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Re: Re(2): [ox] Re: Was ist Medienfeudalismus?



Es waere etwa denkbar, dass Nationalstaaten oder Supranationalstaaten a la
EU eine Art Haertetest durchlaufen und daraus erneut gestaerkt
hervorgehen.  Schliesslich brauchen auch jene grossen Organisationen den
Staat zur Durchsetzung zahlreicher Belange.

Zunehmend weniger.

Wenn sich Unternehmen(skonglomerate) in der Lage sehen, vermittels
Technologien Kontrolle (DVD, DRMS etc.) auszuüben, vermittels
Datensammlungen Verhalten vorherzusagen und zu steuern
(Registrierungsinformationen für Software usw. vor der
"Freischaltung") und vermittels Medien, Meinungen zu bilden, und das
alles nicht nur bei ein paar Personen, sondern bei zig-Millionen,
unabhängig von nationalstaatlichen Grenzen (man denke an
AOL/TimeWarner und andere Medienkonglomerate), dann kann sich schon
der Eindruck einstellen, daß Macht in der Größenordnung eines Staates
(oder größer) ausgeübt wird - ohne Staat jedoch.

Der Staat wird dann eigentlich nur noch benötigt, um die notwendigen
Gesetze für die Wirksamkeit der Technologien und die Durchsetzung von
Vorbeuge- und Strafmaßnahmen gegen die "Vermeidung" der Technologien
zu gewährleisten. Aber bald auch letzteres nicht mehr, wenn z.B. der
UCITA in den USA zur Etablierung von Software mit integrierten
"self-help"-Mechanismen führt. Bei Mißfallen des Softwareherstellers
darüber, was mit der Software gemacht wird, wird diese dann einfach
"per Fernbedienung" abgeschaltet. Ohne, daß der Staat dazu noch einen
Beitrag leisten muß.

D.h. es wird fuer diesen Teilbereich nicht einmal mehr ein
Nachtwaechterstaat benoetigt.

Anderseits gibt es ja noch immer jede Menge Probleme ausserhalb des
Informationsmarktes jener Medienimperien.  Wenn solche Imperien weniger
als bisher Staaten als Handlanger benoetigen, entfaellt damit ja nicht
insgesamt der Bedarf nach Gewaltmonopolen oder nach der Vollstreckung
eines irgendwie gebildeten kollektiven Willens.

Es kann natuerlich sein, dass ein Weltstaat langsam entsteht und sich
dessen Entstehen in dem Masse beschleunigt, wie die Nationalstaaten
versagen.  Anzeichen dafuer gibt es:  bei zahlreichen Problemen fuehlen
sich Regierungsorgane in Berlin (und erst recht in Rom oder Athen)
ueberfordert und begegnen grossen privaten Organisationen mit
Minderwertigkeitskomplexen, denen sich nur durch politischen
Zusammenschluss, einschliesslich Zusammenschluss mit Buergerinitiativen,
zu begegnen ist. Aber diese Aussage konnte ich den zitierten Texten bisher
nicht entnehmen.

Kurz zusammengefasst:  der Informationelle/Virtuelle Feudalismus entsteht
unabhaengig von Rechtschutzsystemen aber bedient sich ihrer.

Eine Unabhängigkeit sehe ich da nicht. Da es im Kern immer um die Kontrolle
von Informationen und ihrer Flüssen geht, kommt den Rechtsschutzsystemen eine
Schlüsselrolle zu.

Das scheint der obigen Aussage zu widersprechen, wonach alleine mit
informatischen Mitteln die gelieferten Programme fuer den Lieferanten
beherrschbar werden und somit die Notwendigkeit staatlicher Unterstuetzung
entfaellt oder sich auf Unterstuetzung beim Vorgehen gegen Hacker
beschraenkt

Das Urheberrecht an Programmen
ist hingegen ein seltener Gluecksfall.

In Kombination mit dem Binärvertrieb von proprietärer, urheberrechtlich
geschützter Software, führt aber z.B. das Verbot des Reverse Engineering und
der "Reparatur" eventueller Schwachstellen dazu, daß man mit unsicherer,
unzuverlässiger Software zu leben hat. (Falls es keine vergleichbaren
Alternativen im Bereich freie/Open Source Software gibt.)

