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Re: [ox] Re: DDR und GPL-Gesellschaft



Hi, Joost und alle!

On Freitag 07 November 2003 16:15, Joost Klüßendorf wrote:

ich darf vielleicht nochmal an den Anfang dieses Mailwechsels
erinnern.

In irgendeiner Mail kam der Satz vor:
 >> Vom Realsozialismus zur GPL-Gesellschaft wäre meiner
 >> Meinung nach ein friedlicher Übergang möglich gewesen. So
 >> wie es derzeit aussieht, erleben wir eine GPL-Gesellschaft
 >> erst nach einem Bürgerkrieg oder einem dritten Weltkrieg -
 >> wenn wir es überleben.

Ein paar Überlegungen hierzu:

1. Situation im Kapitalismus:

 * In den Bereichen, in die freie Software vordringt, macht sie
   den kommerziellen Anbietern den Markt kaputt: Microsoft ist
   z.B. nicht sehr froh über GNU/Linux.

 * Freie Software schafft hingegen neue Möglichkeiten in
   benachbarten Bereichen Geld zu verdienen, z.B. mit
   proprietären Informationsgütern, und wird von entsprechenden
   Firmen teilweise sogar gefördert. Es gibt proprietäre
   Softwareangebote für GNU/Linux, proprietäre Distributionen,
   proprietäre Dokumentationen usw. Aber auch in diese Bereiche
   dringt freie Software vor: Programme werden geclont, es gibt
   mindestens eine vollständig freie Distribution, immer mehr
   freie Dokumentation. Je weiter FS vordringt, um so weniger
   Teile des Kapitalismus hat sie für und um so mehr gegen sich. 

 * Freie-Software-Entwicklung ist momentan vom Kapitalismus
   abhängig: die Programmierer brauchen etwas zum Essen,
   Anziehen, Wohnen usw. einerseits, sowie Computer,
   Internetzugang usw. andererseits. Wird sie als eine den
   Kapitalismus überwindende Keimform betrachtet, so muß erstmal
   geklärt werden, wie sie den Kapitalismus überwinden soll, wenn
   sie von ihm abhängig ist.

 * Im Kapitalismus dient der technische Fortschritt nicht der
   Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der
   Bevölkerung, sondern der Profitsteigerung. Rationalisierungen
   führen so nicht zu Arbeitserleichterungen, sondern zu
   Entlassungen. Da freie Software an der Spitze des technischen
   Fortschritts herumhandtiert, ist sie irrsinnigerweise für die
   Arbeitslosigkeit vieler Menschen mitverantwortlich. (An
   Arbeitslosigkeit ist nicht etwa die Langeweile o.ä.
   auszusetzen, sondern, daß sie im Kapitalismus mit sozialem
   Abstieg verbunden ist.)

 * Eine Übertragung der Organisationsprinzipien (z.B.
   Organisation durch Mailinglisten, freiwillige, sinn- und
   lusterfüllte Mitarbeit, Bedarfsorientierung usw.) auf
   materielle Bereiche, d.h. Herstellung (nicht nur Entwicklung)
   von Gütern, wäre mit noch größeren Hindernissen verbunden, da
   in diesen Bereichen die Produktionsmittel nicht für jeden
   erschwinglich sind (außer solche, die hoffnungslos veraltet
   sind). 

2. Freie Software und Sozialismus -- Pro

 * Entwicklung freier Software stünde nicht im Gegensatz zu den
   kommerziellen Interessen der Entwickler proprietärer Software,
   einfach weil es innerhalb des Sozialismus keine kommerziellen
   Interessen zu geben hat. Konsequenterweise sollte jede im
   Sozialismus entwickelte Software freie Software sein.

 * Eine Unterstützung durch Konzerne wie IBM ist nicht nötig,
   wenn der Staat so schlau ist, freie Software zu unterstützen.  
 
