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* Stefan Merten <smerten oekonux.de> [2002-11-29 21:25]:
Ein Wegkommen vom Tausch wäre für mich heute das Allermindeste, was
politisch interessant ist.

Das ist ein hoher Anspruch, der aber offensichtlich nicht untypisch fuer
diese Mailing Liste ist (ich bin erst seit kurzem auf der Liste). Mich
stoert daran, dass es mir immer sehr unvermittelt mit den derzeitigen
Verhaeltnissen zu sein scheint. Sich schoene Utopien auszumalen ist m.E.
keine Kunst. Ohne eine Analyse der derzeitigen Verhaeltnisse, inklusive
des Bewusstseins der Menschen von diesen Verhaeltnissen, ist es aber
nicht moeglich, sich eine Vorstellung von den Bedingungen der Aenderung
dieser Verhaeltnisse zu machen. Es ist doch absurd, davon auszugehen,
dass man die gegebenen Verhaeltnisse einfach abschaffen und durch etwas
komplett anderes ersetzen koennte, das nichts mit diesen Verhaeltnissen
(und ihren Errungenschaften) zu tun hat.

Ganz abgesehen davon, dass diese theoretischen Maximalforderungen fuer
mich in keinem Verhaeltnis zu den praktischen Minimalforderderungen
stehen. Wer allen Ernstes den Tausch abschaffen will (oder das gar als
das _Allermindeste_ bezeichnet, das ueberhaupt nur politisch interessant
ist), muss theoretische und praktische Opposition gegen Kapitalismus und
kapitalistischen Staat leisten, statt in einem Umsonstladen seine alten
Sachen wegzugeben, die ansonsten im Muell landen wuerden.

Alles andere ist mehr oder weniger kuschelig eingerichtete
Mangelverwaltung, deren Notwendigkeit sich aber in der Tat immer mehr
aus dem Niedergang des Kapitalismus speist.

Ich sehe nicht im Geringsten auch nur die leisesten Anzeichen fuer den
Niedergang des Kapitalismus. Aus heutiger Sicht erscheinen mir die
vielen "Vorboten der Revolution", die einige der 70er-Jahre-Marxisten
gesehen haben, voellig absurd. Da kann ich aber noch einsehen, wie man
auf die Idee kommen konnte, dass es so etwas wie "Opposition", also ein
zumindest potentiell "revolutionaeres Subjekt" gibt. Mir ist aber
komplett schleierhaft, wie man _heute_ auf die Idee kommen kann, dass
der Kapitalismus in einer Krise steckt, oder gar, dass er sich auf dem
Weg seines _Niedergangs_ [sic!] befindet.

Ich sehe (im Gegensatz zu anderen hier) tatsaechlich einige
Widersprueche zwischen Freier Software und kapitalistischer
Produktionsweise. Diese Widersprueche werden aber sicherlich _nicht_ zum
Niedergang des Kapitalismus fuehren. Noch viel weniger wird es der
Umsonstladen tun (ich kann gerne begruenden, warum freie Software m.E.
viel "revolutionaerer" ist als ein Umsonstladen, wenn gewuenscht).
Gibt's andere revolutionaere Subjekte, die mir nur nichts von ihren
Umsturzplaenen erzaehlt haben?

Kurz: Mir scheint die Rede vom Niedergang des Kapitalismus reines
Wunschdenken zu sein, in keiner Weise vermittelt mit einer Kritik der
real existierenden Verhaeltnisse.

Die Knappheit an Informationsgütern ist durch das Internet faktisch
beseitigbar, die Knappheit an materiellen Gütern ist es nach meinem
Dafürhalten auch 

Schraeg ist fuer mich auch, dass Leute, die so "revolutionaere"
Forderungen aufstellen, so platte ideologische Kategorien wie
"Knapptheit" nicht hinterfragen. Die "Knappheit" ist ein von der
neoklassischen Oekonomie postulierter Begriff, der dazu dient, den
kapitalistischen Markt als die der natuerlichen Knappheit angemessene
Organisationsform zu rechtfertigen. 

Um aber auf der Ebene der Utopie zu bleiben: Was muesste denn gegeben
sein, damit die "Knappheit an materiellen Guetern" beseitigt waere?
Sind wir heute "knapp unter der Knappheitsgrenze", so dass sie leicht
ueberwindbar waere und wir dann im Reich des Ueberflusses leben?

Formale, abstrakte Gleichheit wie sie aus diesem Satz lugt ist eben
nicht bedürfnisorientiert sondern an einer transzendenten Größe
(StefanMz: War das richtig verwendet?) und damit tendenziell
anti-emanzipatorisch.

Meine Kritik an der _formalen_ Gleichheit, wie wir sie heute kennen,
waere, dass sie erstens ein grosser Fortschritt gegenueber der formalen
Ungleichheit frueherer Gesellschaften ist, und dass sie zweitens die
Grundlage fuer eine _inhaltliche_ Ungleichheit ist, wie sie die Welt
noch nicht gesehen hat. Gleichheit _an sich_ als "transzendent" und
"tendenziell anti-emanzipatorisch" zu verstehen, waere m.E. ideologisch.
Wer inhaltliche Ungleichheit wuenscht, sollte im Kapitalismus bestens
aufgehoben sein. Wer formale Ungleichheit wuenscht, ist reaktionaer.

Holger

-- 
You tried your best and you failed miserably.
The lesson is 'never try'.
  
                        Homer Simpson (The Simpsons, Burns' Heir [1F16])
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