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Re: Re: Re: [ox] Gibs Gruppen? (war: ... Warum Herrschaftsdebatte?)



Hi Stefan,

Dank Dir für die Antwort.  Deine Reaktion ist in der Tat wichtig für
mich, auch wenn ich im folgenden natürlich versuchen werde, Deine
Einwände "abzubügeln" ;-)

Schon als Franz geantwortet hat, ist mir aufgefallen, daß ich mich
hier sehr in einen Sprachgebrauch "geflüchtet" habe, der -- außer für
Stefan S. :-) -- sehr engstirnig klingt... Hat wohl mit meinem Versuch
zu tun, mich in der informatischen Terminologie zurechtzufinden (--
aber auch das scheint mir eine sehr nutzbringende Übung zu sein, da
für mich Informatik nur sowas wie "angewandte Erkenntnistheorie" sein
kann und also den gleichen Ansprüchen genügen muß, wie das Streben
nach Erkenntnis und Begreifen überhaupt).


Ref.: 	«Re: Re: [ox] Gibs Gruppen?  (war: ... Warum Herrschaftsdebatte?)»
 		Stefan Meretz
 		(2003-04-15, 23:25:47 [PHONE NUMBER REMOVED], KW 16/2003)

Hi El Casi, du wünschtest dir, dass ich auf diese Mail von dir eingehe:

On Sunday 13 April 2003 13:02, Casimir Purzelbaum wrote:
Hinter den "Gruppen" in den obigen Fragen verbirgt sich aber für
mich in der Tat mehr, als eine bloße Klassifikation. Dieser
Unterschied ist aber, scheint mir, einer der Knackpunkte in der
Diskussion -- wichtig unter anderem für das Verständnis von
Macht, Herrschaft und Repräsentation sowie nicht zuletzt für die
Frage, ob eine Gruppe eine Subjekt (also handlungsfähig) sei oder
nicht...

Ich würde (heute nicht mehr) eine Gruppe nicht wie ein Subjekt
behandeln, wenn ich über Emanzipation nachdenke. Tut man das, setzt
dies einen identitären Bezug voraus. Oder man versucht es
"objektiv" so wie du.

Mit dem "Subjekt" bin ich auch noch nicht fertig...  Bisher scheint
mir, daß in der westlichen Philosophie die ursprüngliche allgemeine
Bedeutung als "Träger" gründlich verdrängt wurde: aus dem Subjekt als
Grundlage (wörtlich Unter-lage)/Träger von Prädikaten
(bswp. Aristoteles), wurde seit Berkeley und Hume, vor allem aber mit
Kant, nur noch das Subjekt der individuellen Erkenntnis, der Träger
des ind. Bewußtseins, der ind. Wahrnehmung (Empfindung, und so
weiter). Noch bei Marx und Hegel wird der Begriff aber auch anders
verwendet (-- da ist auch eben mal der Weltgeist, das Wahre oder eben
die Gesellschaft "das Subjekt" --), und mir scheint genau in der heute
verbreiteten individualistischen Vorstellung vom Subjekt nichts
anderes zum Vorschein zu kommen, als was Franz am soziologischen
Gruppenbegriff kritisiert. Da hilft auch nicht, daß man dem als
Einzelwesen gefassten "Subjekt" im Nachhinein wieder allerlei
gesellschaftliche Bedingtheiten oder Bestimmungen anhängt... (--
wahrscheinlich einer der Punkte, über die wir trefflich (oder ewig)
streiten könnten ;-)

Der Unterschied einer Klasse (als Menge aller Objekte mit gewissen
übereinstimmenden Merkmalen) und einer Gruppe besteht m.E. darin:

Der Zustand von Objekten einer Klasse ist vom Zustand der anderen
Objekte und vom Zustand der Klasse unabhängig.

Der Zustand der Elemente einer Gruppe hängt in gewisser Weise vom
Zustand der anderen Elemente und/oder von dem der Gruppe insgesamt
ab.

Das halte ich für eine unzulässige Abstraktion. Sie sieht von
wesentlichen Momenten menschlichen Zusammenlebens ab: Darin gibt es
eben nicht zur Zustände etc. Genau hier führt IMHO die
physikalische Analogie, die du vorher aufgemacht hast, in die Irre.

