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Re: Re: [ox] Re: Gegen die eigenen Beduerfnisse handeln?



Ref.: 	«Re: [ox] Re: Gegen die eigenen Beduerfnisse handeln?»
 		Joost Klüßendorf
 		(2003-05-27, 11:32:05 [PHONE NUMBER REMOVED], KW 22/2003)


Hallo Joost, 

Mir scheint, daß ich ein bischen mehr beginne zu verstehen, auch wenn
sich das im folgenden nicht niederschlagen sollte ;-)

Diese Komplexität ist aber nichts, was nur dem Gegenstand der
kritischen Psychologie eigen ist: kein Physiker kann die genaue
Flugbahn eines Blattes vom Baum zur Erde vorhersagen geschweige den
unter realen Bedingungen reproduzieren. 
[...]
Daraus aber einen "freien Willen" und vor allem aber die Unmöglichkeit
objektiver Erkenntnis abzuleiten, würde wahrscheinlich niemandem
einfallen (Mystiker nicht mitgerechnet).

Ich wollte den "freien Willen" nicht aus der Komplexität ableiten,
sondern die Komplexität als Alternativbegründung für meine
Argumentation anbieten, falls jemand das Konzept "freier Wille"
anzweifelt.

Ja, entschuldige, das war patzig, war aber nicht böse gemeint ;-) --
Der Akzent sollte auf der Möglichkeit objektiver Erkenntnis trotz
"unendlicher Komplexität" liegen.

Im Gegensatz zu den Humanwissenschaften ist die Physik allerdings
in der Lage, solche komplexen Vorgänge, wie das Fallen eines
Blattes, in einzelne Aspekte (Gravitation, Luftreibung, Wind)
aufzuteilen, und diese einzelnen Aspekte separat in vereinfachten
Experimenten zu behandeln.

Nein, hier handelt es sich nicht um die Lage, in der die Physik ist,
sondern um ihren _Gegenstand_ und ihre _Methode_, so wie sie sich
diese selber ausgesucht und zurecht-entwickelt hat: wöllte die Physik
den einzelnen (einmaligen!) Vorgang des Falles eines individuellen
Blattes untersuchen, dann hätte sie genau das gleiche Problem, wie die
kritische Psychologie. Sie hat aber erkannt, daß der physikalische
Erkenntnisgewinn solcher "Untersuchungen" äußerst gering ist und sich
deshalb für die Untersuchung anderer Fragen entschieden: 

Es interessiert einfach nicht mehr das exakte Verhalten eines
individuellen Apfelbaumblattes an einem lauen Herbsttag des Jahres
1512 in Venedig... sondern es geht um eine "Massenerscheinung", welche
unabhängig von der JE-weiligen Einzigartigkeit bei sehr sehr vielen
Blättern auftritt, und deren "Varianten" dann wieder interessant
werden: die von Dir genannten einzelnen Aspekte sind erst das Ergebnis
der Suche nach Einflußfaktoren, nicht der Ausgangspunkt! An einem
konkreten Fall eines individuellen Blattes lassen sich diese Aspekte
genauso wenig auseinander-experimentieren, wie sich irgendwelche
"Aspekte" aus den einmaligen Äußerungen von Karl-Heinz allein
heraus-analysieren lassen. Sonst bräuchte die Naturwissenschaft ja gar
keine Experimente im Sinne der "Reihenuntersuchung"!

Diese Möglichkeit haben die Humanwissenschaften leider nicht, der
Mensch ist in dieser Hinsicht unteilbar, wenn er handelt, dann sind
immer alle komplexen Faktoren gleichzeitig beteiligt. Daher meine
Behauptung: genausowenig wie Gallilei in der Lage gewesen wäre, aus
dem gemächlichen Dahinsegeln eines Blattes die Fallgesetze
abzuleiten, ist die Psychologie in der Lage, aus dem Handeln von
Menschen Gesetze abzuleiten.

Wie gesagt: aus der einzelnen Handlung eines einzelnen Menschen sicher
nicht. Aber warum nicht "aus dem Handeln von Menschen"? Das ist genau
die Frage nach Gegenstand und Methode des Fachs. Du nennst hier auch
noch die Psychologie und die Humanwissenschaften in einem Atem.  Sind
die gemachten Einschränkungen für alle gleichermaßen gültig?  Auf
welcher Basis spricht man dann noch von Wissenschaften (oder eben
Psycho*logie*)?

Ich behaupte nicht, dass verschiedene Beobachtungen nie
vergleichbar sind. Ich behaupte nur, dass die Beobachtungen von
handelnden Menschen nicht vergleichbar sind. Denn die Art der
Beobachtungen, die ich kenne, sind nicht in der Lage, zu
überprüfen, ob eine Situation (wozu z.B. die Gedankenwelt des
Beobachteten gehört) mit einer anderen Situation vergleichbar ist.

Doch: wenn ich den Gegenstand meiner Untersuchung einschränken würde,
dann könnte ich ihn offenbar auch systematisch untersuchen; wenn ich
ihn jedoch vorsätzlich in der Unendlichkeit möglicher Einflußfaktoren
auflöse, dann komme ich natürlich zu keiner verallgemeinerbaren
Erkenntnis, also zu keinem Ergebnis, das wissenschaftlich relevant
wäre, oder?

Zu deiner anderen Mail, Casimir, der Befragung von Karl-Heinz und
den objektiven Interessen, die damit wahrscheinlich meintest. Es
kann passieren, dass ich Dinge als mein Interesse bekunde (z.B
Ausländer rauswerfen), aber später merke, dass mir die Folgen nicht
gefallen (wenn das faschistische Regime, was ich gewählt habe, mich
im Krieg verheizt).  Dann habe ich natürlich gegen mein zukünftiges
Interesse verstoßen.

Nur, und das ist glaube ich Stefan Mz. Argument gewesen (in seiner
Mail vom 22.4.09:11), ist das von außen nicht mit letztendlicher
Sicherheit festestellbar. Ob eine andere Person ihr Handeln
("Ausländer raus !")  bereuen wird (wenn sie im Schützengraben
liegt) ist nicht klar. Selbst wenn die Folgen einer Handlung (ein
Krieg) mit großer Sicherheit vorauszusehe sind, kann niemand
wissen, wie das Individuum diese Folgen bewertet - vielleicht ist
Karl-Heinz ja stolz auf seine Uniform und die Schussverletzungen,
die seine Tapferkeit bezeugen ? Kann ich ihm trotzdem objektiv
attestieren, dass die Situation gegen sein Interesse verstößt ?

Kann ich Regeln beobachten, wenn es Ausnahmen gibt?  (Kann ich das,
auch wenn die Ausnahmen nicht einmal eindeutig identifiziert werden
können?)  Warum sollte ich das nicht können?  Nur damit sich
Karl-Heinz nicht auf den Schlips getreten fühlt, darf ich nicht
versuchen, seine Lage objektiv zu beurteilen?

Vielleicht würde es ja helfen, wenn ich verstünde, worin überhaupt
das Anliegen (und somit "der Gegenstand") der kritischen Psychologie
liegt und in welchem Verhältnis sie zu den (anderen?)
Gesellschaftswissenschaften steht... Kannst Du das vielleicht in
kurzen Worten umreißen?

Danke & Gruß,
El Casi.
________________________________
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Organisation: projekt oekonux.de



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