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Re: [ox] Konferenz-Beitrag: Von der Waren- zur Wissensgesellschaft



Hi Stefan Mn und alle!

Information - und damit meine ich etwas vom Menschen losgelöstes
- spielt tatsächlich eine immer wichtigere Rolle. Einfach weil
sie in unserer Technik eine immer wichtigere Rolle spielt.

Da wäre erst mal der Informationsbegriff zu schärfen. Die
Informatik (und nicht nur diese) spricht in dem Zusammenhang immer
von Syntax, Semantik und Pragmatik.

Hah! Sehr gute Idee, das mal zu nehmen!

Und Semantik und besonders Pragmatik kann ich mir "vom Menschen
losgelöst" nicht vorstellen.

Ja! Das, was ich mit Information meine, ist wohl das, was gemeinhin
als Syntax bezeichnet wird. Computer sind ja gerade Syntaxmaschinen.

Syntax, Semantik und Pragmatik sind nach meinem Verständnis drei
_Aspekte_ von Information, die man nicht so einfach, wie Du das hier
vor hast, trennen kann. Wir können natürlich darüber reden, wie ein
Computer die Bits verarbeitet. Und über die 4 Schichten, die im
OSI-Modell noch unter der Syntax liegen.  Aber das wäre hier wohl off
topic.  Interessanter sind schon die (von Menschen gemachten) Regeln
dieser Verarbeitung, die (auch für Menschen spürbaren) Konsequenzen
des Anwendens dieser Regeln usw.  Buchberger spricht, m.E. sehr zu
Recht, bei einem in maschinenverarbeitbaren Code gegossenen
Algorithmus von 'trivialisierter Information'.
 
... daß eine Wissensgesellschaft schon immer existiert, daß es
geradezu sinnlos ist von einer menschlichen Gesellschaft zu
sprechen, die keine Wissensgesellschaft ist, weil Wissen ein
entscheidender Faktor für menschliche Gesellschaft überhaupt ist.

Nun, das bestreite ich auch gar nicht. Ich behaupte: Wissen wird zum
_bestimmenden_, _dominierenden_ Faktor in der gesellschaftlichen
Sozialisation (was eg. Rifkin ähnlich zu sehen scheint).

Nun, wenn - siehe den Teilthread mit Casimir - die Wissensmenge sich
nicht wesentlich verändert hat, dann wäre...

Diese These halte ich, mit Verlaub, für solchen Schrott, dass ich
darauf nicht eingehe. Sie hält keiner Diskussion, die sich auf einen
einigermaßen soliden Wissensbegriff stützt, stand. Die Parallelen sind
höchstens, dass wir immer noch - wie Newton - "auf den Schultern von
Giganten stehen". 
 
Diese Verschiebung zu untersuchen ist Gegenstand meiner Thesen.

...die Untersuchung vor allem darauf zu richten, was jetzt an Dominanz
verliert - oder?

Nicht _vor allem_, sondern _auch_. M.E. ist es ein großes Defizit der
Diskussion, dass sie sich zu wenig um eine fundierte Prognose der
Strukturen des Neuen bemüht, die über ein Schlagwort wie "Keimform"
hinausreicht.  Ansonsten steht meine Antwort auf die Frage, was jetzt
an Dominanz verliert, ja schon im Titel des Textes.

reflektorische Leistungen. Ich sehe nicht, warum das keine Arbeit im
Sinne zweckgerichteter Tätigkeit sein kann. Der Zweck ist vielleicht
nur global angebbar und nicht auf ein Produkt runterzubrechen, an der
allgemeinsten Zweckgerichtetheit wissenschaftlicher Arbeit -
Erkenntnisgewinn - ändert das m.E. aber nichts.

Zweck steht hier im Sinne des Marxschen Ansatzes, dass das Ergebnis
bereits vor Beginn der Produktion virtuell im Kopf des Arbeiters
vorliegt.

Wenn das Ergebnis (nur - HGG) Erkenntnisgewinn ist, dann...

... wirst Du keinen Käufer am Markt finden, der Dir so was abnimmt.
Höchstens, wenn Du ein schönes Patent drauf hast usw.
Erkenntnisgewinn ist keine Basis für planbare Tätigkeit (jenseits der
Hoffnung, dass genügend Denken schon immer mal was Vermarktbares
abwerfen wird - aber das wird keinem marktwirtschaftlichen Akteur als
kreditwürdiges 'Geschäftsmodell' durchgehen).  

Wissenschaft kannst Du nur dort planen, wo der Rahmen schon grob
abgesteckt ist und die Details nur noch Fleißarbeit verlangen.  Wo
also Wissenschaft bereits "zur unmittelbaren Produktivkraft" geworden
ist, denn genau so stell(t)en sich das die Verfechter dieser These
vor: die herum liegenden Kenntnisse nehmen und anwenden und - voila.
(Übrigens, wie ich neulich in einem Aufsatz las, doch auch schon Marx
in seinen "Grundrissen", dem Bd. 42, den ich leider nicht besitze, um
ab uns zu mal drin zu schmökern.) Das ist aber nur ein sehr
bescheidener Teil von Wissenschaft.

Ich habe etwas Schwierigkeiten mit dem Begriff "unmittelbar
produktiv". 