Nein, das hier ist keine physikalische Analogie mehr, sondern der
Versuch eines abstrakten Verständnisses von Gruppen, welches sowohl
physikalische als auch gesellschaftliche Erscheinungen (usw.) fassen
kann. Die Gesellschaft ist für mich nunmal keine "andere Baustelle",
wo ich die anderen Baupläne eines anderen Architekten zu durchschauen
hätte, sondern eine, die bspw. auf der physikalischen aufbaut.

Warum ist denn diese Abstraktion für Dich unzulässig? Weil sie
wesentliches wegläßt? Mußt Du dann nicht jede Abstraktion für
unzulässig halten? Das ist mir nicht klar. Eine Abstraktion kann,
indem sie wesentliches wegläßt, wesentliches verdeutlichen. Man darf
sich allerdings nicht einbilden, man könnte in einer Abstraktion das
Wesen erfassen. -- Aber, wie Franz schon bemerkt hat, trifft dies auf
der Ebene der Atome und Moleküle genauso zu wie in der Gesellschaft.

Ich habe doch diese Abstraktion in der obigen Form noch nicht
angewendet, um irgendwelche realen (konkreten) Erscheinungen zu
erklären oder zu begründen. Es ging nicht darum konkrete Gruppen zu
charakterisieren. Sondern nur darum herauszustellen, was der
Unterschied ist zwischen einer Gruppe und einer Klasse im Sinne der
Klassifikation. Dieser Unterschied ist aber in meinen Augen ein
wesentlicher.

Als Beispiel: Radfahrer bilden hiernach eine *Klasse*, weil sie
alle radfahren -- das ist nichts als ein gemeinsames Merkmal. Eine
*Gruppe* aber bilden sie, weil sich bspw. die Situation des
einzelnen Radfahrers mit sinkender Anzahl von Radfahrern
tendenziell verschlechtert (-- oder verbessert, je nach dem).

Wieso? Du versuchst hier Gruppe *objektiv* zu definieren. Dein "je
nach dem" deutet schon an, dass du hier von allem möglichen absehen
musst.

Diesen Einwand habe ich nicht verstanden. Wenn Du vom
gesellschaftlichen Menschen sprichst, mußt Du auch von allem möglichen
absehen. Im übrigen bezog sich das verschlechtert oder verbessert auf
die Gruppe, nicht auf den einzelnen Radfahrer. Konkret kann man sich
vorstellen, daß sich die Situation des einzelnen Radfahrers durch
sinkende Anzahl von Radfahrern in Europa verschlechtert und in Peking
verbessert. (Davon habe ich übrigens durch dieses "je nach dem" nicht
abgesehen, sondern ich habe es ja gerade versucht, explizit mit
einzubeziehen).

Wenn aber -- und das ist ja der Knackpunkt, warum eine Vorstellung von
Gruppen für mich durchaus Sinn macht -- einige profitieren und andere
nicht, dann haben wir es nicht mit einer, sondern mit mehreren Gruppen
zu tun. (Jedenfalls nach meinem obigen "Definitions"-Versuch). Eine
Vorstellung von einer Anzahl Individuen mit ausschließlich
individuellen Interessen würde in meinen Augen gerade diesen
Unterschied verwischen. (Und eine Vorstellung von Gruppen, die
wesentliche Unterschiede verwischt, ist in meinen Augen einfach irrig,
denn sie gehört nach meinem Verständnis nicht mehr in den Bereich der
Gruppen sondern in den der (willkürlichen) Klassifikation.)

Das heißt, nach meiner Vorstellung müssen die Radfahrer nicht mal
untereinander direkt interagieren, um miteinander in Beziehung zu
stehen: Die Gruppe kann schon allein aus einem "Zusammenhang"
entstehen, der möglicherweise inhärent gar nicht vorhanden ist! --
In diesem Beispiel entsteht nämlich die Gruppe der Radfahrer nicht
durch ihre Beziehungen untereinander, sondern "nur" durch ihre
Außenbeziehungen (nämlich durch die Beziehungen zu den anderen
Verkehrsteilnehmern oder zu den Regulierungsinstanzen, Politikern
usw.).

Wie schon mal geschrieben: nenn das von mir aus auch "Gruppe". Ich sehe 
das aber keine analytische Qualität, sondern nur Beschreibung. Statt 
"Gruppe" könntest du z.B. auch "System" nehmen, oder?

