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Re: [ox] Beduerfnisse, Interessen, usw. (was: Re: Interesse als Abstraktion)



Ref.: 	«[ox] Beduerfnisse, Interessen, usw. (was: Re: Interesse als Abstraktion)»
 		Stefan Merten (2003-05-26, 01:25:55 [PHONE NUMBER REMOVED], KW 22/2003)

Hi Stefan & Interessierte!

Leider kann ich mit wichtigen Aspekten Deiner Begriffsbestimmungen zu
Bedürfnis und Interesse nicht soviel anfangen, wie ich gerne wöllte.
Ich hoffe, der etwas wortreich geratene Versuch, meine Vorstellungen
darzustellen, wirkt nicht als Diskukiller oder so ;-) Um das ganze
nicht allzusehr ausufern zu lassen, habe ich viele direkte Bezüge
weglassen müssen in der Hoffnung, daß sie trotzdem mitgedacht werden
können...

* Bedürfnis

  Bedürfnis ist für mich etwas sehr Basales, durchaus auch
  Vorbewusstes. Ein Bedürfnis können z.B. auch Säuglinge haben - ob
  sie es *bewusst* haben, würde ich aber heftig bezweifeln.

  ...  Was ich meine: Es gibt m.E. kein Bedürfnis ein dickes
  Autos zu fahren oder wohl auch keins zu reisen. Es gibt wohl aber
  ein Bedürfnis nach sozialer Anerkennung und nach anregenden
  Erlebnissen.

  Wichtig auch der Bezug zur Welt: Der ist beim Bedürfnis für mich
  erst mal nicht gegeben. Ein entscheidender Unterschied zum
  Interesse. Dennoch ist das Bedürfnis für mich der Urgrund für
  jegliche Handlung. Gibt es kein Bedürfnis, so gibt es keine
  Handlung. Allerdings ist vom Bedürfnis bis zur Handlung des
  öfteren ein weiter Weg über verschiedene Vermittlungsschritte.
  Das dicke Auto z.B. kann über mehrere Vermittlungsschritte zu
  einer Befriedigung des Bedürfnisses nach sozialer Anerkennung
  führen.

  Ein Bedürfnis ist für mich auch rein subjektiv - auch wenn viele
  das gleiche Bedürfnis haben können - und von daher
  unhinterfragbar.  Es *ist* einfach und seine Leugnung wäre für
  mich ein fundamental anti-emanzipatorischer Schritt. ...

Erstens verstehe ich nicht, warum Du "hinterfragbar" mit "Leugnen"
gleichsetzt: wenn ich etwas hinterfrage, dann leugne ich es doch
(noch) nicht, oder?

Zweitens ergibt sich doch daraus, daß etwas *ist*, nicht, daß es nicht
hinterfragbar wäre? Gerade wenn ich davon ausgehe, daß das, was ich
meine, was ich fühle, was mir scheint usw., -- daß das alles wirklich
*ist*, entsteht doch in mir das Bedürfnis nachzufragen, *was* es denn
nun wirklich ist, das da *ist*.

Selbst Deine Beispiele -- Bedürfnis nach sozialer Anerkennung und
Bedürfnis nach anregenden Erlebnissen -- bringen zum Ausdruck, daß
Bedürfnisse sehr verschieden sein können.  Die abstrakte Formulierung
verwischt nur das, von dem Du meinst, daß es wirklich *sei*: die
soziale Anerkennung, die des einen Traum ist, ist dem andern ein
Gräuel; wenn jemand das Bedürfnis hat, dem Zwang zu "anregenden
Erlebnissen" zu entfliehen, dann nennst Du es wahrscheinlich nicht
"Bedürfnis nach abregenden Erlebnissen", sondern begreifst es als
"Anregung der anderen Art" oder so.

Damit scheint mir aber Deine Bestimmung sich darauf zu reduzieren, daß
es *Bedürfnisse schlechthin* einfach gibt.  Aber welche es denn sind
und wie ich sie als solche bestimme ist doch alles andere als
unhinterfragbar, oder?

