[ox] Beduerfnisse, Interessen, usw. (was: Re: Interesse als Abstraktion)
- From: Stefan Merten <smerten oekonux.de>
- Date: Mon, 26 May 2003 01:25:55 +0200
Hi Liste!
Zunächst mal wieder die regelmäßige Entschuldigung für meine
Monster-Delays beim Antworten. Geht echt nicht anders wenn ich die
Aufmerksamkeit frei haben will, die ich mir für diese Liste hier
wünsche.
Dann zu diesem recht interessanten Thread. Wie öfters findet ja mal
wieder eine Debatte um die (genaue) Bedeutung bestimmter Begriffe
statt. Finde ich sehr wichtig um nicht aneinander vorbei zu schreiben
und auch weil die unterschiedlichen Bedeutungen ja schon auch
unterschiedliche Welten aufspannen.
Ich gehe nicht auf jede einzelne Mail diesen Threads ein. Ich denke,
dass unten vieles abgedeckt ist, was ich ansonsten noch in einzelnen
Replies behandelt hätte.
6 days ago Franz J Nahrada wrote:
Verallgemeinerung würd ichs nicht nennen, eher sowas wie eine
Reflexion. Das vertrackte ist, daß das Interesse die Reflexion des
subjektiven Grundes in den objektiven Handlungsgegenständen ist:
es ist tatsächlich "zwischen" ("Inter-") subjektiv und objektiv.
Also wenn Du Interesse sagst, redest Du über Gegenstände
bzw. Verhältnisse zwischen Menschen. Du sagst "Ich habe das
Bedürfnis zu rauchen", aber "Ich habe das Interesse, möglichst
unbeschränkt rauchen zu können".
Vielleicht hilft das weiter, so ganz klar bestimmt ist die Sache
noch nicht.
Ich versuche mit dieser Mail mal zu erklären wie ich die Begriffe
bisher verwendet habe. Mir scheint dabei, dass ich nahe an Franz'
Begriffsgebrauch bin.
Das Begriffsfeld was in diesem Thread kam scheint mir zu umfassen:
* Bedürfnis
* Wunsch
* Interesse (evt. in den Varianten subjektiv und objektiv)
* Selbstentfaltung (füge ich mal hinzu)
Also hier mal ein Versuch. Genau fassen kann ich es sicher auch nicht.
* Bedürfnis
Bedürfnis ist für mich etwas sehr Basales, durchaus auch
Vorbewusstes. Ein Bedürfnis können z.B. auch Säuglinge haben - ob
sie es *bewusst* haben, würde ich aber heftig bezweifeln.
Basal ist hier durchaus doppelt gemeint. Einerseits eben in der
Richtung, dass es nicht notwendig bewusst sein muss, andererseits
aber auch, dass es an basalen Bedürfnissen anknüpft - Mist rekursiv.
Was ich meine: Es gibt m.E. kein Bedürfnis ein dickes Autos zu
fahren oder wohl auch keins zu reisen. Es gibt wohl aber ein
Bedürfnis nach sozialer Anerkennung und nach anregenden Erlebnissen.
Wichtig auch der Bezug zur Welt: Der ist beim Bedürfnis für mich
erst mal nicht gegeben. Ein entscheidender Unterschied zum
Interesse. Dennoch ist das Bedürfnis für mich der Urgrund für
jegliche Handlung. Gibt es kein Bedürfnis, so gibt es keine
Handlung. Allerdings ist vom Bedürfnis bis zur Handlung des öfteren
ein weiter Weg über verschiedene Vermittlungsschritte. Das dicke
Auto z.B. kann über mehrere Vermittlungsschritte zu einer
Befriedigung des Bedürfnisses nach sozialer Anerkennung führen.
Ein Bedürfnis ist für mich auch rein subjektiv - auch wenn viele das
gleiche Bedürfnis haben können - und von daher unhinterfragbar. Es
*ist* einfach und seine Leugnung wäre für mich ein fundamental
anti-emanzipatorischer Schritt. Wie die Vermittlung bis hin zur
Handlung läuft und das Ergebnis der Handlung ist dagegen für mich
durchaus hinterfragbar. Also: nicht das Bedürfnis nach sozialer
Anerkennung leugnen sondern nur seine Vermittlungsform in Form eines
dicken Autos.
Um mal die Freie Software zu bemühen: Wenn ich mal in mich
hineinhorche - und das scheint mir die richtige Methode Bedürfnisse
zu erkennen -, dann kann ich zuweilen das Bedürfnis entdecken, ein
spannendes Problem zu lösen, mich einer Herausforderung zu stellen.
Das ist dann für mich das Bedürfnis, das zu programmierender und
nachdenkender Handlung führt. Andere Bedürfnisse, die in einem
Freien-Software-Projekt gedeckt werden können, umfassen z.B.
sozialer Austausch und Anerkennung.
* Interesse
Hatte ich bisher nicht so klar, aber Franz' Position scheint mir gut
zu treffen was ich denke: Interesse ist für mich das mit der Welt
"zu Ende" vermittelte Bedürfnis. "Zu Ende" vermittelt in dem Sinne,
dass in einer je konkreten Situation alles bedacht ist, was den je
konkreten Zustand der Welt ausmacht, und im Lichte dieser Erkenntnis
ein Interesse formuliert wird - Mist wieder rekursiv :-( . Was ich
meine: Ein Standpunkt, von dem tendenziell Handlung ausgeht.
Das Interesse ist insofern noch von der Handlung getrennt, indem es
nicht unbedingt Lösungen antizipiert. Lösungen zu finden wäre dann
ein Schritt, der noch auf dem Interesse aufsetzt.