Nein, ein System zeichnet sich durch einen inneren organisatorischen
Zusammenhang aus (ein System ist sozusagen immer in gewisser Weise
*selbst*-regulierend) -- das ist wieder eine andere Ebene der
"Integration".

Hat eigentlich System für Dich eine analytische Qualität oder wäre das
auch nur "metaphysisches Konstrukt"?

(Das Molekül wäre übrigens treffender als System denn als Gruppe zu
bezeichnen.) 

Zwischen Systemen und Gruppen gibt es also wieder einen wesentlichen
Unterschied. Auf gesellschaftlicher Ebene bezeichnet man Systeme als
Gemeinschaften (im Gegensatz zu Gruppen) oder eben als Gesellschaften.

Eine Anzahl von Menschen >1 nenne von mir aus Gruppe, Horde, Haufen,
Versammlung, Clan, Bande etc.

Während ich hier zumindest bei der Horde, dem Clan und der Bande von
Gemeinschaften sprechen würde, sehe ich gerade bei diesen wesentliche
(gemeinsame) Unterschiede zu einer "Gruppe" und erst recht zu einer
"Anzahl von Menschen". ("Versammlung" und "Haufen" beschreiben für
mich erstmal ganz andere Erscheinungen.)

Wenn Du zwischen einer "Bande" und einer "Anzahl von Menschen" keinen
qualitativen Unterschied erkennen kannst, dann bestärkt das nur noch
meine Überzeugung, wie wichtig solche Begriffe, die Du für überflüssig
halten möchtest, sind.

Jetzt besteht die abstrakte Schwierigkeit darin, daß ein Objekt
genau dann zu einer Gruppe gehört, wenn sein Zustand von dem der
Gruppe abhängt (bspw. von der Anzahl der zur Gruppe gehörigen
Objekte) -- Die Existenz der Gruppe aber hängt davon ab, daß
Objekte zu ihr gehören (indem deren Zustand in gewisser Weise von
dem ihrigen abhängig ist). Das ist offenbar ein Kreisschluß... und
daher lassen sich Gruppen abstrakt nicht aus einzeln betrachteten
Elementen modellieren -- im Gegensatz zu Klassen.  Eine Klasse
kann aber als Gruppe modelliert werden, wenn ihre Definition eine
Beziehung zwischen ihren Elementen oder zwischen den einzelnen
Elementen und gewissen kumulierten Eigenschaften (dieser einzelnen
Elemente) enthält.

Wie gesagt: zu abstrakt (von zu vielem Abgesehen, was Menschen ausmacht: 
die sind halt keine Objekte, Elemente etc.). So kannst du es vielleicht 
in einem Programm modellieren...

Richtig -- hier bin ich vom abstrakten her an die Sache rangegangen,
so wie man das in der Modellierung bspw. von Programmen macht. Aber Du
weißt genau, daß der Prozeß der Modellierung nicht bei den
abstraktesten Sachen stehenbleibt. Und daß gerade deshalb bei eben
diesen eine gewisse Klarheit über die konkreten Sachverhalte, die am
Ende rauskommen sollen, enorm wichtig ist.

Aber, um Deiner Aversion gegen die modellierungstechnischen
Formulierungen in dem Absatz entgegenzukommen, konkretisiere ich den
Absatz nochmal auf die menschliche Ebene (und das Begreifen
derselben):

  Ein Mensch gehört genau dann zu einer Gruppe, wenn seine Situation
  von der der Gruppe abhängt (bspw. von der Anzahl der zur Gruppe
  gehörigen Menschen) -- Die Existenz der Gruppe aber hängt davon ab,
  daß Menschen zu ihr gehören (indem deren Situation in gewisser Weise
  von der der Gruppe abhängig ist). Das ist offenbar ein
  Kreisschluß... und daher lassen sich Gruppen abstrakt nicht aus
  einzeln betrachteten Menschen heraus begreifen -- im Gegensatz zu
  soziologischen Klassifizierungen. [-- Gruppen lassen sich aber
  erst recht nicht ausgehend von der Ebene der Gruppe, welche ja als
  solche -- also unabhängig von den konkreten Individuen bzw. Menschen
  -- (wieder im Gegensatz zur Klassifizierung) gar nicht existiert,
  begreifen.] Eine Klassifizierung bzw. ein Begriff oder eine
  Abstraktion kann aber reale Gruppen beschreiben, wenn sie so gefaßt
  ist, daß sie die realen Beziehungen zwischen den Menschen als auch
  die Beziehungen zwischen den Menschen und der Gruppe eben nicht
  verwischt, sondern als wesentliches Kriterium beinhaltet.

