Die Schlauch-Seil-Inkontingenz (was: Re: Re: [ox] Begrifflichkeiten)
- From: Stefan Meretz <stefan.meretz hbv.org>
- Date: Fri, 4 Oct 2002 11:34:51 +0200
Hi Begriffsbildner,
On Thursday 03 October 2002 02:26, Casimir Purzelbaum wrote:
Irgendwie verstehe ich Deine (SMz) Ausführungen zu den Begriffen nicht
Das nehme ich auf meine Kappe;-)
> Begriffe sind nicht diskret, denn sie _sind_ diese Welt (ein Teil
> davon), die du kontinuierlich nennst, und nicht etwa von ihr
> getrennt.
Na und? (das habe ich wirklich nicht verstanden)
Die Überlegung geht so: Nehmen wir die Begriffe "kontinuierlich" vs.
"diskret" aus der Mathematik und wenden sie in einem Analogieschluss auf
die ganze Welt an. Dann sagt StefanSf, dass die Welt kontinuierlich ist,
die Begriffe aber diskret (Sie "diskretisieren eine Welt, die
kontinuierlich ist"). Ich schliesse, eigentlich auch nur formal, dass
dann die Begriffe nicht zur Welt gehören. Sie diskretisieren die Welt
irgendwie, und wenn sie das getan haben, dann sind sie in einem anderen
Reich (weil nun diskret und nicht mehr kontinuierlich). Ich will das
absolut nicht lächerlich machen, denn es ist eine relativ bekannte
Annahme, die ich nur schlicht für falsch halte. Das ist die Aussage.
Jetzt klarer?
Ich sage alternativ dazu: Begriffe sind genauso kontinuierlich wie die
Praxen, in denen sie verwendet werden - exakte Definitionen hin- oder her
- weil diese eine Welt mit ihren Begriffen und allem Drum und Dran
kontinuierlich ist.
> Eine Definition (ok: Begrenzung oder Abgrenzung) ist überhaupt nur
> möglich, wenn "irgendwie" eigentlich schon klar ist, was da
> begrenzt werden soll. Auch die Begrenzung selbst ist eigentlich
> nur möglich, wenn die Grenze "irgendwie" schon klar ist. - Das
> nenne ich das Definitions-Paradoxon.
Nee, das würde ich nicht sagen: das trifft nur für die ursprüngliche
Begriffsfindung zu (sozusagen die Bildung von Begriffen auf der tabula
rasa, die nichts als sinnliche Erfahrungen kennt),
Es gibt keine "ursprüngliche Begriffsbildung". Alles ist als Entwicklung
zu begreifen, so auch die Begriffsbildung. So hat die Begriffsbildung
ihre lautlich-kommunikativen Vorformen (Schrift kam viel später), aus
denen Begriffe als symbolische Repräsentanzen (vor-)menschlicher Praxis
hervorgingen. Natürlich gab es in diesem Prozess auch qualitative
Sprünge. Die sind allerdings sehr interessant, sich anzugucken.
nicht aber für die
Definition von Begriffen, die wir sozusagen geerbt haben oder deren
begriffliche Rahmenbedingungen wir schon mit uns rumtragen: Wenn ich
mich in oder nach all unseren Diskussionen aufmache und nach
Möglichkeiten der Definition (Abgrenzung) solcher Begriffe wie
Dualismus oder Konkurrenz suche, dann tu ich das genau aus dem Grund,
daß mir das nicht klar ist, was da begrenzt werden soll und wo die
Grenze verläuft: ich habe nur einen Erfahrungsschatz und
'Begriffsapparat', in den das ganze dann reinpassen soll. Aber solange
mir nicht die ganze Welt klar ist, sind diese es nicht und somit auch
nicht das, was ich definiere(n will). Oder bin ich da einfach zu naiv?
Nein, aber wenn du beschreibst, dass dir was nicht klar ist, dann ist dir
schon viel klar: Jede Unklarheit ist Klarheit über das Unklare. Die
Aufklärung verschaffst du dir nun nicht dadurch, dass du anfängst zu
definieren, sondern indem du dir erstmal Klarheit über das zu
Definierende verschaffst. Es ist unmöglich, etwas nicht schon mindestens
"irgendwie" Klares zu definieren. Versuch es: Setz dich hin und definiere
etwas Unklares. Sobald du anfängst Abgrenzungen zu treffen, musst du über
das Abzugrenzende und Abgegrenzte nachdenken: Du verschaffst dir (mehr)
Klarheit (das ist ja kein Absolutum). Die Klärung der Bedeutung ist
_immer_ vorgängig.
