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Re: [ox] Konferenz-Beitrag: Von der Waren- zur Wissensgesellschaft




Hi Stefan!

Stefan Merten schrieb am Sun, 08 Jul 2001 

... aber den Kurzschluß zwischen Information, Wissen und gar
Kompetenz würde ich nicht teilen.

Was einem nicht alles so unterstellt wird! Ist wirklich der Eindruck
entstanden, dass ich diese Mode mitgegangen bin?

Kompetenz ... steht jeder Gesellschaft gut zu Gesicht

Für mich ist Kompetenz _zunächst_ mal etwas individuelles, die
individuell gebrochene Aneignung eines (je anderen) Teils des
gesellschaftlich verfügbaren Wissens. Erst auf diesem Weg wird Wissen
zu (gesellschaftlich) verfügbarem Wissen. Ob auch Gesellschaft eine
Kompetenz haben kann ist eine andere Frage. Von der spreche ich
jedenfalls in den Thesen nicht.

... soziale Kompetenz ... Für diese Sorte Kompetenz spielt
Information aber nur eine untergeordnete Rolle. Hier sind Dinge wie
eine gute Wahrnehmung, Erfahrung im Umgang mit Menschen,
Moderationsfähigkeiten, etc. viel wichtigere Größen.

Kompetenz im o.g. Sinne speist sich in meinem Verständnis immer aus
wenigstens 3 Quellen: dem individuellen Erfahrungshorizont in seiner
historischen Dimension, dem bereits sozialisierten, also
gesellschaftlich verfügbaren, Wissen anderer und eigener aktueller
praktischer Erfahrung. Natürlich von Situation zu Situation in sehr
unterschiedlichem Mix. Um mal den vagen Begriff der Information außen
vor zu lassen ...

Information - und damit meine ich etwas vom Menschen losgelöstes -
spielt tatsächlich eine immer wichtigere Rolle. Einfach weil sie in
unserer Technik eine immer wichtigere Rolle spielt.

Da wäre erst mal der Informationsbegriff zu schärfen. Die Informatik
(und nicht nur diese) spricht in dem Zusammenhang immer von Syntax,
Semantik und Pragmatik. Und Semantik und besonders Pragmatik kann ich
mir "vom Menschen losgelöst" nicht vorstellen. Wir sind bei der
entscheidenden Frage: Computer als Automat (mit vom Menschen als
Gattung losgelöstem Innenleben) oder Computer als Werkzeug. Ersteres
ist die Kybernetikeuphorie der 60er Jahre - aber wehe, wenn der Besen
dann wirklich seine eigenen Wege geht! Seit Weizenbaum ist eigentlich
nur noch zweiteres State of the Art, auch wenn das längst noch nicht
bis in die praktische Politik durch ist. Aber über Kernkraftwerke wird
dort ja auch noch diskutiert. Will ich nicht weiter ausführen; dazu
steht genug beim von mir stets ins Feld geführten Paper von
Fuchs-Kittowski.

... daß eine Wissensgesellschaft schon immer existiert, daß es
geradezu sinnlos ist von einer menschlichen Gesellschaft zu
sprechen, die keine Wissensgesellschaft ist, weil Wissen ein
entscheidender Faktor für menschliche Gesellschaft überhaupt ist.

Nun, das bestreite ich auch gar nicht. Ich behaupte: Wissen wird zum
_bestimmenden_, _dominierenden_ Faktor in der gesellschaftlichen
Sozialisation (was eg. Rifkin ähnlich zu sehen scheint). Diese
Verschiebung zu untersuchen ist Gegenstand meiner Thesen. 

reflektorische Leistungen. Ich sehe nicht, warum das keine Arbeit im
Sinne zweckgerichteter Tätigkeit sein kann. Der Zweck ist vielleicht
nur global angebbar und nicht auf ein Produkt runterzubrechen, an der
allgemeinsten Zweckgerichtetheit wissenschaftlicher Arbeit -
Erkenntnisgewinn - ändert das m.E. aber nichts.

Zweck steht hier im Sinne des Marxschen Ansatzes, dass das Ergebnis
bereits vor Beginn der Produktion virtuell im Kopf des Arbeiters
vorliegt. Das ist in der Wissenschaft in der Regel nicht so. Dazu mal
einige Zitate aus
http://www.forschung-und-lehre.de/archiv/05-01/fischer.html

  "Forschung ist der Schritt ins Unbekannte, und die dabei vom
  Einzelnen oder von der Gruppe angewandten Vorgehensweisen variieren
  und ergänzen sich dabei je nach Erfordernis, Begabung und
  Temperament. Forscher sind Manager, Ingenieure, Sammler,
  Haarspalter, Glasperlenspieler oder Künstler. Forschen ist Tasten im
  Nebel, intuitives Erahnen, Vermessen einer unbekannten Landschaft,
  Sammeln und Ordnen von Daten, Finden neuer Signale, Aufspüren
  übergeordneter Zusammenhänge und Muster, Erkennen neuer
  Korrelationen, Entwickeln mathematischer Modelle, Entwickeln der
  jeweils benötigten Begriffe und Symbolsprachen, Entwickeln und Bauen
  neuer Geräte, Suche nach einfachen Lösungen und nach Harmonie. Es
  ist aber auch Bestätigen, Sicherstellen, Erweitern, Verallgemeinern
  und Reproduzieren".

  ...

