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Re: [ox] Re: Gewalt



Hi Casimir & alle,

Casimir Purzelbaum schrieb gestern:
Vor lauter
Relativismus bin ich jetzt völlig durcheinander gekommen:
 1) wenn es also Gewalt in der Natur (ohne Menschen) gibt,
betrifft das dann nur die von Dir aufgezählte belebte Natur oder
auch die unbelebte? -- was empfindet wohl ein Planet, der von
irgendwoher mit Meteoriten beworfen wird? --

Dass das Opfer die Gewalt als solche auffasst, halte ich wie gesagt
für keine notwendige Bedingung, um von Gewalt zu sprechen.  Die Frage,
ob unbelebte Natur auch etwas empfinden kann, ist ohnehin esoterisch...
(d.h. Esoteriker behaupten das, aber es gibt keine Hinweise dafür..)

Auf der "Täterseite" spielt die unbelebte Natur jedenfalls eine Rolle (s.u.).


 2) Ist es schon Gewalt, wenn ich jemanden dazu überrede oder
dazu verführe, etwas zu tun oder gutzuheißen, was er andernfalls
nicht tun bzw. gutheißen würde? -- worunter wird dann eigentlich
"Aufklärung" eingeordnet? -- oder Unterricht und Erziehung usw. --

Gewalt ist etwas, das dem Opfer schadet.  "Aufklärung" (in beiden
Bedeutungen), Unterricht und Erziehung _nützen_ den Empfängern i.d.R.
(ausser es handelt sich um "Verdummung" -- in dem Fall kann man durchaus
von Gewalt sprechen).


Zur Frage, warum das alles (trotz der skurilen Beispiele) in
meiner humblen Opinion "on topic" ist, fallen mir neben der
Raubkopie (== Gewalt oder nicht?) noch zwei Bezüge aus früheren
Diskussionen ein, die offenbar nicht ganz bis zu Ende
ausdiskutiert worden waren... ;-(
 - Ist es Gewalt gegenüber kommerziellen SW-Herstellern, ihnen
die Möglichkeit des Broterwerbs durch Herstellen von
kommerzieller SW zu nehmen (indem man zuläßt oder unterstützt,
daß sich kostenlose Konkurrenzprodukte entwickeln)?

Diese Frage hatte ich in einem früheren Beitrag schon mit Ja beantwortet
("so gesehen ist _jede_ Kauf-/Nichtkauf-Entscheidung ein Akt der Gewalt
 (gegen die jeweils nicht berücksichtigten Hersteller)")


 - Handelt es sich um _Verknappung_, wenn die GPL vorschreibt, daß
freie Produkte nicht unfrei weiterentwickelt werden dürfen?

M.E. ja.  (Verknappung bezieht sich zwar i.d.R. auf die Anzahl Exemplare
derselben Information, aber hier werden halt Algorithmen und Programmierer-
zeit verknappt auf der "Opferseite" (kommerzielle Hersteller).  Die Nutzen-
seite dürfte allerdings überwiegen...)
Aber die GPL-Fachleute können das sicher besser beantworten.


Im Moment bin ich erstens der Ansicht, daß Gewalt nur bewußt
bzw. absichtlich ausgeübt werden kann. Die Natur fällt da raus,
da sie kein Bewußtsein hat. Wenn man von "den Naturgewalten"
spricht, dann überträgt man menschliche Eigenschaften auf die
Natur, was legitim ist soweit es dem Verständnis hilft, was man
aber auch nicht zu ernst nehmen darf.  Die Meteoriten fallen
damit also erstmal ins Wasser, was ihre Kandidatur für
Gewaltausübung betrifft.-- Aber ebenso die Pilze,
fleischfressenden Pflanzen, Haie und auch die Löwen. Was macht
aber ein Löwe, der ein Gnu verfolgt, dann? Ich bin mir nicht
sicher, wie ich das nennen soll, aber bei einem aufprallenden
Stein weiß ich das auch nicht so genau. Entscheidend ist für mich
aber erstmal, daß der Löwe das Gnu nicht mit dem Ziel reißt, es
von dem abzuhalten, was es gerade tut, sondern um sich davon zu
ernähren. Bei Gewalt ist das meistens andersrum, oder zumindest
miteinander verbunden, oder?

