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Re: [ox] On Conflict and Consensus



Hi Stefan and List,

hätte ich den Text vor 15 Jahren gelesen, hätte ich ihn wahrscheinlich
auch als neu und spannend empfunden. Er liest sich auch so, als ob er
mindestens so alt ist. Heute ist das - mehr oder weniger - Standard in
Organisationen oder Firmen, die sich irgendwie mit sozialen Prozessen in
ihren Läden beschäftigen. Ich kenne das jedenfalls aus meiner Praxis bei
(ex-)HBV sehr gut - dort gab eine ziemlich durchgängige Nutzung all dieser und neuerer Techniken ("lernende Organisationen" etc. pp.). Den unteren Teil habe ich mir dann auch geschenkt, weil es da wirklich nur noch um Handwerkliches ging.

Heute finde ich den Text nicht mehr so spannend. Mir ist nicht klar, in
welcher Weise ihn du als alternativ zur FK setzt. Ich habe dich
jedenfalls so verstanden: Die FK produziert "Krieg", dabei gibt es doch
Konsens-Verfahren - so etwa?

Meine Beobachtung ist: Solche Verfahren retten die jeweiligen
Kooperationen ggf. vor dem Absaufen oder Zusammenbrechen (habe ich live
in über zweijähriger Arbeit, ja Arbeit, in meiner Abteilung erlebt); die
tägliche Arbeit wird gut unterstützt; mit einem bestimmten Toolset in
der Hand klappen bestimmte Prozesse einfach besser. Unbestritten.

Aber sie klappen nicht wirklich gut. Meine These ist: Sie klappen nur
weniger schlecht. Damit sind wir oft schon ganz zufrieden: Wenn die
Leute das, was sie tun sollen, damit weniger widerwillig und weniger
"unkooperativ" auch tun, werden die Moderatoren (so hiessen sie bei
HBV), die das Glück (die Technik) bringen, sehr verehrt.

Mein Problem ist aber das "sollen". Das wird nicht hinterfragt. Von der
Konsensmethode nicht und von der FK eigentlich nur formal (keine
sakrosankten Regeln - immerhin, finde ich nämlich richtig).

Viele (nicht alle) deiner Kritikpunkte zur "Freien Kooperation" treffen IMHO eher oder stärker auf das Konsensverfahren zu. Mal so aus dem Kopf, was mir von der Diskussion in Berlin im Kopf hängen blieb:
- es ist formal (heisst ja auch so) und sieht vollständig von Inhalt ab
- es hat das isolierte bürgerliche Individuum zur Grundlage
- es ist ein Schönwetterverfahren, was aber, wenn es kracht
- was ist, wenn die Herrschenden, die Tools nutzen (und das tun sie)

Es ist besser als demokratische Mehrheitsverfahren, und in der Beschreibung stehen viele sehr sinnvolle Dinge. Aber das "Sollen" als ganz grundlegendes Problem kommt nicht vor.

Ein paar rausgepickte Punkte:

> Autocracy can work, but the idea of a benevolent dictator is just a
> dream. We believe that it is inherently better to involve every person
> who is affected by the decision in the decisionmaking process.

Interessanterweise wird ja für die FS oft von "gütigem Diktator"
gesprochen. Und der steht dort ja überhaupt nicht im Gegensatz zum
Einbringen eines jeden in den Prozess.

Das können wir mit Selbstentfaltung inzwischen viel besser denken: nicht
"Diktator" vs. "Beteiligung" als formalem Gegensatz, sondern Entfaltung
eines jeden Einzelnen - unabhängig von der Position.

> In joining a group, one accepts a personal responsibility to behave
> with respect, good will, and honesty. Each one is expected to
> recognize that the group's needs have a certain priority over the
> desires of the individual. Many people participate in group work in a
> very egocentric way. It is important to accept the shared
> responsibility for helping to find solutions to other's concerns.