  Leider setzt die gegenwärtige Hochschulpolitik fast gänzlich auf die
  Karte der Zielforschung: durch öffentliche Mittel geförderte
  Forschung soll "relevant" und "nützlich" sein, sie soll auf die
  "Bedürfnisse der Gesellschaft" und der Ökonomie reagieren. Diese
  Vorstellung verkennt völlig den eigendynamischen Charakter der
  Wissensproduktion an der Basis der Forschung.

  Offenbar sitzt die Einstellung, nur durch strenge Kontrollen könne
  man erfolgreich zielorientiert forschen, bei Politikern wie
  Kaufleuten sehr tief. Und leider trifft diese Einstellung zunehmend
  auch die Grundlagenforschung - wobei zu beachten ist, daß es keine
  scharfe Grenze zwischen anwendungsorientierter und
  grundlagenorientierter Forschung gibt. Es handelt sich nicht um zwei
  getrennte Welten, sondern um ein Kontinuum, bei dem nur die Extreme
  unversöhnbar erscheinen - insbesondere, was den Zeithorizont, die
  Breite des Zugangs, das Risiko und die Vorhersagbarkeit betrifft.

  Viele große Entdeckungen, vermutlich die meisten, waren das Ergebnis
  einer nicht auf spezielle Anwendungen ausgerichteten
  Grundlagenforschung, aber wie hier geschahen diese Entdeckungen auch
  in der angewandten Forschung oft gewissermaßen nebenbei, in
  Verfolgung ganz anderer Ziele.  Auch die großen Erfindungen der
  Technik - Druckerpresse, Dampfmaschine, Dynamo, Telefon, Otto- und
  Dieselmotor, Flugzeug, Braunsche Röhre, Transistor, Computer, Laser,
  Holographie - erfolgten im Windschatten anderer Entwicklungen und
  Ereignisse, die von den Zeitgenossen als viel wichtiger wahrgenommen
  wurden - nicht in Verfolgung ausgetretener Wege, sondern
  verschlungener Nebenpfade.

  Der größte Nutzen von Wissenschaft und Forschung ist nicht selten
  jener, den man nicht bewußt angestrebt hat, sondern der sich aus
  neuen Perspektiven ergibt, die sich zum Zeitpunkt der laufenden
  Forschung noch nicht erschlossen hatten. Wäre man durch
  zielorientierte, an den gesellschaftlichen Bedürfnissen
  ausgerichtete Forschung je auf einen der kühnen theoretischen
  Entwürfe gekommen, die nicht nur unser gegenwärtiges
  wissenschaftliches Weltbild bestimmen, sondern von denen Technik und
  Ökonomie heute leben?

Ich bin nicht sicher, ob ich dich hier verstehe, aber sind die
"Wissenstools" - ich vermute du redest von Software? - nicht eben nur
eine neue Form von Mitteln? Zugegeben eine qualitativ neue, aber
dennoch Mittel der Menschen zur Auseinandersetzung mit der Natur.

Ja, aber sie stehen in einem speziellen Verhältnis zu den alten
Mitteln (und übrigens auch zu Menschen, insofern sie im Fabriksystem
als "Zahnrad im Getriebe", d.h. als Substitut solcher Mittel in
Erscheinung treten), welches analytisch nur zu fassen ist, wenn nicht
alles in einen Topf geworfen wird.

Ich habe etwas Schwierigkeiten mit dem Begriff "unmittelbar
produktiv". 

Das ist im Sinne der "Grundrisse" von Marx gemeint, dass eine
Verschiebung zu verzeichnen ist hin zu Verhältnissen, wo 

  die Schöpfung des wirklichen Reichtums abhängt weniger von der
  Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit als von der Macht der
  Agentien, die während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden und
  die selbst wieder [...] in keinem Verhältnis steht zur unmittelbaren
  Arbeitszeit, die ihre Produktion kostet, sondern vielmehr abhängt
  vom allgemeinen Stand der Wissenschaft und dem Fortschritt der
  Technologie.

Mehr dazu etwa in
http://www.informatik.uni-leipzig.de/~graebe/projekte/infopapers/awi2.html

individuelle Kompetenz ... Ich will's mal auf Konkretes
runterbrechen: Die Beherrschung eines Word-Processors z.B. Das ist
aber auch ziemlich unterschiedslos abstrakt wie die pure
Muskelkraft, von der du scheinbar redest.

Ich glaube kaum, dass Du heute jemand mit Word-2000-Kenntnissen
beeindrucken kannst. Selbst bei einer Sekretärin wird das schlichtweg
vorausgesetzt. Aber gute Perl-Programmierer (oder Köche - um mal
wieder aus einer ganz anderen Ecke zu kommen) haben schon eine sehr
spezielle individuelle Kompetenz, die sich nicht in einem halbjährigen
ABM-Kurs mal schnell aufbauen lässt. Insofern braucht man wohl doch
eher deren Kompetenz als (obwohl natürlich auch) deren Arbeitskraft.
Wobei das beim Koch vielleicht noch nicht ganz so extrem ist (auch
wenn ich da wieder mal wie der Blinde von den Farben rede) - aber es
dürfte schon ein Unterschied sein, ob der Koch oder ich das
Mittagessen koche - vom vorgehaltenen Werkzeug mal ganz abgesehen; das
kann man sich heute zur Not ausleihen. 

So, das mag für heute genügen. Schon wieder 180 Zeilen :-(

-- 
Mit freundlichen Gruessen, Hans-Gert Graebe

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     |  PD Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig |
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Organisation: projekt oekonux.de


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