 * Wenn Freie-Software-Entwicklung in sozialistischen Staaten
   stattfände und von dort auch die nötige Versorgung der
   Programmierer käme, d.h. nicht nur mit den Lebensgrundlagen,
   sondern auch mit Arbeitsmaterialien (Computer usw.) aus
   heimischer Produktion, wäre freie Software nicht mehr vom
   Kapitalismus abhängig, sondern wahlweise vom Sozialismus
   *oder* Kapitalismus. Ersteres halte ich für weniger tragisch.

 * Das Resultat freier Software wäre eine Verbesserung der
   Lebens- und Arbeitsbedingungen ohne Nebenwirkungen.

 * Die Ziele freier Software sind kompatibel mit denen des
   Sozialismus, die Umgestaltung seiner Organisationsprinzipien
   nach denen freier Software nur von Vorteil.

3. Freie Software und Sozialismus -- Contra

 * Momentan wird von den letzten sozialistischen Staaten wie
   China und Kuba zwar auf freie Software gesetzt, jedoch ist
   noch nicht klar, ob sie die damit verbundenen Chancen erkennen
   werden. Freie Software bloß als billige Alternative zu
   betrachten, ist wohl ein bißchen dürftig.

 * Es fragt sich, was z.B. China momentan an Hardware herstellen
   kann. Zu DDR-Zeiten haben sie z.B. 286er-PCs nachgebaut, von
   daher traue ich denen eine Menge zu. Sollten aber heutzutage
   z.B. Prozessoren und sonstige Teile aus kapitalistischen
   Ländern importiert werden müssen, wäre keine Unabhängigkeit
   gegeben.

Die Frage, ob die DDR ein geeigneter Ort für freie Software 
geworden wäre, ist schwer zu beantworten, da sie nicht mehr 
existiert. Einiges spricht jedoch dagegen:

 * Als die DDR noch existierte, gab es Linux noch nicht.

 * Die DDR war aufgrund des Embargos technisch um einige Jahre
   zurück. In den Haushalten waren damals 8-Bit-Rechner zu
   finden: Robotron KC-85er, selbstgebaute Sinclair-Z80er, sowie
   importierte C64er und Atari800er. Heute wären es
   wahrscheinlich Pentium-1-Rechner oder vergleichbare.

 * Es ist fraglich, ob es in der DDR Internetzugang für alle
   gegeben hätte. Dagegen sprechen drei mögliche Gründe: das
   Technikembargo gegen den Ostblock, Befürchtungen des Verlustes
   an Kontrolle seitens der DDR, sowie das katastrophale
   Telefonnetz, das nicht gerade auf Investitionsfreude im
   Bereich Kommunikationstechnik deutete.

 * Die rechtliche Seite ist völlig unklar. Bekanntermassen gab es
   keine gesetzlich festgeschriebene Pressefreiheit, d.h. alle
   Druckerzeugnisse benötigten eine staatliche Lizenz, der
   Sputnik wurde vorübergehend verboten usw. Andererseits wurde
   aber Software praktisch ungehindert kopiert; ebenso gab es
   fotokopierte Computerbücher (ohne daß es Fotokopierer gab).
   Dieser Punkt ist mir unklar, könnte aber möglicherweise ein
   Showstopper sein.

Ob die DDR jetzt ein "totalitäres Regime mit rotlackierten
Faschisten" war, oder ein guter oder böser Staat, ist es
glaube ich nicht.

Der Punkt, was die DDR war und welche Vor- und Nachteile sie 
hatte, ist für eine Antwort auf die Frage, ob vom 
Realsozialismus zur GPL-Gesellschaft ein friedlicher Übergang 
möglich gewesen wäre, IMHO sehr wichtig. Der Vergleich mit dem 
Faschismus zeigt, daß im Westen noch immer die irrsinnigsten 
Bildzeitungs-Horrorvorstellungen vom Sozialismus vorherrschen.

cu,
Thomas }:o{#
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"Look! They have different music on the dance floor..."
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