Auch hier wuerde ich sagen, dass der Binaervertrieb mit dem Urheberrecht
wenig zu tun hat.  Im Gegenteil macht erst das Urheberrecht einen Vertrieb
in Form von proprietaerem Quelltext, wie bei Qtlib z.T. praktiziert,
moeglich.  Entfaellt das Urheberrecht, so bleiben nur die ueblichen
informatischen Hilfsmittel, darunter auch der Binaervertrieb.

Und wie es mit Kontrollmechanismen in Abhängigkeitsverhältnissen immer
ist:  Die Art und Weise ihres Gebrauchs entscheidet letztlich, ob man
von Glücksfall oder Unglücksfall sprechen kann. Und diese Bewertung
hängt ihrerseits wieder von der Perspektive des Urteilenden und seinen
Erfahrungen ab.

Mit "Gluecksfall" wollte ich keine Aussage ueber die Wuenschbarkeit des
Urheberrechts fuer die Gesellschaft treffen.  Es ging nur darum,
festzustellen, dass das Urheberrecht tatsaechlich zum Nutzen der
Software-Urheber greifen kann, waehrend es etwa Datenbank-Erstellern kaum
etwas bringt.  Das fuehrt natuerlich auch zu einer Fehlsteuerung:  es
entstehen fuer jede Art von Software 50 verschiedene proprietaere Systeme
(z.B. fuer ERP), aber fuer kaum einen Bereich des Wissens ein brauchbares
digitales Fachwoerterbuch.

Hier geht es eigentlich nicht um das Urheberrecht sondern um die
Foerderung von verwertungsgerecht entwerteten Informationstraegern durch
allerlei Strafsanktionen.  Ob auf diesen Waren Urheberrechte oder
Patentrechte oder Datenbankrechte oder gar keine Rechte liegen ist egal:
in jedem Falle ist die Beihilfe zur Aufwertung der entwerteten Ware
strafbar, weil sie die muehsam ermoeglichte Verwertung vereitelt.

Das ist zwar richtig; aber es ging eigentlich um die Akteure: _Wer_
entscheidet darüber, welche Gesetze (Regeln) in der Gesellschaft gelten
sollen?

Wenn private Organisationen über den Prozeß der Gesetzgebung verfügen können
(wie es Jessica Litman darstellt), dann wandert die "Souveränität" faktisch
zu diesen privaten Organisationen und gleichzeitig weg von Staat bzw. den
Bürgern, die ja oft als Souverän definiert sind. Genau das ist ein
Charakteristikum für Feudalismus, wenn die faktische Souveränität
-aufgespalten- nicht bei dem liegt, was wir als Staat bezeichnen. "L'etat,
c'est moi!" könnte zu neuen Ehren gelangen.

Die Phaenomene sind zu beobachten, aber nichts zwingt uns dazu, den
Informationsverwertern die Macht zu uebergeben.  Dass dies bisher
geschehen ist, haengt auch stark mit ueberkommenen Glaubenssaetzen zu tun,
die in der Zeit des Papiers einigermassen funktionierten und nun das
Denken der Masse noch bestimmen.  Die braucht etwas laenger, um
umzudenken.

Klar duerfte sein, dass

- bei Informationsguetern tendenziell an die Stelle des Marktes eine
  aus polaren Zweierbeziehungen beruhende feudalistische Pyramide tritt

Eben nicht nur an die Stelle des Marktes und nicht nur bei
Informationsgütern. Auch andere soziale Funktionen, die bisher vom Staat
definiert, verwaltet und gewährleistet wurden, gehen an private
Organisationen über.

Man denke z.B. an die Frage des Namens-/Markenrechts. Im Internet
übernimmt die Schiedsgerichtsbarkeit der ICANN die Rolle der Justiz
und die ICANN selbst die der Exekutive.

Oder man denke an die zunehmende Privatisierung im Bildungssektor. Wer
entscheidet da über die "Bildungsstandards"? Nicht mehr der Staat in
der Regel. Es gibt viele weitere Beispiele.

In der Tat gibt es seit ca 20 Jahren eine staerkere Privatisierungswelle
und die Tendenz, alles irgendwie zur Ware zu machen.  Das hat in hohem
Masse mit einem Glaubwuerdigkeitsverlust der Politik zu tun.  Vor allem
auch der sozial und sozialistisch orientierten Politik und des
Korporativismus etc, welcher nicht etwa der Emanzipation und der
kollektiven Vernunft zum Durchbruch verholfen hat sondern einen
Selbstbedienungsladen der Gruppenegoismen produzierte, der alles laehmte,
und aus dem man nun mithilfe externer Kraefte wie z.B. privater Imperien
ausbrechen musste.

