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Re: Niedergang des Kapitalismus? (was: Re: [ox] Bildet NutzerInnengemeinschaften!)



* Stefan Merten <smerten oekonux.de> [2002-12-05 22:23]:
Aber andererseits wenn ich mir die aktuellen Abwehrschlachten der
Musikkonzerne und Co. gegen NutzerInnen und KünstlerInnen ansehe - da
geht's doch gegen das "fehlende Unrechtsbewusstsein" der Menschen -
oder? M.E. haben die Menschen schon ganz gut ihre Interessenlage
begriffen und in dieser Interessenlage steckt m.E. das Potential.

Naja, sie haben ganz gut begriffen, dass, insofern sie Konsumenten sind,
es in ihrem Interesse liegt, Software und Musik kostenlos zu bekommen.
Das ist schlicht warenfoermiges Bewusstsein. Der Verkauefer will den
Preis maximieren, der Kaeufer minimieren. Ohne dieses Bewusstsein waere
kein Kapitalismus zu machen.

Von ihrer gesellschaftlichen Interessenlage aber haben die wenigsten
einen `Begriff'. Das wuerde _Kritik_ des Bewusstseins, das einem durch
die bestehenden Gesellschaftsformen nahegelegt wird, erfordern. Die
Leute identifizieren weitgehend das Interesse des `Kapitals' und der
`Nation' mit ihrem eigenen. 

Frag die Leute. Sie werden Dir gern erklaeren, dass es in ihrem
Interesse laege, wenn die mittelmaessigen Politiker durch bessere
ersetzt wuerden, wenn den Politikern die Diaeten gekuerzt wuerden, wenn
der Reformstau aufgeloest wuerde, wenn das Besitzstandsdenken [sic! --
wir sind bei Interesse!] beiseite gelegt wuerde, der Arbeitsmarkt
dereguliert wuerde, Deutschlands Rolle in der Welt gestaerkt wuerde usw.
usf. Je nachdem, wie gut derjenige erzogen ist, den Du nach seinen
Interessen fragst, erzaehlt er Dir vielleicht auch noch was von
Auslaendern, Arbeitslosen, Beamten und anderen Parasiten, denen man
endlich mal die fetten Geldbeutel leeren sollte.

Die haben ihre Interessenlage begriffen?

Dafür brauche ich aber irgendwie kein besonderes Bewusstsein - am Ende
noch ein revolutionäres.

Der Kontext ist oben: Du meinst, es reicht aus, wenn die Leute ihr
eigenes Interesse erkennen, es bedarf keines von diesen Interessen
gesonderten "revolutionaeren" Bewusstseins. Ja und nein: "Revolutionaer"
_ist_ das Bewusstsein immer genau _dann_, wenn die Leute ihr Interesse
erkennen und dieses Interesse nicht in der bestehenden Gesellschaftsform
zu verwirklichen ist. Siehe Bourgoisie im Feudalismus.

Es ist doch absurd, davon auszugehen, dass man die gegebenen
Verhaeltnisse einfach abschaffen und durch etwas komplett anderes
ersetzen koennte, das nichts mit diesen Verhaeltnissen (und ihren
Errungenschaften) zu tun hat.

Wer will denn das? Ich gehöre zumindest eher zu denen, die auch und
gerade auf die Kontinuitäten hinweisen.

Wenn Du sagst, das Aequivalenzprinzip abzuschaffen sei das Minimum, sehe
ich nicht, wo dort das Bestehende `aufgehoben' ist.

	http://www.oekonux.de/texte/zukunft/

Danke! Ausgedruckt, aber bis jetzt nur ueberflogen. Im Moment komm ich
zu nix.

Warum allerdings muss "theoretische und praktische Opposition gegen
Kapitalismus und kapitalistischen Staat" sein?