Außerdem kann man auch an Deinen Beispielen gut erkennen, daß
Bedürfnisse nicht basal sind im Sinne von gott-gegeben, sondern daß
es sich um produzierte Empfindungen handelt: das Bedürfnis nach
anregenden Erlebnissen wird durch einseitige psychische Belastung
geschaffen, das entgegensetzte Bedürfnis nach Ruhe oder Besinnung
durch Reizüberflutung usw. Das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung
entsteht erst durch systematische soziale Nichtanerkennung
bzw. Androhung dieser.  (Von dem "Bedürfnis zu rauchen" usw. mal ganz
zu schweigen ;-)

Also: Woher weißt Du, ob ein Bedürfnis ein Bedürfnis ist oder nicht?
Womit begründest Du die Basalität eines Kandidaten für ein Bedürfnis?
Erklärst Du nicht einfach das zum Bedürfnis, was Du nicht weiter
erklären willst?  Mit der Begründung, es sei eben subjektiv?

Das Subjekt ist aber in meinen Augen keine Erkenntnismauer.  Das
Subjekt ist ja nicht von sich aus das Subjekt seiner Erfahrungen: es
ist sein Leben lang Objekt von objektiven Einflüssen
bzw. Einwirkungen, welche es sich als Erfahrung zu eigen macht, und
konstituiert sich als erfahrendes Subjekt nur unter selbigen
Einwirkungen bzw. Einflüssen.  Diese objektive Einflüsse und
Einwirkungen muß ich doch analysieren können?  (Natürlich geht das
hinwiederum nur im Zusammenhang mit ihrer Auswirkung auf das Objekt,
also in unserem Falle auf das gebeutelte Subjekt.)

Bedürfnisse sind vielleicht nur subjektiv wahrnehmbar.  Aber erstens
ist nicht alles, was ich wahrnehme, wahr und zweitens ist das, was an
meiner Wahrnehmung wahr ist, objektiv.  (Egal, ob ich es nun weiter
erklären kann/möchte oder nicht.)  Somit läßt sich die Wahrnehmung --
wenn auch nicht unmittelbar -- reproduzieren: was anderes tue ich
denn, wenn ich Karl-Heinz zu seinen Handlungsgründen befrage? Ich
versuche sie durch Abbildung zu reproduzieren (1. muß er sie in Worte
und Gedanken fassen, 2. in Sprache vergegenständlichen, und 3. muß ich
das in Sprache vergegenständlichte möglichst adäquat in meine
Gedanken- und Gefühlswelt hinein entgegenständlichen, um ihn verstehen
zu können).

  ... Wie die Vermittlung bis hin zur Handlung läuft und das
  Ergebnis der Handlung ist dagegen für mich durchaus
  hinterfragbar. Also: nicht das Bedürfnis nach sozialer
  Anerkennung leugnen sondern nur seine Vermittlungsform in Form
  eines dicken Autos.

Gerade heute darf man m.E. nicht vernachlässigen, daß es eine
Industrie gibt, deren Zweck das *Schaffen von Bedürfnissen* ist.
Wahrscheinlich würdest Du das, was da geschaffen wird, nicht Bedürfnis
sondern Vermittlung nennen, aber wie würdest Du es abgrenzen?

* Interesse

Zum Begriff des "Interesses" möchte ich mal versuchen, meine
Vorstellung vom Zusammenhang zwischen Bedürfnis, subjektivem und
objektivem Interesse zu umreißen.

Ich habe das Bedürfnis nach materieller/finanzieller Unabhängigkeit
bzw.  Sicherheit (was auch immer das sein mag und wo auch immer dieses
Bedürfnis herkommen mag).  Daher habe ich ein Interesse daran, mich
bei meinem Chef einzuschleimen.  Das Einschleimen ist aber nicht mein
Bedürfnis -- ebensowenig wie sein Effekt, daß ich jemand anders
dadurch (potentiell) verdränge -- es kann allerdings dazu führen, daß
ich das immer weiter tun muß, um dem in Gang bleibenden Mechanismus
standzuhalten. Es liegt also in meinem Interesse: subjektives
Interesse.  Wenn ich jetzt aber mal von der konkreten individuellen
Realisierungsmöglichkeit für mein Bedürfnis absehe, dann wäre mein
Interesse eigentlich: materielle/finanzielle Unabhängigkeit ohne
Einschleimen -- dazu müßte ich aber die eingefahrenen
wirtschaftshierarischen Verhältnisse verlassen bzw. ganz allgemein:
ändern. -- Objektives Interesse.  Dieses hinwiederum widerspricht
meinem subjektiven Interesse insofern, als daß ich mich bei meinem
Chef nicht gerade beliebt mache, wenn ich mich für die Veränderung der
Verhältnisse interessiere oder gar engagiere.  Obwohl auch er ein
objektives Interesse an der Veränderung hätte, da seine subjektiven
Interessen ebenso einem wichtigen Teil seiner Bedürfnisse
widersprechen.

