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Re: [ox] Re: Zum Begriff der Herrschaft



Hi UliH und alle!

Damit keine Missverständnisse entstehen. Ich benutze im Folgenden den
Begriff Herrschaft immer iSdsS. Also nicht in der reduzierten oder
sogar gegenläufigen Bedeutung von Machtmissbrauch.

2 weeks (19 days) ago Uli Holz wrote:
At Freitag, 29. November 2002 you wrote:
  Was zeichnet diesen aus:
  Weisheit, vielleicht der Aelteste, der am besten Spuren lesen kann,
  die meiste Erfahrung besitzt, etc.

SM> Abgesehen von "der Älteste" sind das alles besondere Fähigkeiten. Die
SM> beste SpurenleserIn ist sicher nicht notwendig die beste HäuptlingIn.
SM> Die anderen Qualitäten geben da schon eher Hinweise. Würde ich alles
SM> unter "natürlicher Autorität" subsumieren; Autorität also, die nicht
SM> formal durch ein hierarchisches System kommt.

O.K. Denken wir mal, daß Wissen und Erfahrung einen Häuptling/in zum
Anleiten prädestiniert.

Zumindest sich besser für eine solche Aufgabe eignet, als eine Person,
die darüber nicht verfügt. Soziale Fähigkeiten gehören hier m.E. auch
wesentlich dazu.

Gibt dieser sein Wissen ohne Vorbehalt weiter,
würde er in gewisser Weise z. T. überflüssig, bzw. die Gruppe hätte
enormes Potential.

Wenn Wissen Macht ist - und m.E. gibt es da zumindest starke
Zusammenhänge - dann ist die Weitergabe von Wissen Empowerment
anderer. Aus dieser Sicht ist Freie Software übrigens Empowerment pur.

"Überflüssig" hast du geschrieben. Das ist eigentlich sehr schön, weil
es auf den Überfluss hindeutet, der bei solcher Form von Empowerment
günstigenfalls entstehen kann :-) .

Unter emanzipatorischer Perspektive ist dieses Empowerment in jedem
Fall zu begrüßen, da es den Menschen mehr Handlungsfähigkeit gibt.
Tatsächlich würden Herrschaftspersonen sich damit tendenziell
überflüssig machen, da ihr Wissen im Überfluss zur Verfügung steht.
Das wäre m.E. auch ein wichtiges Ziel von Herrschaft: Die
konzentrierte Version in Form von Herrschaftspersonen überflüssig zu
machen und die Herrschaft breit unter den Gruppenmitgliedern zu
verteilen - also das genaue Gegenteil von Machtmissbrauch.
<gebetsmühle> Konsensverfahren sind m.E. Beispiele für diese Form.
</gebetsmühle> Dass diese einer Gruppe erfahrungsgemäß enormes
Potential geben, betone ich ja mindestens einmal die Woche ;-) .

Andererseits gibt es aber auch Gruppen, die sich explizit zum Zwecke
einer Komplexitätsreduktion für die Gruppenmitglieder bilden. Hier hat
eine Konzentration von Herrschaft auf wenige Personen dann auch den
Charakter von Arbeitsteilung: Mach du den Herrschaftsteil für uns
während ich mich um unser Coding kümmere. So lange ein solches
Verhältnis selbstgewählt ist, sehe ich auch nicht, warum das ein
Problem sein soll.

Ein Aspekt dessen ist, herrschaftliches Handeln so transparent wie nur
irgend möglich zu machen. Bei Oekonux machen wir das darüber, dass
praktisch die gesamte Kommunikation, die herrschaftlichen Charakter
hat - nämlich Handeln im Interesse des Projekts - im Web archiviert
ist. Virtuelle Projekte wie unseres haben da einen echten Vorteil, da
ohnehin praktisch schon alles in einer Form vorliegt, die leicht zu
veröffentlichen ist. Ich halte daher die [pox]/[rox]/[hox]-Archive
(letztere beide für die Konferenzen) grundsätzlich für wichtig -
unabhängig davon, ob da tatsächlich jemensch reinguckt oder nicht.

