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Niedergang des Kapitalismus? (was: Re: [ox] Bildet NutzerInnengemeinschaften!)



Hi Holger und Liste!

Na, da will ich mal wieder mein Scherflein zum derzeitigen
Mega-Traffic beitragen ;-) .

5 days ago Holger Weiss wrote:
* Stefan Merten <smerten oekonux.de> [2002-11-29 21:25]:
Ein Wegkommen vom Tausch wäre für mich heute das Allermindeste, was
politisch interessant ist.

Das ist ein hoher Anspruch, der aber offensichtlich nicht untypisch fuer
diese Mailing Liste ist (ich bin erst seit kurzem auf der Liste).

Dazu vielleicht als Hintergrundinfo: Ich und einige andere hier kommen
(u.a.) aus der Krisis-Tradition (http://www.krisis.org) - wobei
Oekonux m.E. der folgerichtige nächste Schritt nach Krisis ist :-) .
Deren Analysen bzgl. des aktuellen Kapitalismus finde ich aber sehr
schlüssig und ich kann es sicher nicht besser. Das Problem an der
Krisis ist aber dummerweise, dass sie darüber nicht rauskommen. Ein
(für mich) wichtiger Oekonux-Vorläufertext ist

	http://www.giga.or.at/others/krisis/r-kurz_antioekonomie-und-antipolitik_krisis19_1997.html

Leider - oder zum Glück für das spätere Oekonux ;-) - hat Robert Kurz
damals Software und insbesondere die Freie nicht gekannt.

Mich
stoert daran, dass es mir immer sehr unvermittelt mit den derzeitigen
Verhaeltnissen zu sein scheint. Sich schoene Utopien auszumalen ist m.E.
keine Kunst.

Wo ich dir aus ganzem Herzen zustimme :-) . Aber ich muss sagen, dass
in den drei Jahren, die das Projekt jetzt läuft m.E. reichlich
Substantielles rausgekommen ist. Daraus folgt aber auch, dass das
nicht mehr in zwei, drei Sätzen oder auch Mails erläutert werden kann.
Leider gibt es auch keine wirklich umfassende Gesamtdarstellung - die
auch ständig erweitert werden müsste.

Damit kein Missverständnis aufkommt: Ich sage nicht, dass alles das
jenseits von Kritik ist. Im Gegenteil. Dennoch bin ich der Meinung,
dass Vieles hier recht gut fundiert ist. Allerdings müssen für manche
Fundamente sicher alte Denkschablonen abgelegt werden. Hier sehe ich
Oekonux mittlerweile sogar ähnlich wie die Krisis, da diese sich auch
mal irgendwann zu genau dieser Aufgabe zugewendet haben - die Krisis
halt in Bezug auf den Marxismus / die ArbeiterInnenbewegung.

Ohne eine Analyse der derzeitigen Verhaeltnisse, inklusive
des Bewusstseins der Menschen von diesen Verhaeltnissen, ist es aber
nicht moeglich, sich eine Vorstellung von den Bedingungen der Aenderung
dieser Verhaeltnisse zu machen.

Auch hier kann ich dir im Wesentlichen zustimmen. Ich bin auch sehr
für den Reality Check wo immer er möglich ist. Deswegen z.B.
übermorgen die Oxkursion zu Fabbern und Co.

Allerdings bin ich nicht so sicher, was die Bewusstseinslage
anbetrifft. Warum ist die genau wichtig für großräumige Veränderungen?

Aber andererseits wenn ich mir die aktuellen Abwehrschlachten der
Musikkonzerne und Co. gegen NutzerInnen und KünstlerInnen ansehe - da
geht's doch gegen das "fehlende Unrechtsbewusstsein" der Menschen -
oder? M.E. haben die Menschen schon ganz gut ihre Interessenlage
begriffen und in dieser Interessenlage steckt m.E. das Potential.
Dafür brauche ich aber irgendwie kein besonderes Bewusstsein - am Ende
noch ein revolutionäres.

Es ist doch absurd, davon auszugehen,
dass man die gegebenen Verhaeltnisse einfach abschaffen und durch etwas
komplett anderes ersetzen koennte, das nichts mit diesen Verhaeltnissen
(und ihren Errungenschaften) zu tun hat.

Wer will denn das? Ich gehöre zumindest eher zu denen, die auch und
gerade auf die Kontinuitäten hinweisen. Ein älterer Text von mir zu
diesem Thema ist

	http://www.oekonux.de/texte/zukunft/

Eine Erhaltung der Errungenschaften liegt mir dabei genauso am Herzen
wie dir. Eine Weiterentwicklung wäre aber sicher auch angesagt.