- ein Beduerfnis danach besteht, den informellen
  Interessensicherungsmechanismen weitere auf Rechtsschutz basierende
  hinzuzufuegen

... und technische "Interessensicherungsmechanismen".

- Rechtsschutz nicht die Ursache des Feudalismus ist und je nach
  Ausgestaltung ihn verschaerfen oder vielleicht auch abschwaechen kann

Wenn aber die Ausgestaltung ihrerseits bereits in privater Hand liegt (und in
der Geschichte des Urheberrechts lag sie das zum überwiegenden Teil schon
immer, jedenfalls was die materiellen Rechte anging), dann wird sich die
Waage zugunsten der privaten Interessen neigen. Zu einer Abschwächung wird es
daher m.E. wenig Ambitionen geben.

Es gibt wohl keinen zwingenden Grund, warum die Ausgestaltung in privater
Hand liegen muss.  Auch der "Medienfeudalismus" ist nicht so maechtig,
dass er das erzwingen wuerde.

- Rechtsschutz im digitalen Bereich haeufig nur unter aeusserst
  unausgewogenen Bedingungen zu haben ist

Was sich aus dem vorangehend Gesagten ergibt.

- selbst die idiotischsten Formen des Rechtsschutzes, wie Swpat, eine
  maechtige Lobby finden.  Je idiotischer desto groesser der Reiz.

Das hat mit Idiotie nichts, aber auch gar nichts zu tun. Die rationalen
wirtschaftlichen Interessen bilden die Ursache, nicht etwa die Idiotie der
Interessenten.

Idiotie kann manchmal starke Macht entfalten.

Im vorliegenden Falle hatten wir es mit Fehlsteuerungen in einem Staat im
Staate, dem Patentwesen und seinen Veraestelungen in Wirtschaft und
Politik, zu tun.  Man kann auch von einer Bewegung sprechen, die ihre
eigenen Glaubenssaetze und Rituale entwickelt hat.  Vergleichbar waere das
mit der Kernkraftlobby, aber das Patentwesen ist viel tiefer verwurzelt
und viel maechtiger.

Innerhalb der Patentbewegung war das Wissen um die Grenzen der
Patentierbarkeit, den Begriff der technischen Erfindung usw noch nie stark
verbreitet.  Euer BMWi-Gutachten legt dafuer uebrigens ein gutes Zeugnis
ab.  A. Horns kann knallhart desinformieren, weil kaum Widerspruch zu
erwarten ist.  Es fehlt innerhalb des Patentwesens erstens an Leuten, die
in diesem Thema belesen sind und widersprechen koennen, und zweitens an
der Motivation, zu widersprechen.  Hinzu kommt ein gewisser
"Realitaetssinn". Die Aufblaehung des Patentwesens ist, solange sie nicht
zum Knall fuehrt, fuer alle Beteiligten viel bequemer, und gegen
bequemes anzukaempfen mag "muessig" oder Don-Qixote-maessig erscheinen.

Dieser "Realitaetssinn" hat auch nicht etwas viel damit zu tun, ob Siemens
davon profitiert.  Heinrich v. Pierer merkt allenfalls, dass die
Patentabteilung dem Unternehmen unter dem Strich Profit bringt, und laesst
sie darauf hin gewaehren.  Was sie dann unternimmt, hat viel mit der
Dynamik der Patentbewegung und wenig mit den Interessen von Siemens zu
tun.  Mehrere Projektleiter von Siemens-Grossprojekten haben mir das mehr
oder weniger ausfuehrlich erklaert.  Ein Telekommunikationsmensch stoehnte
in etwa:  "Diese Patentiererei bremst uns ungemein.  Wir brauchen solche
Absicherungen ueberhaupt nicht, sie halten nur auf, und wir muessen
dauernd mit irgendwelchen sogenannten Erfindern um irgendwelchen
Kleckerkram verhandeln.  Aber Siemens ist ein konservatives Unternehmen,
das normalerweise keine eigenen politischen Standpunkte entwickelt und in
diesen Dingen sowieso der Patentabteilung das Sagen laesst."

