Knappheit. Dass dem so ist,
sieht man auch an den ganzen Hilfskonstrukten, um die unknappe FS mit
einer anderen knappen Sache zu verbandeln, um sie in die Verwertung zu
bringen.

Im Folgenden überprüfe ich das mal anhand meiner Wahrnehmung der
Situation in der Szene:

1. "Befreiung von der alltäglichen wiederkehrenden praktischen
Arbeit"

Das tritt IMHO schon ein, wenn der "Maintainer" nur noch
Designentscheidungen trifft und nicht mehr oder nur noch wenig an
der konkreten Programmierarbeit beteiligt ist. Das lässt sich
sicherlich an vielen Projekten beobachten. Gerade bei den
erfolgreichen Projekten.

Wenn diverse notwendige Meta-Aufgaben von Leuten wahrgenommen werden
(und keinesfalls nur die tollen), spricht das für mich für die
Selbstorganisationsfähigkeit von Projekten.

2. "Kontrolle der Arbeitsorganisation"

Auch hier sind die meisten Projekte schon recht weit. Meistens sind
es nur wenige, die Organisatorisches Übernehmen. In manchen
Projekten werden die Organisatoren demokratisch legitimiert in
anderen diktatorisch bestimmt, was jedoch so oder so nichts an dem
alienisierenden Charakter ihrer Tätigkeit ändert.

Um es noch mal klar zu benennen: FS beruht _nicht_ auf demokratischen
Mechanismen. Die Ausnahmen bestätigen die Regel. Demokratie als
Regulationsform basiert auf Partialinteressen. Unter Bedingungen
tendenzieller Abwesenheit partialer Interessen, ist "Demokratie"
tendenziell nicht notwendig. Das "tendenziell" muss allerdings betont
werden - wir leben schliesslich nicht in einer GPL-Gesellschaft. Wenn Du
das alienisierend nennst, dann misst Du FS mit der Elle der
Partialinteressenlogik.

3. "Aufbau von Aussenkontakten"

Auch dieser ist schon sehr weit fortgeschritten. ESR hat ja seine
Tätigkeit sogar offen so beschrieben, dass er das übernimmt. In
seiner Schilderung ist das natürlich eine selbstlose Dienstleistung.
Aber auch Thorwalds oder RMS sind Beispiele für Epigonen, die von
aussen als identisch mit Projekten angesehen werden und für diese
Sprechen.

So what? Wir wissen doch nun alle, dass gerade diese drei (ESR, RMS,
Torvalds) unterschiedlicher nicht sein könnten. Im übrigen sprechen sie
nicht mehr für konkrete Projekte, sondern stets als prominente Vertreter
("leader") der FS schlechthin.

4. "Warenform der Arbeit"

1500 Programmierer arbeiten bei IBM im Linux-Umfeld. Red Hat
finanziert ganze Labore. Die Beispiele sind Legion. Dennoch ist
dieser Punkt derjenige, der erst noch im Entstehen ist. Noch immer
entsteht ein Grossteil der FS "just for fun".

Das sehe ich auch kritisch, und ich bin gespannt wie es weitergeht.
Schliesslich will IBM irgendwann Kohle sehen.

5. "Überführung in Eigentum"

Dieser Schritt ist der einzige von dem wir noch nichts gehört haben.
Wobei Netscape durchaus schon fast als ein (gescheiterter) Versuch
in dieser Richtung angesehen werden kann.

Da sei die GPL vor (nicht aber die anderen, schwächeren Lizenzen).

Wenn etwas dran ist an diesem Fünfschritt der Alienisierung
(Übrigens auch eine schöne Gegenüberstellung zum
Keimform-Fünfschritt) und tatsächlich schon 3 einhalb von 5
Schritten vollzogen sind, kann ich wieder mal den
Keimform-Enthusiasmus nicht so ganz nachvollziehen.

Wenn Du das als Gegenüberstellung zweier "Fünfschritte" ansiehst, dann
vergleichst Du Äpfel mit Bierdosen. Das fällt mir bei deinen Argumenten
ganz allgemein auf: Du argumentierst - wenn ich das mal so sagen darf -
im Wortsinne "idealistisch" gegen die Keimformhypothese. Die
Keimformhypothese ist aber nicht "ein gute Idee", mehr noch, sie ist
eigentlich gar keine Idee. Die These ist Resultat einer Analyse
materieller gesellschaftlicher Realität in ihrer Bewegung. Eine
Gegenargumentation müsste also diese Analyse als falsch, unzureichend
etc. kritisieren.

"Alienisierung" trifft die Hypothese erstmal nicht, sie betrifft die
Frage, ob denn aus der Keimform (angenommen, sie sei eine) denn auch mal
mehr wird, ob sie sich bis zum "Funktionswechsel" weiterentwickelt. Denn
das hat IMHO viel mit bewusstem Agieren innerhalb der Widersprüche zu
tun. - Und da habe ich auch so meine Bedenken.

Du argumentierst quasi rückwärts: Weil die Leute so schräg sind, wird
aus der FS nix. Und weil da nix draus wird, ist es auch keine Keimform.
Mein Argument, wenn du dich an meinen Vortrag erinnerst, war: Der
Keimformcharakter hängt nicht davon ab, ob da (jetzt) was draus wird.
Auch der Kapitalismus brauchte mehrere Anläufe. Die These ist deswegen
wichtig, weil nur eine Keimform überhaupt die Aufhebungsperspektive
beinhaltet und eben nicht irgendwelche vergeblichen Reparaturen. Und
zweitens auch deswegen, weil man mit der Keimformthese seinen Blick
schärft auf die gesellschaftlichen Prozesse generell (das hatte ich
erkenntnisleitende Funktion) genannt.

Ausserdem bestätigt mich das in meiner Meinung, dass eine reine
Wert-Betrachtung nicht ausreicht, sondern Alienisierung (und
Herrschaft) mehr ist als das. Die ersten drei Schritte haben
schliesslich garnichts mit Wert zu tun. Aber es zeigt auch, dass
vollständige und umfassende Alienisierung meist schon etwas mit Wert
zu tun hat.

Die ganze Kiste mit der Produktivkraftentwicklung, auf der ich gerne
rumreite, hat primär nichts mit einer Wertbetrachtung zu tun. Diese
Sichtweise kommt erst dazu, wenn es um den Kapitalismus geht - wer das
rauslässt, dem fehlt analytisch Entscheidendes. Ich bin auch gegen eine
blosse "Wertformkritik". Doch "Alienisierung" ist für mich ein
"literarischer" Begriff. Er beschreibt sehr schön, aber er erklärt
nichts.

Nochmal der Hinweis auf http://www.opentheory.org/keimformdiskurs, wo
ich mehr dazu schrieb.

Ciao,
Stefan

-- 
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