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Re: [ox] Zum Begriff der Herrschaft



Hi ThomasB und alle!

Yesterday Thomas Berker wrote:
Ich versuch mal Stefan Mz's und Bennis Einwaende so zusammen zu fassen, wie
ich sie verstehe. Mir scheinen sie triftig und ich sehe nicht, dass du sie
mit deiner Antwort widerlegt hast.

Wie andernmails ausgeführt halte ich sie oft nicht für Widersprüche,
weswegen ich sie nicht widerlegen muss. Mir scheint es immer mehr,
dass es bestimmte Teilperspektiven sind, die in einer größeren, dann
differenzierteren Theoriebildung aufgehen müssten damit es fruchtbar
wird.

Gibt es also einen Standpunkt der Gruppe, der fuer die Interessen der
Einzelnen in dieser Gruppe stehen kann und daher berechtigt ist, Herrschaft
auszuueben?

Präziser wäre mir lieber - so wie ich es heute sehe:

* Ist ein theoretisches Konstrukt Gruppenstandpunkt aus der
  Wirklichkeit ableitbar?

  D.h. gibt es genügend Beispiele, die in der Wirklichkeit ablaufen
  beschreiben und ggf. voraussagen zu können. Und natürlich: Wie ist
  es mit Gegenbeispielen.

  Unter dem Aspekt kritischer Wissenschaft wäre hinzuzufügen, dass die
  Beispiele mindestens zum Teil von Rändern des kapitalistischen
  Systems stammen müssen, von denen nicht angenommen werden muss, dass
  sie lediglich eine bestimmte Gesellschaftsformation spiegeln.

Wenn das geklärt ist, dann wüssten wir schon mal, ob es dieses
Phänomen gibt. Im positiven Fall könnten theoretische Überlegungen
dann Beiträge leisten, ob dieses Phänomen vielleicht in zukünftigen
Gesellschaftsformationen nicht mehr auftreten muss. Immerhin:
Selbstentfaltung als überhistorische Potenz des Menschen ist ja z.B.
wohl auch nicht an bestimmte Gesellschaftsformationen gebunden.

Für eine emanzipatorische Vision wäre auf jeden Fall eine Antwort zu
geben, ob bzw. wie das heute Vorfindliche dort aussieht. Daraus rührt
die nächste Frage:

* Wenn es sinnvoll ist über einen Gruppenstandpunkt zu sprechen, was
  bedeutet das konkret für eine emanzipatorische Vision?

  Hier wäre eben anzugeben, wann das Konstrukt des Gruppenstandpunkts
  emanzipatorische Inhalte befördert und wann es sie verhindert. Es
  wären Bedingungen anzugeben, unter denen das Kippen von
  emanzipatorisch in anti-emanzipatorisch begünstigt wird - bzw.
  umgekehrt.

Erst an dieser Stelle wäre wieder über den Begriff Herrschaft zu
sprechen, der quasi auf einer anderen Baustelle spielt:

* Sind die z.B. von Siebel nahegelegten Konzepte Repräsentation und
  Domination hilfreich? Kann etwas weggelassen werden oder gibt es
  eine innere Logik des Gruppenstandpunkts, die diese Konzepte
  erfordern? Reichen diese Konzepte oder brauchen wir noch mehr?

Nein, das glaube ich (wie Benni und Stefan Mz) nicht. Du schon.

Nochmal: Ich habe hier noch keine feste Meinung. Heute würde ich
wahrscheinlich ein paar Dinge schon anders kommentieren als noch
letztes Wochenende. Auf jeden Fall hat sich für mich schon einiges in
der Diskussion geklärt. Thanks to all und in der leisen Hoffnung, dass
es nicht nur mir so geht :-) .

Aber vielleicht wir nicht so weit auseinander wie es scheint.

1.
Benni hat schon des Aspekt der Dynamik eingefuehrt.

Wie wohl schon andernmails betont: Ein Gruppenstandpunkt ist für mich
nichts Festes sondern bedarf permanenter Überprüfung. Hatte sogar
Siebel schon angemerkt.

Ja, wuerden wir es
allen Ernstens Herrschaft nennen, wenn wir einen aus unserer Mitte waehlen,
um einen zeitlich und sachlich begrenzten Job zu tun, der uns alle
betrifft?

