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Re: [ox] Alieniesierung freier Software



Hallo Stefan und der Rest!

On Mon, Jun 11, 2001 at 02:34:01PM [PHONE NUMBER REMOVED], Stefan Meretz wrote:
Hier wird ja oft die These vertreten, die GPL mache die FS sozusagen
imun gegen Verwertung (und da viele das für das Selbe wie
Alienisierung halten, eben auch gegen diese).

Immun ist zu weit gegriffen: die GPL entzieht der Verwertbarkeit eine
ganz entscheidende Bedingung, nämlich die Knappheit. Dass dem so ist,
sieht man auch an den ganzen Hilfskonstrukten, um die unknappe FS mit
einer anderen knappen Sache zu verbandeln, um sie in die Verwertung zu
bringen.

Ja, so macht es mehr Sinn. Aber wo ich grad so drüber nachdenke, fällt mir
auf, dass mir garnicht so genau klar ist, wieso eigentlich Knappheit eine
Bedingung für Verwertung sein soll. Natürlich vereinfacht Knappheit die
Verwertung ungemein, aber das muss ja nicht heissen, dass es ohne Knappheit
gar keine Verwertung geben kann, oder?

Im Folgenden überprüfe ich das mal anhand meiner Wahrnehmung der
Situation in der Szene:

1. "Befreiung von der alltäglichen wiederkehrenden praktischen
Arbeit"

Das tritt IMHO schon ein, wenn der "Maintainer" nur noch
Designentscheidungen trifft und nicht mehr oder nur noch wenig an
der konkreten Programmierarbeit beteiligt ist. Das lässt sich
sicherlich an vielen Projekten beobachten. Gerade bei den
erfolgreichen Projekten.

Wenn diverse notwendige Meta-Aufgaben von Leuten wahrgenommen werden
(und keinesfalls nur die tollen), spricht das für mich für die
Selbstorganisationsfähigkeit von Projekten.

Meta-Aufgaben können ja sehr wohl "alltägliche praktische Arbeit sein". Nur
noch Vorträge halten, ist es nicht.

2. "Kontrolle der Arbeitsorganisation"

Auch hier sind die meisten Projekte schon recht weit. Meistens sind
es nur wenige, die Organisatorisches Übernehmen. In manchen
Projekten werden die Organisatoren demokratisch legitimiert in
anderen diktatorisch bestimmt, was jedoch so oder so nichts an dem
alienisierenden Charakter ihrer Tätigkeit ändert.

Um es noch mal klar zu benennen: FS beruht _nicht_ auf demokratischen
Mechanismen. 

Das hat doch auch niemand behauptet. Da liegt ein Missverständnis vor. Das
Alienisierende an der Kontrolle ist nicht, dass sie undemokratisch ist,
sondern dass wenige entscheiden, wie andere arbeiten. Das passiert sehr
wohl. Theoretisch kann man dann zwar gehen oder selber ein Alternativprojekt
aufziehen, praktisch geht das aber meistens nicht wirklich. 

3. "Aufbau von Aussenkontakten"

Auch dieser ist schon sehr weit fortgeschritten. ESR hat ja seine
Tätigkeit sogar offen so beschrieben, dass er das übernimmt. In
seiner Schilderung ist das natürlich eine selbstlose Dienstleistung.
Aber auch Thorwalds oder RMS sind Beispiele für Epigonen, die von
aussen als identisch mit Projekten angesehen werden und für diese
Sprechen.

So what? Wir wissen doch nun alle, dass gerade diese drei (ESR, RMS,
Torvalds) unterschiedlicher nicht sein könnten. 

Na und, was sagt das darüber aus, dass sie und andere faktisch die
Aussenkontakte monopolisiert haben. Das liegt natürlich nicht so sehr an
ihnen (Ausnahme: ESR, der das aktiv anstrebt), sondern vielmehr an der
Medienstruktur, die gerne ein paar Vorzeigeköpfe sieht.

Das es da Fraktionen gibt, ist doch unter Aliens eine weit verbreitete
Tarnstrategie.

Im übrigen sprechen sie
nicht mehr für konkrete Projekte, sondern stets als prominente Vertreter
("leader") der FS schlechthin.

RMS spricht für GNU (und einige Subprojekte) und Thorvalds für Linux, beides
sehr konkrete Projekte. Wenn darüber hinaus diese Epigonen auch noch für
"FS" schlechthin sprechen, dann spricht das ja höchstens noch für eine noch
weiter fortgeschrittene Alienisierung. 

4. "Warenform der Arbeit"

1500 Programmierer arbeiten bei IBM im Linux-Umfeld. Red Hat
finanziert ganze Labore. Die Beispiele sind Legion. Dennoch ist
dieser Punkt derjenige, der erst noch im Entstehen ist. Noch immer
entsteht ein Grossteil der FS "just for fun".

Das sehe ich auch kritisch, und ich bin gespannt wie es weitergeht.
Schliesslich will IBM irgendwann Kohle sehen.