Weil Kapitalismus auf (Privateigentum und) Aequivalenzprinzip beruht und
der kapitalistische Staat die Aufrechterhaltung desselben sicherstellt.
Wie gesagt, mir ging's nur um Deine Abschaffung des Aequivalenzprinzips.
Dass Du das offensichtlich nicht via aktiver Opposition machen willst,
hab ich inzwischen begriffen. Es ist, sagst Du, "nichtmal" ein
veraendertes gesellschaftliches Bewusstsein notwendig. _Wie_ die
Aequivalenz dann abgeschafft wird, hab ich allerdings noch nicht
begriffen.

Ich stelle mal fest, dass es das in der Form, von der ich vermute,
dass sie dir vorschwebt, es seit 150 Jahren oder länger gibt. Leider
mit wenig Erfolg

*sigh* Ja, meine Ideen sind wenig originell. Eine _gute_, originelle
Idee gibt es auch nur alle 151 Jahre. Sprich, dies Jahr wird das nix
mehr ;-) Die Vorstellung, man braeuchte jetzt "voellig neue Ideen", ist
selbst auch nicht neu. Und die ach so neuen Ideen sind dann meist alter
Wein in neuen Schlaeuchen.

Dein Punkt, der Kapitalismus stehe kurz vor seinem Ende, ist auch
mindestens 150 Jahre alt. Bisher hatten die Untergangstheorien auch
"wenig Erfolg", die Empirie wollte einfach nicht auf die Kurz'ens dieser
Welt hoeren.

Auch die Idee, statt Opposition "ein wahres Leben im falschen" fuehren
zu muessen, ist aelter als 150 Jahre. Proudhon ist (ganz im Geist der
Tauschringe) fuer eine "gebrauchswertorientierte" Warenproduktion
eingetreten und hatte die phaenomenale Idee, eine "Tauschbank" zu
gruenden, die nicht diese boesen Zinsen nimmt. Das ist vor gut 150
Jahren gescheitert. Seine anarchistischen Nachfolger waren in den
vergangenen 150 Jahren nicht minder erfolglos.

Mal im Ernst: Wo siehst du den strahlenden Aufstieg des Kapitalismus
momentan? 

Mit gewissen Einschraenkungen in der ganzen Welt. 

Wo werden die Versprechen, die in den 60er, 70er Jahren des
vergangenen Jahrhunderts sogar mit gewissem Recht den
Entwicklungsökonomien gemacht wurden, eingelöst?

Mit gewissen Einschraenkungen nirgens.

Wo siehst du die ständige Wohlstandsmehrung breiter
Bevölkerungsschichten, die der Kapitalismus doch über mindestens mal
50 Jahre hingekriegt hat - zumindest im Nordwesten?

Mit gewissen Einschraenkungen nirgens.

Erklaer mir doch bitte endlich mal jemand, wieso es fuer den
Kapitalismus ein Problem darstellt, wenn er die Versprechungen, die er
im Nord-/Mitteleuropa der 60er/70er Jahre des 20. Jahrhunderts mal
leichtglaeubigen Leuten gemacht hat, nicht einhalten kann. Lohnkuerzung
ist kacke fuer den Lohnarbeiter, aber keine Krise fuer den Kapitalismus.
Offensichtlich reagiert der Lohnarbeiter nicht mit Opposition (wie sich
das einige Verelendungstheoretiker vorgestellt haetten), also kann's
doch dem Kapitalismus egal sein. Lohnkuerzung steigert erstmal nur die
Profite.

Vielmehr sind mittlerweile ganze Kontinente vom Weltmarkt abgekoppelt
(Afrika)

Afrika ist nach wie vor nicht vom Weltmarkt abgekoppelt, aber man kann
natuerlich aufzeigen, dass es eine ziemlich beschissene Stellung im
Weltmarkt hat. Dein Satz suggeriert nun allerdings, dass das (auch nach
der Kolonialisierung) mal substantiell _besser_ gewesen waere. Dass es
jetzt im Gegensatz zu vorher ploetzlich kurz vor dem Ende stuende, kann
ich nicht erkennen.

Und nicht zuletzt die Entwicklung im Finanzüberbau mit ihren immer
häufiger und immer wahrscheinlicher werdenden Auswirkungen bis
hinunter in die produktive Sphäre macht das Bild nicht gerade rosiger.

