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Re: [ox] Wissens- und/oder Informationsgesellschaft?



Hi Karl,

Karl Dietz <karl.dietz online.de> schrieb:

Am 14 Aug 2005, um 20:15 hat Stephan Eissler geschrieben:  


Denn es macht überhaupt keinen Sinn INNHALTLICH von einem "state
of the art" zu reden, oder ein solches "state of the art" gar
einzufordern (indem man als gemeinsamen Ausgangspunkt das Lesen und
Anerkennen von ?ein-zwei einschlägigen Paper? einfordert). solange
man entlang solcher systematischer Vorüberlegungen nicht  geklärt
hat, welchen Weg man gemeinsam gehen möchte beim Versuch, ein
begriffliches Konzept für einen gemeinsamen Zweck zu entwickeln. Es
mag daher ? womöglich ? hilfreich sein, Capurro,  Klemm, Janich
und Fuchs-Kittowski gelesen zu haben (ja, ich hab unter anderem
auch diese Autoren gelesen ? und würde ihnen in meiner persönlichen
?Hitliste? zu diesem Themenbereich eher einen Platz im unteren
Mittelfeld zugestehen wollen), aber sie entbinden uns nicht der

Interessant wären ja dann - zumindest für mich - die TopTen deiner 
Hitliste.

Hier noch einige Publikationen, die ich gelesen und in unserem Zusammenhang
für sehr lesenswert weil hilfreich halte (da sie sich mit sehr
unterschiedliche Aspekte auseinandersetzen, macht eine Rangfolge natürlich
keinen Sinn). 

*Disclaimer* Diese Liste der Themenbereiche und Publikationen kann
selbstverständlich KEINEN Anspruch auf Vollständigkeit erheben und spiegelt
NUR meine Präferenzen wider... ;)

Ethymologie des Informationsbegriffs
Xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx
Eigentlich der einzige Bereich, in dem ich denke, dass Capurro im Zusammenhang
mit dem Informationsbegriff wichtiges beitragen konnte ist die sehr gute und
detaillierte Aufbereitung der Entwicklungsgeschichte des Begriffs:
* http://v.hdm-stuttgart.de/archiv/bibliothek/capurro/vorwort001.html

Nicht für Anfänger geeignet (da die unterschiedlichen Ansätze zu wenig
reflektiert, zu wenig strukturiert und didaktisch erbärmlich aufbereitet =>
damit insgesamt für Einsteiger eher verwirrend, wie auch einige Mails auf der
Liste belegten) aber sonst ein passabler Überblick über aktuelle disziplinäre
Diskussionsstränge zum Informationsbegriff:
* http://www.capurro.de/infovorl-index.htm

Geht es um einen sozialwissenschaftlichen Informations- und Wissensbegriff,
sind zwei sehr grundlegende Theoretiker für mich Peirce und Cassirer:

Symboltheorie
xxxxxxxxxxxxxx
Eine gute Einführung in Cassierers Werk im Kontext seiner Zeit, sowie
interessante Besprechungen aus der Perspektive aktueller Forschung liefert
* Sandkühler, Hans Jörg/ Pätzold, Detlev (Hg.) (2003): Kultur und Symbol. Ein
Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers. Metzler Verlag, Stuttgart

Allerdings empfiehlt sich auch das Original zu lesen:
*Cassirer, Ernst (1956): Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. Bd. 4 der
Sonderausgabe zu Cassirers Philosophie der symbolischen Formen.
Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt

Aus soziologischer Perspektive beschäftigte sich beispielsweise Norbert Elias
mit der Symboltheorie; leider verstarb er vor der Fertigstellung des Werkes.
Trotzdem lesenswert!
* Elias, Norbert (2001): Symboltheorie. Suhrkamp, Frankfurt a.M.

Zeichentheorie/Semiotik
xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx
Sehr interessant ist nach wie vor der semiotische Pragmatismus von Peirse. Um
sowohl einige Grundgedanken von Peirce kennen zu lernen, als auch ihre
Anschlußfähigkeit an aktuelle Forschungsthemen (Sprachphilosophie,
Kognitionswissenschaft usw.) eignet sich folgender Sammelband:
* Wirth, Uwe (Hg.) (2000): Die Welt als Zeichen und Hypothese. Perspektiven
des semiotischen Pragmatismus von Charles S. Peirce. Frankfurt a.M. Suhrkamp

Kypernetik/Sprachwissenschaft
Xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx
Eine recht gute Einführung in die Systemtheorie. Anschließend eine kritische
Auseinandersetzung mit der luhmannschen Systemtheorie v.a. unter Rückgriff auf
 Sprachphilosophie. Ein sehr guter Einstieg in verschiedene relevante Aspekte
für die Entwicklung eines leistungsfähigen Informations- und Wissensbegriff:
* Krieger, David J. (1996): Einführung in die allgemeine Systemtheorie. Fink
Verlag, München

Kypernetik/Neurowissenschaft
Xxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxxx
Ein absolutes Muss, um sich ein umfassendes Bild davon zu machen, um was es
beim Thema Wissen/Erkenntnis/Information geht, sind die sehr grundlegenden und
wegweisenden Arbeiten von Hein von Förster
* Förster, Heinz von (1997): Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke.
Herausgegeben von Siegfried J. Schmidt. Frankfurt a.M., Suhrkamp
* Förster, Heinz von (1985): Sicht und Einsicht. Versuche zu einer operativen
Erkenntnistheorie. Braunschweig, Vieweg

Biologische Kypernetik/ Neurowissenschaft
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* Humberto R. Maturana/ Francesco J. Varela (1984): Der Baum der Erkenntnis.
Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Goldmann

