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Re: [ox] exakte vs inexakte Wissenschaft



Hallo Hartmut,

HGG: Das ist ein richtig spannender Thread! Aber zunächst: was sind "exakte
Wissenschaften", wo kommen sie her, seit wann gibt es sie? Beim ollen
Faust ("habe, ach Philosophie, Juristerei und Medizin studiert...")
schien es DIESE Unterscheidung ja noch nicht zu geben.

Meine Frage war nicht von Ungefähr, denn historisch stellt es sich etwa
wie folgt dar: Bis weit ins Mittelalter (eben "Faust") war Wissenschaft
 immer holistisch gedacht - zuerst Trivium (Logik, Grammatik, Rhetorik)
zur Schulung der Ausdruckskraft, dann Quadrivium, die "eigentlichen"
Wissenschaften (Musik, Astronomie, Medizin, Juristerei). Und zwar NICHT
alternativ, sondern alles zusammen.

Das ändert sich erst eingangs der Renaissance - offensichtlich mit
Bedürfnissen des aufstrebenden Kapitalismus nach tiefgründigerem
Detailwissen auf einzelnen Gebieten des "nützlichen Wissens". Dort
spaltet sich das, was heute Naturwissenschaften heißt und einem
rationalen Kausal-Paradigma folgt, vom "Rest" der Wissenschaften ab.
Dort beginnt im Wesentlichen der "Machbarkeitswahn", der mit der
Überschätzung der eigenen Geisteskraft einhergeht, nur weil man das
Aha-Erlebnis der Kraft des eigenen Geistes hat, welches auch den
Schimpansen überwältigen mag, der planmäßig mit einem Stock eine Frucht
vom Baum geschlagen hat. In meinen cc-Thesen nenne ich das den 6. Sinn
(die sinnliche Erfahrung der Kraft des eigenen Verstands). Er ist die
Quelle eines Gefühls des "Seins wie Gott", wie es bereits im Buch
Genesis beschrieben ist (und als Gefühl vielleicht wirklich deutlich
älter ist - aber nun wird es Gesellschaft beherrschend).

Hier ist die Quelle der "exakten Wissenschaften", wobei diese Exaktheit
- und das ist der Kern der Krise der Naturwissenschaften am Ende des 20.
Jh. - vor allem aus einer Beschränktheit der Sicht folgt. Es werden aus
dem großen Kausalgefüge nur wenige Komponenten herausgenommen und
monokausale Schlussketten aufgebaut. Die Wenn-Dann-Form mathematischer
Sätze belegt das gut. Damit bleibt die komplexe "Lebendigkeit"
wirklichen Seins außen vor, die in den Geisteswissenschaften -
wenigstens auf der Ebene der Paradigmen - nie verloren gegangen ist.

Mit dem Patentwesen und seinen Ausweitungen soll nun dieser eigentlich
bereits funktional überlebte Klein-Klein-Ansatz zementiert werden. Das
ist genau der Punkt, zu dem Moglen schreibt "the dogma of bourgeois
property comes into active conflict with the dogma of bourgeois freedom".

PILCH Hartmut wrote:
Naturwissenschaft ist die Wissenschaft, deren Erkenntisse durch -- 
bei wiederholung immer gleich verlaufende -- Experimente mit 
Naturkräften verifiziert werden können. 

Aber nur unter vorgegebenen Bedingungen! Wenn das Bedingungsgefüge zu
komplex wird, dann ist dieser Ansatz am Ende.

Mathematische Erkenntnisse lassen sich nur beweisen, nicht
verifizieren. Die Mathematik ist ein Begriffsgerüst, das sich für
beliebige Wissenschaften einsetzen lässt, ...

In der Tat, aber Mathematik (wie im Übrigen auch Informatik und
Philosophie) ist kein "Begriffsgerüst", sondern ein "Denkgerüst" bzw.
noch genauer die Wissenschaft von den Denkgerüsten (quantitativer
Ausprägung). Insofern ist sie keine Naturwissenschaft (die als
Gegenstand die ERKLÄRUNG von Naturphänomenen eines bestimmten Zuschnitts
hat), sondern eine Querschnittswissenschaft, die diesen
Naturwissenschaften Denkwerkzeuge liefert.

... aber besonders bei denjenigen erfolgreich ist, deren Hypothesen
sich zuverlässig verifizieren lassen.

Oder umgekehrt als Rechtfertigungsinstrument dient: "Zahlen lügen
nicht". Dass bereits die Modellierung, auf deren Basis die Zahlen
produziert werden, hinterfragbar sein muss, geht dabei gern verloren.
Erlebe ich besonders immer wieder bei Physikern, wenn über Ja oder Nein
von Atomkraft debattiert wird. Der durch Zahlen suggerierte
Beherschbarkeitsgedanke sitzt dort extrem fest. Ist eine spezielle Art
von "Gläubigkeit".

Bei den "Geschäftsmethoden", die die Patentlobby ausschließen wollte,
handelte es sich wohl nur um die nicht in klar vorhersehbare Regeln
fassbaren, unvorhersehbaren Vorgänge aus dem sozialwissenschaftlichen
Bereich. Alles andere war für sie schon "technisch".

Eben "Machbarkeitswahn". Allerdings wird man da kaum mit einem Ruck
rauskommen. Kant unterscheidet hier den "öffentlichen Gebrauch der
Vernunft zum Raisonnieren" und den "privaten Gebrauch der Vernunft zum
Handeln". Letzteres muss verantwortungsbeladen geschehen, wenn eine
Gesellschaft aus autonomen Subjekten bestehen soll, aber damit das
Beladen mit Verantwortung möglich ist, muss Verantwortungsfähigkeit
(Handeln nach dem "Stand der Technik") herstellbar sein. Und die ist nur
möglich, wenn alle "Puzzlestücke" des "öffentlichen Raisonnierens" auf
dem Tisch liegen, dessen Ergebnisse also inhärent freizügig zugänglich
sind. Jörg Wittenberger hat das schön in seinem Askemos-Ansatz
ausgelotet. Kennst du das? http://www.askemos.org

Die bürgerliche Gesellschaft steht sich an der Stelle inzwischen selbst
im Weg. Deshalb auch der harte Einstieg der Wissenschaft in diese
Debatte, etwa http://www.urheberrechtsbuendnis.de, was sonst eigentlich
nicht ihre Art ist.

Die Unterscheidung zwischen "Naturwissenschaft" und "exakter
Wissenschaft" war schließlich einer der Augenöffner, die diese
Täuschungen zum Scheitern brachten.

Das habe ich nicht verstanden. Naturwissenschaft in dem Sinne, dass sie
inzwischen mehr als exakte Wissenschaft ist, weil sie auch (wieder)
komplexe Phänomene thematisiert, die sich nicht in monokausale
Zusammenhänge zerlegen lassen?

Viele Grüße, HGG

-- 

  Prof. Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig
  Augustusplatz, D-04109 Leipzig, Raum 5-53	
  tel. : +49 341 97 32248
  email: graebe informatik.uni-leipzig.de
  Home Page: http://www.informatik.uni-leipzig.de/~graebe

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