Wieder so eine typisch Kurz'sche These: Dass steigende Aktivitaet auf
Seiten des `Finanzueberbaus' und auf Seiten des `produktiven Kapitals'
ein Widerspruch waeren. Normalerweise (ausser im Falle von _echten_
Krisen) ist das Gegenteil der Fall: Die "Auswirkungen bis hinunter in
die produktive Sphaere" sind erstmal Steigerung der Flexibilitaet, der
Akkumulation und der Produktivkraft.

Dass der Kapitalismus aber nicht nur in einer Krise ist, sondern sich
tatsächlich im vermutlich finalen Niedergang befindet, liegt zentral
an der Produktivkraftentwicklung, mit der die Verwertung von
Arbeitskraft immer schlechter funktioniert.

Hier sind wir wohl tatsaechlich am Kern des Arguments. Wenn dem so
waere, stuende der Kapitalismus wirklich vor einer Krise. Aber auch die
These halte ich fuer unbegruendet. Die Produktivkraftentwicklung an sich
kann natuerlich erstmal kein Problem sein, sie bedeutet ja nur, dass ich
mehr Gebrauchswert in derselben Zeit produzieren kann, was im
Kapitalismus die Mehrwertrate steigert, also das Gegenteil eines
Problems fuer den Kapitalismus darstellt. Aber Kurz meint ja, die
_produktive_, mehrwertschaffende Arbeit nehme tatsaechlich ab. Schon das
bezweifle ich, aber selbst _wenn_ es stimmen wuerde, sehe ich noch
nicht, warum dieser Effekt staerker sein sollte als die gegenteiligen
Effekte (Mehrwertsteigerung via Produktivkraftsteigerung etc.). Aber
wenn auch _dem_ so waere, der Kapitalismus also tatsaechlich vor einer
Krise stuende (die BTW nur dann global waere, wenn es z.B. auch fuer
Laender wie China stimmt), dann muesste Kurz aufzeigen, warum die
kommende Krise nicht wie die bisherigen Krisen die Voraussetzungen fuer
einen neuen Aufschwung schaffen kann.

Allerdings glaube ich in der Tat, dass erst die Freie Software hier
wirklich einen Durchbruch darstellt. Die Produktivkraftentwicklung hat
erst in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts dazu geführt,
dass die Fesseln des alten Systems so sichtbar wurden, wie wir es hier
analysieren. So gesehen haben wir historisch heute einfach bessere
Karten als die Jungs und Mädels 1970.

Und auch hier haben wir fundamental verschiedene Einschaetzungen. Ich
gehoere vermutlich insofern nicht zu den "Anti-Keimformtheoretikern",
als ich sehr wohl einen Widerspruch zwischen der Produktivkraft-Seite
"Freie Software" und der Produktionsverhaeltnis-Seite "Kapitalismus"
sehe. Nun koennte man natuerlich sagen, dass jeder Widerspruch auch
Keimform ist. Aber Du meinst ja offensichtlich, dass es sich hier um
einen ganz _entscheidenden_ Widerspruch handelt, um _den_ Widerspruch,
_die_ Keimform, der das Potential zum "Todesstoss" fuer den Kapitalismus
hat. Das wuerde die Rolle der Freien Software m.E. hoffnungslos ueber-
und die Integrationskraft des Kapitalismus hoffnungslos unterschaetzen.
GNU/Linux wird vielleicht Microsoft Probleme bereiten, aber nicht den
Kapitalismus abschaffen, sondern RedHat weiterhin gute Profite
bescheren. Der Kapitalismus hat schon ganz andere `Widersprueche'
als Linux `aufgehoben'.

Kurz: Mir scheint die Rede vom Niedergang des Kapitalismus reines
Wunschdenken zu sein, in keiner Weise vermittelt mit einer Kritik der
real existierenden Verhaeltnisse.

Gerade mit Kurz ;-) : Da bin ich anderer Ansicht. Und ich kann auch
die permanente Gesundbeterei durch die versammelte Linke langsam nicht
mehr hören. Da sind ja Liberale einsichtiger...