Nochmal abstrakt das, was ich meine: Bedürfnis ist die nicht-bewußte
Reflexion dessen, was ich unmittelbar erfahre/verspüre; mein
subjektives Interesse ist das, was im Sinne der Befriedigung eines
Bedürfnisses im Rahmen meiner subjektgebundenen Möglichkeiten liegt
und meist partiell ein Bedürfnis gegen andere ausspielt. Objektives
Interesse hat man(!) an Lösungen, die sowohl die inner- als auch die
zwischenmenschliche antagonistisch-widersprüchliche Partialität der
Bedürfnisbefriedigungsmöglichkeiten überwindet, also an der
Veränderung der Bedürfnisstruktur und des Handlungsrahmens selbst über
die subjektiven Möglichkeiten hinaus.

Subjektive Interessen sind an den individuellen Erkenntnishorizont
geknüpft, da dieser ein wesentlicher Bestandteil der Schranken für
bewußtes Handeln ist.

Objektive Interessen sind nicht an meinen aktuellen Erkenntnisstand
geknüpft.  Daß heißt, es gibt objektive Interessen, wenn es Lösungen
von subjektiven Problemen gibt, die jenseits des momentanen
subjektiven Erkenntnis- und Handlungsrahmens liegen.  Und daß es
solche Lösungen gibt, drückt sich zum Beispiel sehr abstrakt aus in
Sprüchen wie "die Hälfte aller Probleme löst die Zeit" ;-) Man kann
zwar die Entwicklung des eigenen Erkenntnisrahmens und
Handlungsspielraums schlecht antizipieren, aber das sollte einen nicht
davon abhalten, darüber nachzudenken.

Solange ich also nicht im Vollbesitz der absoluten Wahrheit bin, kann
sich mein subjektives Interesse von meinem objektiven Interesse
unterscheiden.  Solange kein anderer den Stein der Weisen verschluckt
und verdaut hat, kann auch kein anderer mein objektives Interesse
endgültig feststellen.  Dennoch gibt es das und wir können daran
arbeiten, es zu erkennen.

<disclaimer> Der Autor distanziert sich ausdrücklich vom Einsatz des
"objektiven Interesses" als demagogisches Werkzeug zur politischen
Mobilisierung und zur Rechtfertigung der Ignoranz von realen
Bedürfnissen und subjektiven Interessen der Menschen.</disclaimer>


* Wunsch

  Ein Wunsch hängt für mich zwischen dem Bedürfnis und einem
  Interesse. Vielleicht so eine Art bewußt gemachtes Bedürfnis. Halte
  ich nicht für einen so wichtigen Begriff, dass ich jetzt
  ausführlicher darauf eingehen mag.

Ein Wunsch ist die Formulierung einer Vorstellung, wie ein Bedürfnis
konkret befriedigt werden kann bzw. könnte.

* Selbstentfaltung

  Während der Beschäftigung mit diesen Begriffen fiel mir auch auf,
  dass es auch einen starken Bezug zur Selbstentfaltung gibt.
  Selbstentfaltung wird - sage ich mal so - dann maximiert, wenn die
  Bedürfnisse maximal erfüllt werden. ...

"Maximal erfüllt" gefällt mir nicht.  Ich würde sagen,
Selbstentfaltung setzt voraus, daß sich die Bedürfnisse nicht durch
antagonistische-widersprüchliche Interessen bestimmt sind, sondern daß
sie sich in Übereinklang mit den Möglichkeiten zu ihrer Befriedigung
entwickeln und entfalten können.

  ... Übersetzt in Interessen bedeutet
  dies, dass die Welt so aussehen soll, dass die Interessen so sind,
  dass sie eine möglichst ganzheitliche Widerspiegelung aller in einer
  konkreten Situation relevanten Bedürfnisse sind.

Das hieße für mich, daß subjektive und objektive Interessen möglichst
deckungsgleich gemacht werden.

-->  ???  <--

Gruß,
El Casi.
________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de



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