Gewalt in der Natur hat eine evolutionäre Funktion:

Individuen und Gruppen, die sich den Naturgewalten (bzw. ihrer Gefahr)
aus Leichtsinn oder Unfähigkeit (einen sichereren Platz zu ergattern)
aussetzen, werden "gewalt-sam" aus dem Genpool entfernt.
Ein Bewusstsein seitens des "Täters" innerhalb der unbelebten Natur
(Lawine, Erdrutsch, Erdbeben, Vulkan etc.) ist nicht erforderlich, weil
die _belebte_ Natur darüber entscheidet, wer Opfer der Naturgewalt wird.
(Meteoriten bilden insofern eine Ausnahme, als sie echt zufällig
 zuschlagen; weil aber die allermeisten M. schon in der Atmosphäre
 verglühen, sind sie als Individual-"Täter" statistisch vernachlässigbar).

Pilze, Pflanzen (untereinander!), Haie und Löwen sind Opportunisten, die
dort zuschlagen, wo sich ein Opfer "anbietet".  Mit dem reissen des Gnus
ernährt sich die Löwin nicht nur, sondern sie übt eine nicht-zufällige
Selektionsfunktion aus -- ob bewusst oder un(ter)bewusst/instinktiv,
spielt für das Resultat keine Rolle.


Zweitens muß, was das Opfer der Gewalt betrifft, dies nicht
unbedingt bewußtseinsbegabt sein.

Genau: wie ich bereits im letzten Posting sagte, muss sich das Opfer
der Gewalt nicht als solcher bewusst sein.


Wenn aber ein Opfer mit
Bewußtsein/Empfindsamkeit etwas nicht als Gewalt
erkennt/empfindet [oder wenn es etwas unbewußt als Nicht-Gewalt
erkennt/empfindet], dann handelt es sich auch nicht um Gewalt
(unabhängig von der Intention des 'Täters'). -- so zum Beispiel
beim Sport, oder beim Zahnarzt,

Es handelt sich dort um Gewalt, wo das Opfer geschädigt wird --
egal ob das Opfer das als Gewalt empfindet oder nicht (denn
Wunschdenken ändert die Realität nicht; Selbstbetrug ist übrigens
eine Form der Selbstviktimisierung).

Beim Zahnarzt richtet sich die "Gewalt" des Bohrers vorweg nicht
gegen den Patient, sondern gegen die Karies.  Allerdings wäre
es oberflächlich, zu glauben, dass Zahnärzte ihre Patienten
nicht schädigen:  Betäubungsspritzen und Röntgen sind ungesund; der
Bohrer schädigt auch gesundes Zahngewebe; Zahnplomben geben jahrelang
giftige Stoffe ab (Quecksilber, Palladium etc.); dentale Eingriffe
ermöglichen gesundheitsschädliche tote Zähne; etc. -- daher ist die
Angst beim Zahnarzt nicht unbegründet...  (Die Viktimisierung beginnt
allerdings schon lange vorher, durch die Zuckerindustrie etc. -- der
Zahnarzt re-viktimisiert also "bloss" ein vorgeschädigtes Opfer.)


oder eben in der Religion: sind
Yogi, chinesische Mönche und Hexen, die selbst daran glauben, es
sei besser, wenn sie verbrannt würden, -- sind sie in dieser
Beziehung so verschieden?

Wie ich bereits das letzte Mal sagte, ist Religion ein klassisches
Beispiel von struktureller Gewalt.  Mittels der Religion werden die
Leute dazu überredet, ihre Schädigung zu "wollen" (Beispiel auch:
Ablasshandel).  Das ändert aber nichts daran, dass es eine Schädigung
ist.  (Die "selbst-gewollte" Schädigung ist die "höchste Vollendung"
der Viktimisierung. -- vgl. Stephen Biko: "The most powerful tool in
the hand of the oppressor is the mind of the oppressed.")   Und
manchmal ist diese Schädigung eben tödlich, nach dem Motto:
"Wer daran glaubt, muss dran glauben."  (Bei den Kreuzzügen mussten
auch die dran glauben, die nicht daran glaubten...)  ;-}}

(Die Hexen bringst Du übrigens völlig durcheinander mit Märtyrern:
 Märtyrer waren Christen, die sich von Nicht-Christen freiwillig
 umbringen liessen, weil sie sich davon einen Logen-Platz im Himmel
 versprachen (bzw. liessen).  Hexen hingegen waren das Gegenteil
 davon: sie waren (meist) Nicht-Christen, die sich von Christen
 höchst UNfreiwillig fangen, foltern und verbrennen liessen, nachdem
 sie von Gegnern/Konkurrenten bei der Inquisition denunziert wurden.)