Was Argument! Ich kann die permanenten Untergangsprophezeiungen der
Linken nicht mehr hoeren. Nicht nur, dass der Kurz das seit Jahrzehnten
prophezeit, zaehlt man seine "marxistischen" Vorgaenger dazu, steht der
grosse Kladderadatsch jetzt schon seit Jahrhunderten kurz bevor!

Um aber auf der Ebene der Utopie zu bleiben: Was muesste denn gegeben
sein, damit die "Knappheit an materiellen Guetern" beseitigt waere?

Was würdest du denken, wie die Begrenztheit materieller und
informationeller Güter so ausgeweitet werden kann, dass die
Bedürfnisbefriedigung für möglichst alle Menschen gewährleistet ist?

Mit meiner Frage wollte ich darauf hinaus, dass ich nicht sehe,
inwiefern wir kurz vor einer "Grenzueberschreitung" von der `Welt der
Knappheit' in das `Reich des Ueberflusses' stuenden. Daher wollte ich
von Dir wissen, woran Du das fest machst.

Um trotzdem auf die Gegenfrage zu antworten: Die Voraussetzung ist
schlicht Maximierung der Produktivitaet. Es ist rationell, moeglichst
viel Produkt mit moeglichst wenig Arbeit zu schaffen. Ich sehe aber
nicht, dass wir (in absehbarer Zeit) _ohne_ Arbeit auskommen koennten,
daher sehe ich wie gesagt nicht, inwiefern die `Knappheit' an
materiellen Guetern ueberwindbar waere. Auch die Tatsache, dass eine
Untermenge der Gueter _kopierbar_ ist, aendert daran nichts. _Neue_
Musik und _neue_ Software erfordern genauso Arbeit wie jedes andere
Produkt auch und sind daher nicht a priori im Ueberfluss vorhanden[*].

Sind wir heute "knapp unter der Knappheitsgrenze", so dass sie leicht
ueberwindbar waere und wir dann im Reich des Ueberflusses leben?

Hast du nicht das Gefühl, dass viele wichtige Bedürfnisse heute in den
nordwestlichen Ländern relativ mühelos befriedigt werden könnten?

Ich unterscheide in dem Zusammenhang nicht zwischen "wichtigen" und
"unwichtigen" Beduerfnissen. Mir scheint die Idee, dass wir zufaellig
gerade _jetzt_ an dem Punkt angelangt waeren, an dem die
Produktivkraefte die (offenbar fix _gegebenen_?) Beduerfnisse decken
koennen, es somit jetzt im Gegensatz zu vorher keine `Knappheit' mehr
gibt, sehr schraeg. Als wir nur Flugzeuge produzieren konnten, waren wir
noch 100 Jahre von diesem Punkt entfernt, aber beim Pentium 4 ist dann
so ungefaehr die Grenze?

Die Idee passt natuerlich zu der anderen Seite, dass der Kapitalismus
kurz vor seinem Ende stuende, weil genau _jetzt_ die produktive Arbeit
ausgeht, genau _jetzt_ die Verselbstaendigung des Finanzsektors
ueberhand nimmt und genau _jetzt_ mit Linux die entscheidende
Produktivkraftentwicklung geschehen ist. Ich nehme an, dass man die
Phaenomene, die in Mitteleuropa in den letzten paar Jahren zu beobachten
waren, historisch und global sehr viel mehr relativieren muss.

Die Bedeutung der eigenen Epoche zu ueberschaetzen ist aber auch nichts
originelles, das haben schon viele grosse Theoretiker (inklusive Marx)
vorgemacht ;-)

Holger

*) Bei anderen Fragestellungen wuerde ich die Unterscheidung
   kopierbare/nicht-kopierbare Gueter allerdings sehr wohl fuer wichtig
   halten.

-- 
"Das einzige, das einen Gebaeudekollaps (oder auch einen thermonuklearen
Krieg) unbeschadet uebersteht, sind Kakerlaken und AOL-CDs."
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                                   Bastian Lipp in de.comp.security.misc
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Organisation: projekt oekonux.de


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