Ganz abgesehen davon, dass diese theoretischen Maximalforderungen fuer
mich in keinem Verhaeltnis zu den praktischen Minimalforderderungen
stehen.

Für mich hat das nicht wirklich den Charakter einer Forderung, sondern
es ist eine Grundlage ohne die langfristiges emanzipatorisches Handeln
m.E. heute nicht mehr anfangen braucht. Also eigentlich noch mehr als
eine Forderung ;-) .

Zu der Diskussion um theoretische Maximalforderungen vs. praktische
Minimalforderungen möchte ich gerne auf

	http://erste.oekonux-konferenz.de/dokumentation/texte/weinhausen.html

verweisen. Ich zähle mich dediziert und bewusst zu den
SchiffebauerInnen - was nicht heißt, dass es DämmebauerInnen nicht
geben muss. Aber es dürfte auch klar sein, dass Schiffe- und
DämmebauerInnen mit völlig unterschiedlichem Material arbeiten und die
Welt auch sehr verschieden aussieht.

Wer allen Ernstes den Tausch abschaffen will (oder das gar als
das _Allermindeste_ bezeichnet, das ueberhaupt nur politisch interessant
ist), muss theoretische und praktische Opposition gegen Kapitalismus und
kapitalistischen Staat leisten, statt in einem Umsonstladen seine alten
Sachen wegzugeben, die ansonsten im Muell landen wuerden.

Nun, zum Umsonstladen teile ich deine Meinung ja und auch im Groben
deine Argumentation. Weitere Argumente, warum Freie Software
spannend(er als Umsonstladen) ist finden sich unter

	http://www.oekonux.de/einfuehrung/kladde.html#Freie Software ist kein einfaches Hobby
	http://www.oekonux.de/einfuehrung/kladde.html#Freie Software ist keine Ware

Warum allerdings muss "theoretische und praktische Opposition gegen
Kapitalismus und kapitalistischen Staat" sein? Ich stelle mal fest,
dass es das in der Form, von der ich vermute, dass sie dir vorschwebt,
es seit 150 Jahren oder länger gibt. Leider mit wenig Erfolg - sonst
müssten wir nicht drüber reden.

Eine entscheidende Schwäche dieser Opposition scheint mir seit einiger
Zeit, dass sie sich nie wesentlich von ihrem Gegenstand lösen konnte.
Die Arbeiterbewegung war und ist nur mit der Kapitalbewegung zu
denken. Sie ist nur Antithese und hebt sich mit der These auf - bzw.
erhält sich mit ihr.

Um's mal an einem praktischen Beispiel zu erklären: Die
Befreiungsbewegungen gegen den Feudalismus haben ihr Heil vielleicht
darin gesehen, die ganzen AristokratInnenx abzuschaffen - vielleicht
per Mord. *So* ist der Feudalismus aber nicht abgeschafft worden,
sondern er ist vom stärkeren System der Bürgerlichen "einfach" hinter
sich gelassen worden.

Wenn ich also heute praktisch und theoretisch den Kapitalismus
abschaffen will, dann muss ich mir doch also höchstwahrscheinlich
Phänomene suchen, die eben nicht unauflöslich in der These-/Antithese
verstrickt sind, sondern die darüber hinaus weisen - eine Andeutung
einer Synthese bilden, die beides aufhebt. Freie Software tut das -
darin sind wir uns ja nicht ganz uneinig. Und sie ist weder (alte)
These noch deren Antithese, sondern vereinigt sie beide in ihrer
Aufhebung. Genau das irritiert aber viele Linke m.E. - weil sie das
nicht in ihr vertrautes Schema einbauen können. Genau das wiederum ist
für mich ein weiterer Hinweis auf die Relevanz Freier Software ;-) .

Alles andere ist mehr oder weniger kuschelig eingerichtete
Mangelverwaltung, deren Notwendigkeit sich aber in der Tat immer mehr
aus dem Niedergang des Kapitalismus speist.

Ich sehe nicht im Geringsten auch nur die leisesten Anzeichen fuer den
Niedergang des Kapitalismus.

Robert Kurz hat es mal sehr griffig auf den Satz gebracht, dass die
Linken wohl erst selbst aus der Mülltonne (fr)essen müssten, um das zu
begreifen. Er hat so unglaublich recht...

