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Re: [ox] Produktivkraftniveau und Selbstentfaltung



Hi Benni,

jetzt bist du mal an der Reihe, uns Stefans zu verwechseln (ich war der
mit Kritischen Psychologie), aber sei's drum;-)

Benni Bärmann wrote:

> On Mon, Sep 24, 2001 at 11:54:14PM [PHONE NUMBER REMOVED], Stefan Merten wrote:
>
>>Wir *brauchen* schließlich das
>>vorhandene gesellschaftliche Produktivkraftniveau um darauf aufzubauen
>>bzw. es selbstenfalterisch umzubauen.
>
> Dazu erstmal eine Frage: Wie ist das mit der Selbstentfaltung, wie sie in
> der kritischen Psychologie "gelehrt" wird. Braucht es da irgendein
> Produktivkraftniveau oder ist es nicht eher so, dass das schon im Menschsein > an sich angelegt ist? So hatte ich das zumindestens bei meiner Lektüre von > dem Kram letztens verstanden. Gibt es da Texte, die sich speziell mit dieser
> Frage beschäftigen?

Selbstentfaltung ist kein originärer Begriff aus der Kritischen
Psychologie, aber IMHO dennoch inhaltlich voll kompatibel. Ich habe das
mal so übersetzt. Der Begriff heisst dort eigentlich "verallgemeinerte
Handlungsfähigkeit". Er taucht dort mit seinem Kumpel, der "restriktiven
Handlungsfähigkeit" auf. Übersetzt dann "Selbstentfaltung mit den
Anderen" versus "Durchsetzung auf Kosten anderer".

Dieses Begriffspaar "restriktive vs. verallgemeinerte
Handlungsfähigkeit" ist auch nicht deskriptiv gemeint, sondern
analytisch. Es handelt sich also nicht um Schubladen, in Leute
reingepackt werden, sondern um eine "begriffliche Brille", mit der man
auf Situationen guckt.

Deswegen hat das auch erstmal nichts mit einem bestimmten
Produktivkraft-Niveau zu tun - stimmt. Es gibt da das schöne Zitat von
Holzkamp (das ich auf der Ox-Konferenz auf einem Plakat hatte) mit Bezug
auf Marx, dass nicht "Arbeit" das erste Lebensbedürfnis sein, sondern
Handlungsfähigkeit. Ganz generell.

"Handlungsfähigkeit" ist _die_ zentrale Kategorie der Kritischen
Psychologie. Davon handeln folglich viele Texte. Am gründlichsten wird
das in der "Grundlegung der Psychologie" entwickelt auf schlappen 580
Seiten. Ein geniales Buch, aber sehr wissenschaftlicher Sprachduktus.

Ich habe vergessen, was ich dir letztens empfahl, aber zum Reinlesen
eignet sich eine Tonbandabschrift eines Vortrages von Klaus Holzkamp
kurz, nach dem er die "Grundlegung..." veröffentlicht hatte ("Der Mensch
als Subjekt wissenschaftlicher Methodik"). Die findest Du unter
http://www.kritische-psychologie.de/kh1983a.htm bzw. als RTF-Datei unter
http://www.kritische-psychologie.de/zip/kh1983a.zip. Das Wort
"Selbstentfaltung" wirst du da drin aber nicht finden.

> Was ja aber wohl zumindestens die Keimform-Theorie ist, so wie ich das
> bisher verstanden habe: Die Gesellschaft entwickelt sich dahin, dass
> Selbstentfaltung selbst zur notwendigen Produktivkraft wird und das ist die
> Basis auf der man für den Umbau aufbauen kann.

Ja. Nicht nur "aufbauen", sondern im Alten geht's nicht und produziert
nur noch Stress und Terror. IMHO. Spricht nicht gegen Anfangen.

> Ich würd es also eher so sehen, dass man zu jedem historischen Zeitpunkt und
> an jedem Ort die Gesellschaft auf Selbstentfaltung umbauen kann, dass es
> aber zu unserem Zeit/Ort-punkt sinnvoll ist, dazu die schon in der
> Produktivkraftentwicklung angelegten selbstentfalterischen Tendenzen zu
> nutzen.

Das sehe ich ähnlich, sprich: nicht ganz so. Bestimmte
Entwicklungsschritte waren - von heute aus gesehen - einfach notwendig.
Das heisst aber nicht, das es so kommen musste, vielleicht wäre es auch
anders gegangen. Ist aber nicht. Von daher finde ich es ein wenig
müssig, die Frage zu entscheiden, ob Selbstentfaltung als
Vergesellschaftungsprinzip auch anderenzeits möglich gewesen wäre.
Individuell gab es das sowieso immer wieder mal.

Viel wichtiger finde ich festzuhalten, dass man die Handlungsfähigkeit
auch unterhalb der Änderung des Vergesellschaftungsprinzips erweitern
kann. Das hast du so ähnlich anderenmails geschrieben. Alles oder nichts
macht wirklich ohnmächtig (allerdings würde ich das nicht gegen Krisis
wenden, ich hoffe da noch).

Ciao,
Stefan

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