Das ist so ein ähnlicher Punkt. Wieso sollen die Gruppenbedürfnisse
Priorität gegenüber den Wünschen des Einzelnen haben? Das ist eine
Soll-Forderung, ein moralisches Apriori letztlich (wovon ich bekanntlich
Ausschlag bekomme;-)), was auf dem Denken basiert: wenn der Einzelne
sich zu wichtig nimmt (egocentric way), dann geht das auf Kosten der
Gruppe. Das ist eine unbesehene Übernahme des Partialinteressen-Settings
(Sich-behaupten geht nur auf Kosten anderer), dass die
Verwertungsgesellschaft als "unsichtbares Drittes" setzt.

Dass Selbstentfaltung geradezu das Gegenteil bedeutet, dass in einem
Setting, in dem die Entfaltung des Einzelnen die Vorausetzung für die
Entfaltung aller ist, der "egozentrische Weg" der Königweg ist, ist
damit nicht denkbar.

Unsere Schwierigkeit und Herausforderung besteht doch darin, wie wir
damit umgehen, dass wir immerhin mit dem Begriff Selbstentfaltung die
andere Dynamik denken können, aber das "Setting" in dieser Gesellschaft allgemein ja keineswegs günstige Voraussetzungen schafft wie teilweise eben in der FS.

> Because of personal differences (experience, assertiveness, social
> conditioning, access to information, etc.) and political disparities,
> some people inevitably have more effective power than others. To
> balance this inequity, everyone needs to consciously attempt to
> creatively share power, skills, and information. Avoid hierarchical
> structures that allow some individuals to assume undemocratic power
> over others. Egalitarian and accountable structures promote universal
> access to power.

Mal abgesehen davon, dass dieser Abschnitt auch wieder sehr moralisch
argumentiert, fällt mir auf, dass im Englischen der Begriff "power"
weniger negativ besetzt ist wie im Deutschen der Begriff "Macht". Das
ist ja eine von Bennis Kritikpunkten: die begriffliche Vermischung von
Herrschaft und Macht. Power hat mehr die Bedeutung von "Handlungsmacht".

> The individual is responsible for expressing concerns; the group is
> responsible for resolving them. The group decides whether a concern is
> legitimate; the individual decides whether to block or stand aside.

Die Gruppe hat IMHO kein bisschen das Recht (ich meine nicht das
"bürgerliche" - Himmel, gibt's da keinen anderen Begriff?), über die
Legitimität je meiner Angelegenheiten zu entscheiden. Das tue ich schon
selbst. Und auch für die Lösung ist sie nicht "verantwortlich" im Sinne
von "zuständig". Das kommt inhaltlich auf die "Angelegenheit" an, sowas
lässt sich nicht formal als Regel formulieren. Im übrigen erinnert
mich der letzte Halbsatz an Regel 2 aus der FK - nur das hier nicht
enthalten ist, wie das Individuum mit dem Blocken oder Beiseitestehen
(kein Rausgehen?) Einfluss auf den Prozess nimmt.

In deinem Vorwort schreibst du:
> BTW: Das Dumme an Konsensverfahren ist, daß sie nur bedingt erklärt
> werden können. Du mußt einfach spüren, daß ein gelingendes
> Konsensverfahren etwas anderes mit dir macht, als z.B. ein
> demokratischer Prozeß. So gesehen: Eine entsprechende Kultur zu
> etablieren, wäre m.E. Gebot der Stunde.

Ich stimme dir zu, denke jedoch, dass die "Kultur" nicht etwas ist, was man "etablieren" kann. Sie ist eher Resultat vieler konkreter Handlungen, die von einem bestimmten Herangehen unter bestimmten Bedingungen geleitet sind. Worauf wie uns also konzentrieren müssen, sind genau diese Bedingungen des Handelns - das ist sowohl die Idee des Konsensverfahrens wie der Freien Kooperation.

Ciao,
Stefan

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