Das kommt eben auf den Job an. Wenn die BauarbeiterInnen die
AuszubildendeN Bier für alle holen schicken, dann sicher nicht. Wenn
die BauarbeiterInnen aber einen Polier wählen, der notfalls auf
Machtmittel nach Außen oder auch nach Innen zurückgreift um bestimmte
Dinge durchzusetzen, dann klingt das für mich schon nach dem, was
gemeinhin als Herrschaft bezeichnet wird - oder Benni?

Imperatives Mandat ist eben nicht repraesentatives Mandat.

Wenn du von Mandaten sprichst, dann bist du schon bei sehr praktischen
Organisationsformen von Herrschaft. Darüber habe ich zumindest
jenseits von Beispielen bisher wenig gesagt - und würde ich auch erst
drüber sprechen wollen, wenn ich die grundlegenden Theorien aus
emanzipatorischer Perspektive besser verstanden habe.

Der
Repraesentant entscheidet qua seines Gewissens und ist in seinen
Entscheidungen fuer die Wahlperiode unabhaengig, zumindest ist das die
Theorie: Er ist ein guter Koenig dank seiner moralischen Integritaet. In
der Realitaet in unseren Demokratien ist er/sie weder unabhaengig noch nur
zeitlich begrenzt im Amt, die naechste Wahl kommt bestimmt.

So wie parlamentarische Repräsentation gebaut ist, ist sie
selbstredend schon zutiefst entfremdet. Allein die Macht, die den
RepräsentantInnen und insbesondere deren Regierungsfraktion gewährt
wird, hat so viel Entfremdungspotential, dass die
Repräsentationsaufgabe nur noch Nebensache sein kann.

Im imperativen
Mandat hingegen werden Leute auf den Willen der Gruppe (deren Konsens)
verpflichtet und sind _jederzeit_ abwaehlbar, wenn die Gruppe das aufgrund
seines Handelns fuer noetig haelt. Raetesystem halt, Muenchen 1919 z.B.
Durch den 'Weissen Terror' weggemetzelt.

Ja.

Das imperative Mandat ist aber kein Widerspruch zum Gruppenstandpunkt.
Ganz im Gegenteil muss der je aktuelle Gruppenstandpunkt beim
imperativen Mandat besonders explizit gemacht werden, damit die
MandatsträgerIn entsprechend instruiert werden kann. Sie ist damit
lediglich noch eine BriefträgerIn.

Und das imperative Mandat ist auch kein Widerspruch zur Domination.
Die Gruppe, die das imperative Mandat vergibt, kann dann eben eine
Person instruieren, die Machtmittel gegen Außen und Innen einzusetzen.

Besser als das imperative Mandat ist die Erzielung eines Konsenses, da
du dann auf die ganzen Zwangsmechanismen (Abwählbarkeit) verzichten
kannst. Dann muss "nur" der Konsens klar genug gemacht werden und die
MandatsträgerIn muss ihn verstanden haben und darlegen können.

Oder eben auch Freie Software. War
nicht das Tolle an FS, dass jedeR munter macht was er/sie will, und dass
dann das gemeinsame Produkt FS herauskommt?

Ja, das ist das Tolle. Aber jetzt mal die Metaphysik beiseite
gelassen: Wie geht das eigentlich genau? Wie einigen sich diese
Individuen jenseits der Wertsphäre auf ein gemeinsames Produkt? M.E.
ist das besser zu verstehen, wenn mensch einen Gruppenstandpunkt
annimmt. Andere Theorien?

2.
Ich wuerde zur Dynamik gerne den Plural hinzufuegen. _Der_ Standpunkt der
Gruppe

Ich hatte schon von Gruppenstandpunktswolke gesprochen. Das trifft's
sicher besser.

und _das_ System

Verschiedene Sozialsysteme sind sicher unterschiedlich gut abgrenzbar.
Stehen in meiner ersten Mail ein paar kurze Anmerkungen dazu.

und _die_ Ordnung,

Na davon hat vor allem StefanMz gesprochen - und ich habe ihm da im
Wesentlichen zugestimmt.

da werd ich immer ganz Ohr.

Gut :-) .