Mal im Ernst: Wo siehst du den strahlenden Aufstieg des Kapitalismus
momentan? Wo werden die Versprechen, die in den 60er, 70er Jahren des
vergangenen Jahrhunderts sogar mit gewissem Recht den
Entwicklungsökonomien gemacht wurden, eingelöst? Wo siehst du die
ständige Wohlstandsmehrung breiter Bevölkerungsschichten, die der
Kapitalismus doch über mindestens mal 50 Jahre hingekriegt hat -
zumindest im Nordwesten?

Das schiere Gegenteil ist doch der Fall. Wo in den 70ern noch über
eine Erhöhung der Lohnquote(!) diskutiert wurde und das eine
ernsthafte Forderung war, weiß heute kaum noch wer, was eine Lohnquote
überhaupt ist. Wo wachsen die prosperierenden Staaten denn heran?
Vielmehr sind mittlerweile ganze Kontinente vom Weltmarkt abgekoppelt
(Afrika) und mehr und mehr Staaten zerfallen in Anomie (Somalia,
Afghanistan, Kosovo,...) und der Nordwesten versucht immer mühsamer
den Schein zu wahren, das alles in Butter ist.

Ich glaube eins ist klar: Die Verzichtsforderungen, deren Stakkato
jährlich schneller wird, die Gürtel-enger-schnallen-Parolen, die von
immer breiteren Kreisen der politischen Klasse mitgetragen werden,
deuten jedenfalls nicht auf ein goldenes Zeitalter hin. Und nicht
zuletzt die Entwicklung im Finanzüberbau mit ihren immer häufiger und
immer wahrscheinlicher werdenden Auswirkungen bis hinunter in die
produktive Sphäre macht das Bild nicht gerade rosiger.

Dass der Kapitalismus aber nicht nur in einer Krise ist, sondern sich
tatsächlich im vermutlich finalen Niedergang befindet, liegt zentral
an der Produktivkraftentwicklung, mit der die Verwertung von
Arbeitskraft immer schlechter funktioniert.

Vorsicht aber: Der Niedergang des Kapitalismus bedeutet (leider)
nicht, dass er sich damit auch gleich aufhebt - das kann er gar nicht.
Große Imperien gehen manchmal einfach so zu Ende und hinterlassen
nichts als Chaos. Das Ende des Römischen Imperiums mag hier als
Beispiel dienen, dem lange nichts nachfolgte, was den selben Grad an
Zivilisation erreichte. Und auch eine Erkenntnis aus diesem Sektor:
Die größte Machtentfaltung haben Imperien oft kurz vor ihrem Ende.

Um so mehr ist es wichtig für alle die Menschen, die an einem
Überleben der Zivilisation - möglichst auf neuem emanzipatorischen
Niveau - interessiert sind, dass nach Keimformen Ausschau gehalten
wird - auch oder vielleicht sogar gerade, wenn sie nicht so aussehen,
wie das vor 30 Jahren mal vorgestellt wurde.

Allerdings glaube ich in der Tat, dass erst die Freie Software hier
wirklich einen Durchbruch darstellt. Die Produktivkraftentwicklung hat
erst in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts dazu geführt,
dass die Fesseln des alten Systems so sichtbar wurden, wie wir es hier
analysieren. So gesehen haben wir historisch heute einfach bessere
Karten als die Jungs und Mädels 1970.

Aus heutiger Sicht erscheinen mir die
vielen "Vorboten der Revolution", die einige der 70er-Jahre-Marxisten
gesehen haben, voellig absurd.

Ich vermute mal: Mir auch. Aber vielleicht ist ja nach 30 Jahren auch
mal was Neues denkbar?

Da kann ich aber noch einsehen, wie man
auf die Idee kommen konnte, dass es so etwas wie "Opposition", also ein
zumindest potentiell "revolutionaeres Subjekt" gibt. Mir ist aber
komplett schleierhaft, wie man _heute_ auf die Idee kommen kann, dass
der Kapitalismus in einer Krise steckt, oder gar, dass er sich auf dem
Weg seines _Niedergangs_ [sic!] befindet.

Wo ist der Aufstieg oder zumindest mal das Einhalten der
Wohlstandsversprechen?