Es gibt aber noch mehr Fähigkeit als Wissen. Erfahrung kann z.B. nur
begrenzt als Wissen weitergegeben werden. Und bei weitem nicht jede
Fähigkeit ist ohne Weiteres zu vermitteln. Viele allerdings mit
Weiterem - Ausbildung / Training halt.

Nehme jetzt mal den Thread 'Glasperlenspiel' hier mit rein.
 Auch hier währe eine Synthese nicht unbedingt verkehrt, welche
 Emanzipation nicht ausschließt.

SM> Vielleicht sogar Emanzipation begünstigt :-) . Ja, ich würde dir da
SM> sehr zustimmen.

SM> Ich denke, dass das sehr viel mit dem zu tun hat, was ich als Kultur
SM> bezeichnen würde. Und die indische Kultur - wie auch viele andere,
SM> nicht so stark westlich orientierte - heben andere Grundelemente
SM> hervor.

SM> Die Oekonux-Frage wäre hier, was für eine Kultur in
SM> Freie-Software-Projekten entsteht - und auch auf welcher Grundlage. In
SM> den Herrschaftsthreads behandeln wir da ja gerade einen Teilaspekt.

O.K., versuche mal meine Überlegungen genauer zu theoretisieren.
Ein weltliches oder spirituelles System oder Konstrukt sollte in
seiner Form schon emanzipationsfähig sein um Dogmen möglichst
auszuschließen.
Als Beispiel Indien und der 'Westen', es gibt wohl kein weltliches
System, das in seiner Starrheit das von Indien übertrifft, allerdings
ist die spirituelle Seite von keinem Dogma belegt, kann sich also
ständig weiterentwickeln. Alte Sichtweisen werden nicht ausgeklammert,
sondern neue Ideen mit eingebaut, was es für die Missionare ünmöglich
machte, das System zu verstehen, das tun die Leute dort im Übrigen
auch nicht, jeder stellt sich eben sein Ding zusammen.

Ja. dieser gnadenlose Eklektizismus ist mir auch sehr sympathisch
:-) . Das als Kultur schafft m.E. eine tolerante Atmosphöre.

Im 'Westen' wurde die Theologie von starren Dogmen in ihrer
Weiterentwicklung behindert, konnte sich also im Grunde nicht
reformieren. Dies wurde erst durch ein Schisma möglich.

Ja. Ein Beispiel für Machtmissbrauch wenn du mich fragst. Das
Bedürfnis der Gläubigen war ein anderes, als es die (katholische)
Kirche mit ihren Dogmen zugelassen hat. Die Schismen aller Art - auch
heute gibt es das ja in gewisser Weise, die freikirchlichen Bewegungen
sprießen ja (nicht nur) in den USA wie die Pilze aus dem Boden -
machen dann quasi den gewaltsamen Fork.

Ein grundsätzliches Problem begünstigt diese Verhältnisse aber:
Zumindest bei gottgebundenen religiösen Systemen gibt es immer eine
den Menschen äußerliche Instanz, auf die sich die jeweilige Kirche
wesentlich bezieht. Hier ist die Entfremdung quasi schon ins Fundament
der ganzen Veranstaltung eingelassen.

Meine These wäre nun, das ein philosophisches System oder was auch
immer in seiner Grundstruktur nicht von Dogmen belegt sein darf, sonst
wird es sich ab einem bestimmten Punkt nicht weiterentwickeln können.

Ja.

Aber ich würde nochmal genauer überlegen, ob die Dogmen - als
*Dogmen*, d.h. unveränderliche, aber unbegründete Lehrsätze (sag' ich
mal so) - nicht schon ein Ausdruck für irgend etwas sind. So in die
Richtung Machtmissbrauch.


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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