Nehmen wir dein Liebespaarbeispiel: Ist es denn nicht schon genug, wenn
beide so viel gemeinsam haben, dass es ihnen genuegt? Ab wann gibt es _den_
Standpunkt der Gruppe? Ab wann haben sie ein Problem. In vielen Fragen
werden sie voellig verschiedener Meinung sein, ja sie moegen sogar darueber
uneins sein ob sie ueberhaupt ein Paar sind. Sind sie dann eins? Egal,
solange es fuer beide ok ist.

Eben. Finde ich für eine Theoriebildung keine sehr spannenden Fragen.
In der Praxis sind die Dinge immer schwieriger - gerade in den
Sozialwissenschaften. Aus dem Nebel der Phänomene eine Theorie zu
extrahieren, das ist die Aufgabe von Wissenschaft - dachte ich.

Sobald aber eineR von beiden _den_ Standpunkt
der Gruppe fuer sich reklamiert, wirds herrschaftlich, dann wird der/die
andere definiert.

In dem Duktus, in dem du das hinschreibst, tut sie das genau nicht
mehr. Indem sie sich als alleinige InhaberIn des Gruppenstandpunkts
bezeichnet, verlässt sie just diesen. Dies ist eine logische Folge des
überindividuellen Charakters des Gruppenstandpunkts.

Solange beide etwas teilen und das mag gerne auch Vieles
sein, kann ich schwer mit Herrschaft verbinden.

Wie Siebel auch schon ausgeführt hat: Domination und Repräsentation
sind in kleinen Sozialsystemen oft nicht so stark ausgeprägt.

Ich würde heute abwandeln: In funktionierenden, nicht entfremdeten,
emanzipativen Sozialsystemen. Bei kleinen ist das scheinbar leichter
hinzukriegen, bei großen ist es für mich eine offene Frage.

Der Gruppenstandpunkt verschwindet aber nicht dadurch, dass die
Ausdrucksformen von Herrschaft nicht so stark ausgeprägt auftreten.

Zusammengefasst: Mir scheint, wenn du das Soziale als solches mit
notwendiger Herrschaft in Verbindung bringst, dann schuettest du das Kind
aus.

Heute würde ich zunächst mal sagen: Das Soziale konstituiert sich
wesentlich über Gruppenstandpunkte. Herrschaft ist erst die zweite
Frage.

Organisation um gemeinsame Interessen zu erreichen (Beispiel
Raeterepublik, FS) und Affinitaet zwischen Menschen (Beispiel Liebespaar)
sind Formen der Sozialitaet, die mit einem Minimum an Herrschaft
funktionieren _koennen_.

Eben. Entscheidend wäre es, die Bedingungen raus zu kristallisieren,
unter denen das funktioniert. Nichts anderes ist mein Anliegen. Wie
x-mal bemerkt, scheint mir Entfremdung (auch hier) ein
Schlüsselbegriff.

Dass Sozialitaet an allen Ecken und Enden mit
Herrschaft verbunden ist, ist schon wahr. Da hat der systematische
Soziologe schon eine gute Beschreibung der buergerlichen Gesellschaft
abgeliefert, was ja genau das ist, was buergerliche Wissenschaft recht gut
kann: den status quo verdoppeln.

Das ist in dieser Plattheit ja auch ein bisschen sehr schlicht. Dann
kann nämlich jede bürgerliche WissenschaftlerIn daher kommen und einen
Begriff besetzen, der dann für emanzipatorische Bemühungen gestorben
ist.

Nein, anstatt platter Pauschalurteile ginge es darum, das eigene Hirn
zu bemühen und den Gehalt - auch bürgerlicher Theoriebildung - auf
Verwendbarkeit abzuklopfen. Dass das über sehr weite Strecken zum
Ergebnis Null führt, darüber besteht wohl Einigkeit. Aber genausowenig
wie ich alle Ergebnisse bürgerlicher Naturwissenschaft einfach
pauschal als unbrauchbar denunzieren würde, wäre eben auch auf anderen
Sektoren genau und kritisch hinzuschauen. Dazu möchte ich einen
Beitrag leisten und wie mehrfach angemerkt komme ich auch sicher nicht
da raus, wo Siebel rauskommt.

Wer die Welt veraendern will muss
allerdings anders an die Sache herangehen.

Wie?


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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