Ich sehe (im Gegensatz zu anderen hier) tatsaechlich einige
Widersprueche zwischen Freier Software und kapitalistischer
Produktionsweise. Diese Widersprueche werden aber sicherlich _nicht_ zum
Niedergang des Kapitalismus fuehren. Noch viel weniger wird es der
Umsonstladen tun (ich kann gerne begruenden, warum freie Software m.E.
viel "revolutionaerer" ist als ein Umsonstladen, wenn gewuenscht).
Gibt's andere revolutionaere Subjekte, die mir nur nichts von ihren
Umsturzplaenen erzaehlt haben?

Vielleicht sieht das "revolutionäre Subjekt" einfach ganz anders aus,
als du dir das bisher vorgestellt hast / vorstellen konntest? Und
vielleicht hat das faktische "revolutionäre Subjekt" gar kein
Interesse daran, ein ideologisches "revolutionäres Subjekt" zu sein?
Die Bürgerlichen hatten da jedenfalls auch so ihre Schwierigkeiten
mit - denen ging's eben mehr um's Geschäft.

Kurz: Mir scheint die Rede vom Niedergang des Kapitalismus reines
Wunschdenken zu sein, in keiner Weise vermittelt mit einer Kritik der
real existierenden Verhaeltnisse.

Gerade mit Kurz ;-) : Da bin ich anderer Ansicht. Und ich kann auch
die permanente Gesundbeterei durch die versammelte Linke langsam nicht
mehr hören. Da sind ja Liberale einsichtiger...

Die Knappheit an Informationsgütern ist durch das Internet faktisch
beseitigbar, die Knappheit an materiellen Gütern ist es nach meinem
Dafürhalten auch

Schraeg ist fuer mich auch, dass Leute, die so "revolutionaere"
Forderungen aufstellen, so platte ideologische Kategorien wie
"Knapptheit" nicht hinterfragen. Die "Knappheit" ist ein von der
neoklassischen Oekonomie postulierter Begriff, der dazu dient, den
kapitalistischen Markt als die der natuerlichen Knappheit angemessene
Organisationsform zu rechtfertigen.

Wie andere schon angemerkt haben, haben wir dazu schon einiges
überlegt. Vielleicht gibt es noch mehr?

Um aber auf der Ebene der Utopie zu bleiben: Was muesste denn gegeben
sein, damit die "Knappheit an materiellen Guetern" beseitigt waere?

Was würdest du denken, wie die Begrenztheit materieller und
informationeller Güter so ausgeweitet werden kann, dass die
Bedürfnisbefriedigung für möglichst alle Menschen gewährleistet ist?

Sind wir heute "knapp unter der Knappheitsgrenze", so dass sie leicht
ueberwindbar waere und wir dann im Reich des Ueberflusses leben?

Hast du nicht das Gefühl, dass viele wichtige Bedürfnisse heute in den
nordwestlichen Ländern relativ mühelos befriedigt werden könnten? Ich
habe das Gefühl, dass wir von der Gebrauchswertseite her potentiell
schon in der Überflussgesellschaft leben. Nur die gesellschaftliche
Form verhindert noch, dass aus dieser Potenz Realität wird.

Formale, abstrakte Gleichheit wie sie aus diesem Satz lugt ist eben
nicht bedürfnisorientiert sondern an einer transzendenten Größe
(StefanMz: War das richtig verwendet?) und damit tendenziell
anti-emanzipatorisch.

Meine Kritik an der _formalen_ Gleichheit, wie wir sie heute kennen,
waere, dass sie erstens ein grosser Fortschritt gegenueber der formalen
Ungleichheit frueherer Gesellschaften ist,

Klaro. Aber Errungenschaften der Bürgerlichen gegenüber den Feudalen
sind nicht notwendigerweise auch noch Errungenschaften in einer
GPL-Gesellschaft. Eine GPL-Gesellschaft kann darüber hinaus gehen.

und dass sie zweitens die
Grundlage fuer eine _inhaltliche_ Ungleichheit ist, wie sie die Welt
noch nicht gesehen hat.

Yep.

Gleichheit _an sich_ als "transzendent" und
"tendenziell anti-emanzipatorisch" zu verstehen, waere m.E. ideologisch.
Wer inhaltliche Ungleichheit wuenscht, sollte im Kapitalismus bestens
aufgehoben sein. Wer formale Ungleichheit wuenscht, ist reaktionaer.

Ich wünsche mir wahrscheinlich am ehesten, dass Gleichheit einfach
kein Thema mehr ist... BTW: *So* sieht für mich eine Überwindung aus.

You tried your best and you failed miserably.
The lesson is 'never try'.

Ganz im Gegenteil: Try another way ;-) .


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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