Interessant, dass Du erst da, wo es anfängt um Ökonomie im engeren Sinne zu
gehen, ein Problem siehst. Das "erkenntnisleitende" am Alienbegriff ist IMHO
aber gerade, das man den Blick im Vorfeld schärft. Aber dazu vielleicht
unten noch mehr.

5. "Überführung in Eigentum"

Dieser Schritt ist der einzige von dem wir noch nichts gehört haben.
Wobei Netscape durchaus schon fast als ein (gescheiterter) Versuch
in dieser Richtung angesehen werden kann.

Da sei die GPL vor (nicht aber die anderen, schwächeren Lizenzen).

Nur mal so nebenbei: Die GPL ist noch von keinem Gericht der Welt anerkannt
worden. Wenn die M$-Kapitalfraktion mal richtig zuschlägt, wer weiss,
vielleicht teilt dann die GPL ruckzuck das Schicksal von Napster? Allerdings
erwarte ich in diesem Fall schon ziemlich heftige Auseinandersetzungen.

Wenn etwas dran ist an diesem Fünfschritt der Alienisierung
(Übrigens auch eine schöne Gegenüberstellung zum
Keimform-Fünfschritt) und tatsächlich schon 3 einhalb von 5
Schritten vollzogen sind, kann ich wieder mal den
Keimform-Enthusiasmus nicht so ganz nachvollziehen.

Wenn Du das als Gegenüberstellung zweier "Fünfschritte" ansiehst, dann
vergleichst Du Äpfel mit Bierdosen. 

Ja. Schön ist es trotzdem :-)

Das fällt mir bei deinen Argumenten
ganz allgemein auf: Du argumentierst - wenn ich das mal so sagen darf -
im Wortsinne "idealistisch" gegen die Keimformhypothese. 

Das mag durchaus sein. Meine Haltung zu Idealismus vs. Materialismus hab ich
ja letztens versucht hier zu erklären. 

Die
Keimformhypothese ist aber nicht "ein gute Idee", mehr noch, sie ist
eigentlich gar keine Idee. Die These ist Resultat einer Analyse
materieller gesellschaftlicher Realität in ihrer Bewegung. Eine
Gegenargumentation müsste also diese Analyse als falsch, unzureichend
etc. kritisieren.

Das find ich irgendwie ziemlich dünn, wenn man eure These nur zu euren
Spielregeln kritisieren darf. 

Das könnt ihr natürlich gerne so halten, nur hat das dann mit offener
Diskussion nix zu tun. Dazu gehört eben auch, das man sich auf das Terrain
des Gegners begibt.

"Alienisierung" trifft die Hypothese erstmal nicht, sie betrifft die
Frage, ob denn aus der Keimform (angenommen, sie sei eine) denn auch mal
mehr wird, ob sie sich bis zum "Funktionswechsel" weiterentwickelt.

Ja, das ist doch aber auch eine wichtige Frage, oder? Ich denke auch nicht,
dass man diese beiden Fragen so sauber trennen kann. Das heisst, man kann es
schon, nur bringt das nix. Was hab ich von vielen schönen bunten Keimformen,
wenn sie eh alle zum Scheitern verurteilt sind.

Denn
das hat IMHO viel mit bewusstem Agieren innerhalb der Widersprüche zu
tun. - Und da habe ich auch so meine Bedenken.

Siehst Du. Darum geht es doch gerade. Und ich finde, da bringt der
Alienbegriff mehr als der Keimformbegriff, wenn ich anfange mir anzugucken,
was denn jetzt konkret passiert.

Die ganze Kiste mit der Produktivkraftentwicklung, auf der ich gerne
rumreite, hat primär nichts mit einer Wertbetrachtung zu tun. Diese
Sichtweise kommt erst dazu, wenn es um den Kapitalismus geht - wer das
rauslässt, dem fehlt analytisch Entscheidendes. Ich bin auch gegen eine
blosse "Wertformkritik". Doch "Alienisierung" ist für mich ein
"literarischer" Begriff. Er beschreibt sehr schön, aber er erklärt
nichts.

Natürlich ist es ein literarischer Begriff, aber das ist die "Keimform"
auch. Sonst sind wir ja ruckzuck wieder beim unterbügeln von Theorien, die
einem nicht in den Kram passen, weil sie nicht "wissenschaftlich" genug
sind. Das hatten wir schon bei Marx und Engels und brauchen wir wohl nicht
wieder, oder?

Ausserdem finde ich, wie gesagt, dass der Alienbegriff eben gerade Sachen
ins Blickfeld rückt, die Dir entgehen. Meine Mail war vor allem dazu gedacht
um das mal exemplarisch auszuprobieren.

Nochmal der Hinweis auf http://www.opentheory.org/keimformdiskurs, wo
ich mehr dazu schrieb.

Hab ich gelesen und verstanden (behaupte ich mal ganz frech). 

Grüße, Benni

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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