Wo eine Gruppe ist, ist immer auch eine Klasse. Diese ist aber als
solche nicht immer leicht zu identifizieren, da die verbindende
Beziehung, die eine Gruppe ausmacht, nicht immer leicht
formalisierbar ist.

Und meine These ist, daß sich hinter den meisten im Gespräch
befindlichen "Klassen" von Menschen auch *Gruppen* verbergen, also
nicht nur Mengen von Menschen mit überlappenden Merkmalen
(bspw. Interessen), sondern auch reale Beziehungen.

Den Schluss kann ich nicht nachvollziehen: Die abstrakte Definition 
enthält keine "realen Beziehungen", sondern "Zustände". Hier holst du 
hinterrücks wieder rein, was du vorderhand rausabstrahiert hast.

Nein, das war ja auch kein Schluß, sondern eine These... Aber das Wort
Zustand ist natürlich nur innerhalb einer Datenmodellierungsdiskussion
als das verständlich, als was ich es gemeint habe, -- speziell auf den
Menschen bezogen, würde ich allgemein von seiner jeweiligen
*Situation* sprechen (was zwar letztlich nicht viel anderes sagt, aber
weniger abschreckend klingt, weil man sich darunter leichter die
"Gesamtheit der Bestimmungen, Bedingungen und Beziehungen", um welche
es letztlich geht, vorstellen kann).

Abgesehen davon ist es nicht der Anspruch der abstrakten Definition,
die realen Beziehungen selbst zu "enthalten", sondern deren
Widerspiegelung zu ermöglichen. M.a.W. Zweck dieser abstrakten
Definition ist es, Kriterium dafür zu sein, wann eine "Gruppe"
sinnvoll bestimmt bzw. begriffen wurde, und wann man einen
Gruppen-"begriff" knicken kann, weil er nichts aussagt, weil er eben
gerade keine realen Beziehungen widerspiegelt.

Allein der Ausdruck "reale Beziehung" enthält ja auch keinerlei reale
Beziehung -- er weist lediglich daruf hin, daß es einen Unterschied
gibt zwischen einem bloßen Verhältnis und einer Beziehung. Er sagt
also nichts anderes aus, daß eine "reale Beziehung" eine andere
Qualität hat, als eine konstruierte Beziehung (=Verhältnis): das
letztere wäre bspw. das Resultat eines Vergleichs von unabhängigen
Objekten und ihren "Merkmalen" (-- ja, das schließt für mich auch
Menschen ein, auch wenn da Merkmale verständlicher als Bedingungen,
Bestimmungen, Interessen usw. aufgedröselt werden müssen ;-), während
ersteres (die "reale Beziehung") auf einen "wirkmächtigen"
Zusammenhang hinweist, sprich: auf eine wie auch immer geartete
Wechselwirkung. Und nur weil in den Begriffen Beziehung
bzw. Wechselwirkung selbst noch keine konkrete Beziehung
bzw. Wechselwirkung drinsteckt, sind das noch lange keine
"metaphysischen Konstruktionen"...

Der Begriff der Gruppe dient also dazu, die Existenz und die Qualität
dieser Beziehungen zu erfassen und auszudrücken. Wichtig ist das
deshalb, weil sich die Merkmale der Elemente ohne die Gesamtheit der
Beziehungen, denen sie unterworfen sind, nicht erklären/analysieren
lassen. Verzichten könnte man auf den Begriff Gruppe, wenn diese
Beziehungen, denen die Objekte "unterworfen" sind, und ihre Qualität
für alle die gleichen oder für alle verschieden wären. Sind sie aber
nicht.

Das gilt vielleicht für die Physik ("Gruppe von Teilchen"), nicht für 
Menschen. IMHO.

Da würde ich Dich gerne trotzdem nochmal -- obwohl Du nicht im
Beweiszwang stehst -- um Erklärung bitten ;-)

Gruß,
El C.
________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de



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