Neurowissenschaft
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schließlich und endlich kann man wohl kaum allen ernstes zu dem Thema
arbeiten, ohne die neueren Erkenntnisse der Neurowissenschaft zur Kenntnis zu
nehmen. In diesem Zusammenhang ganz hilfreich fand ich
* Roth, Gerhard (2003): Aus Sicht des Gehirns. Frankfurt a.M., Suhrkamp
* Singer, Wolf (2003): Über Bewußstsein und unsere Grenzen. In: Becker, A.
u.a.: Gene, Meme und Gehirne. Geist und Gesellschaft als Natur, S. 279-305
* Einige Beiträge aus: Pauen, Michael/ Roth, Gerhard (2001):
Neurowissenschaften und Philosophie. Fink-Verlag, München

Neurowissenschaft/Philosophie
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Zwischen diesen Forschungsansätzen besteht z.Z. ein enormes
Spannungsverhältnis, das sich in den letzten Jahren u.a. in verschiedenen
Feuilleton-Beiträgen in der FAZ wiederspiegelte. In diesem Zusammenhang enorm
spannend und hilfreich ist der Philosoph Michael Pauen.
Zur Einführung:
* Pauen, Michale (2001): Grundprobleme der Philosophie des Geistes und der
Neurowissenschaften. In Pauen, Michael/ Roth, Gerhard (2001):
Neurowissenschaften und Philosophie. Fink-Verlag, München, S. 83-122

Wer etwas tiefer einsteigen möchte, dem empfiehlt sich die Lektüre von 
* Michael Pauen (2005): Illusion Freiheit? Mögliche und unmögliche
Konsequenzen der Hirnforschung. S.Fischer

Geschichts- und Kulturwissenschaftwissenschaft
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Zum Abschluss ein sehr umfangreiches Werk mit einigen guten und enorm
spannenden Einzelbeiträgen, das ich im Zusammenhang mit unserer Diskussion
auch sehr interessant und erhellend finde:
* Dülmen, Richard van/ Rauschenbach, Sina (Hg.) (2004): Macht des Wissens. Die
Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Bölau-Verlag

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Am Ende vielleicht noch ein Wort zu Shannons Informationstheorie, die du
angesprochen hast: Hierbei handelt es sich zweifellos  um eine sehr
leistungsfähige Theorie. Allerdings hätte vermutlich sogar Shannon selbst
seine Zweifel gehabt, ob uns seine Theorie für unsere Zwecke weiterhelfen
könnte. Denn kennzeichnend für das Informationskonzept der shannonschen
Informationstheorie sind vor allem zwei Aspekte: 
(1) Die zentrale und grundlegende Annahme der Quantifizierbarkeit (und damit
(Be-)Rechenbarkeit) von Information, was jedoch nahezu zwangsläufig den
zweiten Aspekt impliziert, nämlich 
(2) die explizite Ausklammerung des ?Menschen als Rezipienten? und damit des
semantischen und natürlich erst recht des pragmatischen Aspekts von
Information. Dies erschien den frühen Vertretern des informationstheoretischen
Ansatzes zwar durchaus als problematisch, aber aus pragmatischen Gründen
dennoch als vertretbar: 
"Im Augenblick können wir in unsere Theorie kein Element einführen, das etwas
über den Wert der Information für den Menschen aussagt. Diese Ausklammerung
des menschlichen Elements ist eine sehr ernste Begrenzung, aber sie ist der
Preis, den wir bisher dafür zahlen mussten, dass wir in der Lage waren, dieses
[informationstheoretische: S.E.] System wissenschaftlicher Erkenntnis
aufzubauen. Die Beschränkungen, die wir eingeführt haben, ermöglichen es uns,
dem Begriff ?Information? eine quantitative Definition zu geben, und
Information als eine physikalisch messbare Quantität zu behandeln. Diese
Definition kann nicht unterscheiden zwischen einer außerordentlich wichtigen
Information und einer Neuigkeit, die für den Empfänger ohne großen Wert ist"
(Brillouin 1956; zit. in Rechenberg 2004:323).

Auf diesen Umstand weisen Shannon und Weaver auch selbst hin:

"Das Wort Information wird in dieser Theorie [der Informationstheorie:S.E.] in
einem besonderen Sinn verwendet, der nicht mit dem gewöhnlichen Gebrauch
verwechselt werden darf. Insbesondere darf Information nicht der Bedeutung
gleichgesetzt werden. Tatsächlich können zwei Nachrichten, von denen eine von
besonderer Bedeutung ist, während die andere bloßen Unsinn darstellt, in dem
von uns gebrauchten Sinn genau die gleiche Menge an Information enthalten.
Dies meint Shannon zweifellos, wenn er sagt, dass ?die semantischen Aspekte
der Kommunikation unabhängig sind von den technischen Aspekten"
(Shannon/Weaver 1976 zit. in: Rechenberg 2003:321).

Die Literatur zum Zitat:
* Rechenberg, Peter (2003): Zum Informationsbegriff der Informationstheorie.
In: Informatik-Spektrum Oktober 2003, S.317-326

Der Vollständigkeit halber ? auch wenn ich's nicht gelesen habe:
* Shannon, Claude E./ Weaver, Warren (1976): Mathematische Grundlagen der
Informationstheorie. München, Oldenbourg 


Schöne Grüße,
Stephan



-- 
Stephan Eissler
Institut für Politikwissenschaft
Lehrstuhl für politische Wirtschaftslehre
Melanchtonstraße 36
72074 Tübingen
Telefon 07071-309124
www.wissen-schaft.org


________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: http://www.oekonux.de/projekt/
Kontakt: projekt oekonux.de



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