Im Falle derer,
die sich dem System aber freiwillig unterordnen,

Wer ordnet sich *freiwillig* einem System unter, das ihm schadet ?
(zum "überreden" siehe oben... also wieder strukturelle Gewalt!)


                                                 kann man
höchstens von Opfern *potentieller* Gewalt, oder von der *Androhung*
von Gewalt sprechen. Nicht von Gewalt selbst, also auch nicht von
struktureller Gewalt.

Doch, klar.  Ein Gesetz, das irgendwas verbietet unter *Androhung* von
Strafe, ist auch strukturelle Gewalt.  Denn es hindert die Leute ja an
ihrer Entfaltung.


Auch wenn sicherlich List und Tücke,
Demagogie und Bedrohung immer dazugehören, Untertanen
(willfährig) zu machen, so handelt es sich doch nur bei denen,
die sich auflehnen und deshalb zu leiden haben, um einen
gewaltsamen strukturellen Zwang.

Warum sollen _nur_ die darunter leiden, die sich dagegen auflehnen ?
Den Schaden aus dem Zwang haben die sich-nicht-auflehnenden Untertanen
allemal.  Das ist ja der Zweck des Zwanges...  (Natürlich versuchen die
Unterdrücker, den Untertanen einzureden, sie hätten es gut -- damit sich
nicht so viele auflehnen...)  Für Beispiele muss man gar nicht zurück
ins Mittelalter gehen -- schau Dir bloss mal die EU an...


Freiwillige Unterordnung unter die Normen einer Struktur darf
nicht mit Gewalt in Verbindung gebracht werden. Vielmehr müssen
wir uns hier dessen bewußt sein, daß es eben noch andere
Möglichkeiten des Zwangs und der Übertölpelung
usw. gibt. Eingeschränkte Entfaltungsmöglichkeiten sind also noch
lange kein Indiz für Gewalt. Aus der Zugehörigkeit zu einer
Struktur ergibt sich schon von allein, daß die Beliebigkeit der
Bewegung eingeschränkt ist im Vergleich zum Zustande der
Nichtzugehörigkeit (welcher in aller Regel nur hypotetisch
möglich ist): egal ob das einen Kegelverein,

Der Kegelverein ist ein schlechtes Beispiel, weil die Mitgliedschaft
darin ja freiwillig ist, wodurch ansich keine Gewalt im Spiel ist(*).
Ausserdem treten einem Kegelverein nur Leute bei, bei denen Kegeln
ein _Teil_ ihrer Entfaltung ist.  Die Definition bezieht sich aber auf
_Einschränkungen_ der Entfaltung, trifft also auf diese Leute genau
_nicht_ zu.  Falls hingegen jemand, der sich beim Kegeln nicht entfalten
kann, zur Mitgliedschaft gezwungen würde, dann wäre auch der Kegelverein
strukturelle Gewalt (aber auch nur für die Gezwungenen).

(*) Genauer betrachtet könnte man aber sogar den Kegelverein als ein
Beispiel struktureller Gewalt bezeichnen, denn er gehört eigentlich
(wie die Glotze) zur "Ablenkungs-Industrie", hält also die Leute davon
ab, sich mit den Problemen der Gesellschaft kritisch auseinanderzusetzen
und auf fundamentale Änderungen (z.B. GPL-Gesellschaft!) hinzuwirken.
Mentales "Abschalten" statt Aufrütteln...


  einen Bienenstaat
oder eine chemische Verbindung betrifft. Es liegt einfach im
Wesen der Struktur. Und deshalb hat die einfache Einschränkung
einer hypothetischen Beliebigkeit nichts mit Gewalt zu tun.

Können sich Bienen in einem Bienenstaat _als_Bienen_ entfalten ?
Die meisten wohl schon...  also ist's _für_die_ keine strukturelle
Gewalt.  Jene hingegen, die's nicht können, müssen sterben --> Gewalt.

Können sich Atome in einer chemischen Verbindung _als_Atome_ entfalten ?
Klaro...  also keine strukturelle Gewalt (dem Atom entsteht ja auch
keinerlei Schaden).  Das hat in dem Zusammenhang ja auch niemand behauptet:
Der Begriff "strukturelle Gewalt" heisst _nicht_, dass _jede_ Struktur
gewaltsam ist, sondern bezeichnet Gewalt, die _strukturell_ (=via eine
Struktur) ausgeübt wird.

Viel Spaß,
Christoph


________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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