Im Ergebnis foerdert das Patentwesen einen Konzentrationsprozess zugunsten
privater Imperien, und das mag auch ein Grund sein, warum die Inhaber
grosser Patentportfolios die Patentbewegung gerne gewaehren lassen,
solange es nicht knallt und solange nicht die Bilanz ins Negative
umschlaegt, etwa weil die Zahl der Wadenbeisser ueberhand nimmt und die
Verbitterung der Projektleiter unueberhoerbar und vor allem in den
Bilanzen unuebersehbar wird.  Dann koennte das ganze mit einem Schlag
kippen und man wuerde vielleicht sogar unsere Argumente entdecken.  Aber
mit Rationalitaet haette auch das wenig zu tun.

Aus einer anderen, gesamtgesellschaftlichen Warte mag das unerfreulich sein,
aber das ändert nichts an den Ursachen.

Allenfalls läßt sich von ökonomischer Kurzsichtigkeit sprechen, aber auch die
ist nicht irrational: Kurzfristige Gewinnen verlocken mehr als Langfristige,
wenn der Shareholder-Value davon abhängt.

Fuer die Musikmedienhersteller haengt der Umsatz tatsaechlich davon ab, ob
die Musik kuenftig nach wie vor bei ihnen oder eher bei Napster spielt.
Man kann dann ihnen versuchen entgegenzuhalten, das sei kurzfristig
gedacht, aber wer weiss schon, welche langfristigen Plaene mit diesem
kurzfristigen Loecherstopfen noch verbunden sind.  Der Zusammenhang
zwischen Napster & Co und den Geschaeftsergebnissen der naechsten Jahre
ist jedenfalls einleuchtend, und die konstruktiven Alternativen, welche
Napster fuer die Ernaehrung von Musikern usw zu bieten hat, sind nicht
allzu ueberzeugend.

Das Entfallen von Swpat bedroht hingegen niemanden ausser einigen
Patentanwaelten.  Dass Swpat dennoch eine so starke Lobby hinter sich
haben, liegt an der weitreichenden Verankerung der Patentbewegung
(Institutionen und Ideologie) in unserem Gemeinwesen.

Andererseits kann der weitere Vormarsch von Swpat die Machtstellung der
Privatimperien weiter zuspitzen und damit vielleicht auch zu einem
Wendepunkt im oeffentlichen Bewusstsein fuehren, fuer den allerdings viel
von der heutigen freie Software als Bauernopfer faellig werden koennte.

- freie Software eines der Fenster darstellt, welche man bisher oeffnen,
  konnte, wenn die Luft zu stickig wurde
- die Nationalstaaten wenig getan haben, um ihre ureigene Rolle
  des Foerderers von Infrastrukturen wahrzunehmen und oft sogar in
  den Sog informations-feudalistischer Kraefte geraten
- die Nationalstaaten einem erneuten Haertetest ausgesetzt sind, den
  sie bisher nicht bestanden haben

Könnte man so sehen.

Daß allerdings Staaten die Aufgabe haben, Infrastruktur zu fördern,
ist eine relativ junge Auffassung, die eigentlich erst mit der
Herausbildung der Nationalstaaten -und damit der Aufgabe der
Herstellung einer "Nation" mit relativ homogenem Charakter- entstand
und zu ihrer Blüte mit der Industrialisierung kam. Der Wirkungsbereich
dieser Auffassung war von Land zu Land sehr unterschiedlich groß und
hing eigentlich davon ab, welcher Stellenwert der Praxis einer
"Nationalökonomie" (gerade auch ggü. anderen Nationen als
Konkurrenten) zugemessen wurde.

Wenn statt Nationalökonomie zunehmend privatwirtschaftliche "Empires"
zum Leitbild -und zur Praxis- werden, dann werden diese die Aufgabe
übernehmen, Infrastruktur -gemäß ihren Interessen- herzustellen. Man
denke an Hardware-Vernetzung und Software-Vernetzung mit je
proprietären Standards.  (Ein klassisches historisches Beispiel für
solch ein privates Empire war die "East India Company".)

Das scheint ja zu zeigen, dass die Macht der Privatimperien schon mal
weiter ging als heute.

Viele Gruesse

--
Hartmut Pilch                                      http://phm.ffii.org/
Schutz der Innovation vor der Patentinflation:   http://swpat.ffii.org/
85000 Stimmen gegen Logikpatente:            http://www.noepatents.org/

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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