Ein dickes Auto kann also das Interesse eines Menschen sein, wenn
sie erkannt hat, dass *das* (für sie) der Weg zu sozialer
Anerkennung ist. Es ist aber offensichtlich, dass in der Vermittlung
zwischen Bedürfnis und Welt einerseits die Welt als Faktor
wesentlich ist, andererseits die Welt durch ihre Vielfalt und
Veränderbarkeit auch viele Freiheitsgrade bietet.
Interesse wäre für mich auch immer tendenziell bewusst. Es gibt für
mich keine unbewussten Interessen - so wie es keine unbewussten
Standpunkte geben kann, sondern ein Standpunkt immer eine aktive
Handlung, ein aktives Bekenntnis voraus setzt.
Genauso kann für mich ein Interesse nur subjektiv verstanden werdenx.
Nur je ich kann mich auf einen Standpunkt begeben - übrigens alleine
oder mit anderen zusammen.
Um zur Freien Software zurück zu kommen: Interessen gibt es hier
natürlich viele. Z.B. aktuell das Interesse, Freie Software
zumindest nicht einzuschränken - wie z.B. durch Software-Patente
denkbar. Aus einem Konglomerat von Bedürfnissen bildet sich zunächst
ein Interesse an der Existenz Freier Software. Dieses Interesse
führt in Vermittlung mit der real existierenden Welt dazu, ein
Interesse an der Verhinderung von Software-Patenten zu haben. Sind
Software-Patente kein Thema mehr, so verschwindet mit ihnen das
Interesse an deren Verhinderung - nicht aber das Bedürfnis nach
Freier Software.
Was nach dieser Bildung ein "objektives Interesse" sein soll, kann
ich mir nicht vorstellen. Insbesondere wenn ich die historische
Verwendung des "objektiven Interesses" betrachte, die Franz so schön
hervorgehoben hat, dann ist das objektive Interesse *immer* nur
dafür verwendet worden, um es anderen anzudichten - und dann in
deren Namen zu handeln. Die Beispiele sind Legion. Das "objektiv" am
"objektiven Interesse" deutet ja auch gerade auf das
Überindividuelle hin - und zwar in der historischen Realität eben
genau auf das *eingebildete* Überindividuelle, was - wie Franz so
schön zugespitzt hat - eben objektiv nicht in den Individuen war.
Ein wirklich schönes Beispiel für das, was ich (hier) von der
Empire-Verwendung des Begriffs Transzendenz verstanden habe.
Sind die Interessen aber eben nicht angedichtet sondern explizit
repräsentiert - z.B. durch eine Interessengruppe - dann brauche ich
auch kein "objektives Interesse" mehr zu bemühen, dass die Menschen
eigentlich haben müssten. Dann kann ich mich auf das beziehen, was
*wirklich* ist. Dann bin ich sicher, nicht in Entfremdung
abzugleiten.
Und ich wüsste auch beim besten Willen nicht, was die Rede vom
"objektiven Interesse" im emanzipatorischen Sinne vorwärts weisendes
sein soll. Es ist für mich qua Begriffsbildung entfremdet und von
daher tendenziell über die Menschen trampelnd.
Holger: Kannst du vielleicht dich hier mal einhaken und sagen, wie
du dein Verständnis in diesen Rahmen einsortieren würdest - oder was
am Rahmen falsch ist?
Insofern möchte ich meinen ursprünglichen Einwand bekräftigen: Im
emanzipatorischen Sinne kann es kein "objektives Interesse" geben,
da es ausschließlich für entfremdete Zwecke nützlich ist. Es kann
nur subjektive Interessen geben, die individuell oder m.E. eben auch
kollektiv sein können.
Mal eine Seitenbemerkung: Was hier so schön linear aussieht ist es
natürlich nicht. In der Realität interagieren die Instanzen aller
dieser Begriffe miteinander. Insbesondere Lösungen und Interesse
können stark miteinander interagieren und auch der Zustand der Welt
interagiert natürlich mit den Interessen und - weniger stark - auch
mit den Bedürfnissen.
* Wunsch
Ein Wunsch hängt für mich zwischen dem Bedürfnis und einem
Interesse. Vielleicht so eine Art bewußt gemachtes Bedürfnis. Halte
ich nicht für einen so wichtigen Begriff, dass ich jetzt
ausführlicher darauf eingehen mag.
* Selbstentfaltung
Während der Beschäftigung mit diesen Begriffen fiel mir auch auf,
dass es auch einen starken Bezug zur Selbstentfaltung gibt.
Selbstentfaltung wird - sage ich mal so - dann maximiert, wenn die
Bedürfnisse maximal erfüllt werden. Übersetzt in Interessen bedeutet
dies, dass die Welt so aussehen soll, dass die Interessen so sind,
dass sie eine möglichst ganzheitliche Widerspiegelung aller in einer
konkreten Situation relevanten Bedürfnisse sind.
Freie Software ist als Phänomen da insofern interessant, als sie im
produktiven Sektor den Entfremdungsfaktor Tausch wegnimmt. Bei der
Entwicklung Freier Software kann ich je meinen Bedürfnissen folgen.
Ich muss sie natürlich mit der Welt vermitteln - das muss ich immer.
Aber immerhin muss ich sie nur noch mit den Teilen der Welt
vermitteln, die mich auch je konkret interessieren. Insbesondere
muss ich mich nicht mehr darum scheren, ob mein Arbeitgeber oder der
Markt gut findet was ich tue oder nicht. Wenn mich schert, wieviel
andere Leute mit den Früchten meiner Tätigkeit anfangen können, dann
muss ich mich natürlich um ähnliche Fragen kümmern, wie bei einem
Markt. Aber eben nur dann.
Mit Freien Grüßen
Stefan
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