Das ist im Sinne der "Grundrisse" von Marx gemeint, dass eine
Verschiebung zu verzeichnen ist hin zu Verhältnissen, wo 

  die Schöpfung des wirklichen Reichtums abhängt weniger von der
  Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit als von der Macht der
  Agentien, die während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden und
  die selbst wieder [...] in keinem Verhältnis steht zur unmittelbaren
  Arbeitszeit, die ihre Produktion kostet, sondern vielmehr abhängt
  vom allgemeinen Stand der Wissenschaft und dem Fortschritt der
  Technologie.

Daraus ersehe ich immer noch nicht, was "unmittelbar produktiv" sein
soll. Hier ist von "unmittelbarer Arbeitszeit, die ihre Produktion
kostet" die Rede.

Siehe oben. Das Assemblieren von Ideen jenseits von Kreativität ist
genauso wenig - oder viel - produktiv wie das Assemblieren von
materiellen Produkten. Natürlich ist nicht alles so eindimensional
entweder - oder.

Kreativität kannst Du aber nicht mit einem Zeitmaß messen. Ein guter
Perl-Programmierer schreibt gute Perl-Programme, weil er ein 'Fuchs'
ist (also die 'Macht der Agentien' beherrscht). Und da ist sein
Arbeitgeber schon mal großzügig, wenn es um seine Arbeits_zeit_ geht,
also wenn er "unmittelbar produktiv" werden soll und die Programme für
die Firma schreiben und nicht irgend solchen Oekonux-Kram. Aber
vielleicht sehe ich das alles auch falsch, denn ich sitze ja auf einer
Stelle, wo mir so was sogar von Staats wegen gestattet ist.

Ich glaube kaum, dass Du heute jemand mit Word-2000-Kenntnissen
beeindrucken kannst. Selbst bei einer Sekretärin wird das schlichtweg
vorausgesetzt. Aber gute Perl-Programmierer (oder Köche - um mal
wieder aus einer ganz anderen Ecke zu kommen) haben schon eine sehr
spezielle individuelle Kompetenz, die sich nicht in einem halbjährigen
ABM-Kurs mal schnell aufbauen lässt.

Aber das gilt für die FacharbeiterIn auch, für die ihre Muskelkraft
wichtige Voraussetzung für ihre Arbeit ist.

Nun, Muskelkraft spielt heute keine so zentrale Rolle mehr. Aber die
FacharbeiterIn (selbst z.B. die FriseurIn - komisch, die hießen früher
Friseusen) haben daneben einen speziellen Schatz an persönlichen
Tricks und Erfahrungen gesammelt, der auch nicht von Pappe ist und in
diesem Kontext wesentlich relevanter.  Z.B.  kommt was qualitativ
deutlich besseres raus, wenn ein Fliesenleger meine Küche in Arbeit
hat als wenn ich es "mir selbst mache" (und geht auch schneller).
Kompetenz ist also was sehr Individuelles, aber nichts Spezielles für
Informationsarbeiter (es gibt ja sogar die Meinung, dass letztere auf
dem Weg zu einer neuen 'Klasse' seien), sondern überall wichtig. Sie
tritt m.E. heute stärker in Erscheinung als noch vor Jahren (in dem
Sinne, dass sich 'Inkompetenz' schwerer kaschieren lässt) und führt zu
einer Verwischung der Grenze zwischen geistiger und körperlicher
Arbeit.  Allerdings nicht so, wie sich das die Altvorderen wohl
vorstellten.

Insofern habe ich mit Franz Nahradas Ansatz auch so meine
Bauchschmerzen, wenn er schreibt (Posting von smerten oekonux.de at
Wed, 18 Jul 2001)

   Wie es in jedem Haushalt Werkzeugkästen gibt, jedes größere Haus
   seinen Hausverwalter mit handwerklicher Ausstattung, jeder
   landwirtschaftliche Betrieb Werkstatteinrichtungen zur Wartung der
   Gerätschaft hat, so sind für jede Routine des Alltags übergreifende
   Werkstätten sinnvoll, die die Entwicklung dieser Routine mit
   Anpassungen, Prototypen und Kleinserien unterstützen. Dies ist ein
   Wesensmerkmal globaler Dörfer und dem "Trend der Verwertung der
   kleinsten Lebensregung" direkt entgegengesetzt. Solche Werkstätten
   genossenschaftlich zu organisieren, ist mehr als naheliegend.

So sehr ich diesen Gedanken begrüße, sich dem "Trend der Verwertung
der kleinsten Lebensregung" direkt entgegen zu setzen, so blendet er
doch etwas die Frage aus, dass das Wissen nicht nur in einem globalen
Netzwerk lokal verfügbar, sondern dass es vor Ort 'lebendig' sein
muss, d.h. an Kompetenzen (Wissen) von Einzelpersonen anschlussfähig.
Die Werkstätten genossenschaftlich zu organisieren kann nicht nur
bedeuten, die materielle Basis zu pflegen, sondern auch die ideelle.
Es kann eben nicht jede(r) alles, auch nicht potenziell!

-- 
Mit freundlichen Gruessen, Hans-Gert Graebe

      -----------------------------------------------------------
     |  PD Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig |
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Organisation: projekt oekonux.de


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