Ich habe durch einen Besuch von Annette Schlemm da mal wieder viel
gelernt. Nach Hegel es nämlich drei Stufen der "Klarheit": Er nennt das
Sein, Wesen und Begriff. Die Seinsebene handelt von dem, was du oben
"nichts als sinnliche Erfahrung" genannt hast. Jetzt geht mal bei
folgendem Beispiel mit (ist nicht von mir, aber ich fand es sehr witzig
und illustrativ):
Stufe 1: Zwei Leute tauschen sich über ihre unmittelbaren sinnlichen
Eindrücke aus, die ihnen nur tastend zugänglich sind. Der eine schreibt
sein Getastetes als "schlauchartiges Ding mit Rillen". Der Andere nennt
sein Getastetes "seilartiges Ding mit einer Quaste dran". Sie kommen zu
dem Schluss, das sie es nicht mit der gleichen Sache zu tun haben. --
Interessant hier: auch die Seinsebene ist nur über die Praxis zugänglich
(die die Wahrnehmung einschliesst).
Stufe 2: Unsere beiden Leuten erklimmen die nächste Stufe der Erkenntnis.
Sie stellen doch fest, dass es eine Beziehung zwischen dem "gerillten
Schlauch" und dem "gequasteten Seil" gibt: beides taucht stets in einer
bestimmten räumlichen Enfernung voneinander auf. Wenn ein "gerillter
Schlauch" auftaucht, dann gibt es in einer Entfernung von 2 bis 3 Metern
auch ein "gequastetes Seil" - und umgekehrt. Sie definieren das
Schlauch-Rillo-Seil-Quasto-Gesetz und geben diesem Zusammenhang den Namen
Schlauch-Seil-Inkontingenz. -- Interessant hier: Erst durch schrittweises
Aufklären von Zusammenhängen von Erfahrungen, etwa durch Messungen, ist
eine Definition möglich. Das ist die Ebene traditioneller (bürgerlicher)
Wissenschaft. Hier gehören etwa die Selbstorganisationstheorien rein oder
auch die Systematische Soziologie oder Luhmanns Systemtheorie. Es ist die
Ebene des Abstrakt-Allgemeinen. Hier gibt es auch schon "Begriffe", aber
es ist noch nicht die Ebene des Begriffs im Hegelschen Sinne erreicht.
Diese Ebene ist die des Konkret-Allgemeinen.
Stufe 3: Unsere beiden Leute werden immer Schlauer. Sie erkennen nicht nur
abstrakt-allgemeine Zusammenhänge, sondern erschliessen sich das "Ding"
in ihrer vollen Bedeutung innerhalb der menschlich-gesellschaftlichen
Praxis. Und da fällt es ihnen wie Schuppen von den Augen: Das "Ding" ist
ein Elefant! Nun können sich die beiden in völlig neuer Qualität über das
"Ding" unterhalten und zu neuen Erkenntnissen kommen, weil das
konkret-allgemeine Ding klar geworden ist. Leider haben die beiden nun
erhebliche Schwierigkeiten mit der Masse der Wissenschaftler, die immer
noch von der Schlauch-Seil-Inkontingenz faseln. -- Interessant hier: Der
Graben zwischen einem abstrakt-allgemeinen (Vor-)Begriff und einem
konkret-allgemeinen Begriff lässt sich leider nicht durch eine noch so
hübsche "Definition" überbrücken. Es liegt eine andere Qualität der
Erkenntnis vor. Wenn man das nicht "weiss", dann kann man sich _ewig_
streiten. So etwas passiert auch in dieser Liste. Ist mir selber auch
erst jetzt klar geworden (Danke Annette - ich hoffe, ich habs richtig
wiedergegeben).
Hier sieht man auch sehr schön den Unterschied zwischen formaler Logik und
Dialektik - darauf hatte anderenmails StefanSf hingewiesen.
Das Beispiel mit den Arbeitern und Kapitalisten schenke ich uns mal hier.
Wenn jemand dazu doch Antworten haben will, dann bitte nochmal mailen. Es
hatte auch nur den Status der Illustration.
Ich hoffe, das, was ich als "Definitionsparadoxon" bezeichne (das, was
durch Definition geklärt werden soll, muss vorher schon klar sein) ist
damit klarer geworden.
Ciao,
Stefan
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