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Re: [ox-de] Text zu Keimformen bzw. der Entwicklung sozialer Vermittlungsmechanismen



Hi Stefan,

danke fÃr deinen Kommentar & sorry dass es mit der Antwort so lange
gedauert hat. Danke auch fÃr die Links; ich kannte die beiden Texte
schon und kann sehr viel damit anfangen. Im Folgenden will ich anhand
nur eines Zitates aus deinem Text auf die aus meiner Sicht zentralen
Unterschiede zwischen unseren Sichtweisen eingehen.

Das von uns gemachte tritt uns als Fremdes entgegen, als etwas, von
dem wir beherrscht werden

Um diesem Satz als reine Aussage â nicht als Kritik, dazu weiter unten â
zustimmen zu kÃnnen, muss ich hier von zwei unterschiedlichen
Wir-Begriffen ausgehen: Wenn uns etwas als fremd gegenÃber tritt, dann
heiÃt das, mir, dir, ihr, ihm und ihnen tritt etwas als fremd gegenÃber;
"wir" meint hier nicht mehr als eine Summe von Individuen. Dieselbe
Bedeutung findet sich in der Aussage, dass wir von etwas beherrscht
werden.

Davon zu unterscheiden wÃre das Wir in der Feststellung, dass dieses
Etwas von uns gemacht ist/wurde: Ich widersprÃche der Annahme, dass
"wir" als Summe von Individuen dieses Etwas geschaffen haben; dass diese
Individuen hier als Subjekte betrachtet werden kÃnnen. "Wir" muss hier
als soziale EntitÃt begriffen werden, als mehr als die Summe der
Individuen. Das Subjekt (wenn man Ãberhaupt von einem sprechen will) ist
hier das Kollektiv als solches.

Allgemein betrachtet ist ja sehr fraglich inwieweit es Ãberhaupt
sinnvoll ist, nach dem Subjekt von Selbstorganisation oder Emergenz zu
fragen. Ich wÃrde es jedenfalls strikt ablehnen, diesen Status ganz
grundsÃtzlich den Teilen von sich selbstorganisierenden Gesamtheiten
zuzusprechen â es klingt vielleicht etwas metaphysisch, aber ich wÃrde
in Bezug auf den Prozess am ehesten diesen selbst als Subjekt fassenâ
Das ist auch der Grund, warum ich oben gemeint habe "wenn man Ãberhaupt
von einem Subjekt sprechen will" â denn hier lÃst sich der
Subjektbegriff ja eigentlich auf.

ZurÃck zum Ausgangszitat. Auf Grundlage dieser Bemerkungen kÃnnte man
sagen: Na selbstverstÃndlich tritt uns Individuen das von uns (als
Gesamtheit) gemachte als Fremd, als etwas von dem wir beherrscht werden,
gegenÃber â schlieÃlich sind und waren wir ja nie Subjekte, sondern
lediglich Teile dieser Gesamtheit. So verstanden kann und muss ich der
Aussage also zustimmen. Nun aber zu ihrer eigentlich kritischen
StoÃrichtung: du strebst eine Gesellschaft an, "die wir dann tatsÃchlich
als ganze und von uns geschaffene erfahren, die uns nicht mehr als
fremde, sondern als eigene entgegentritt".

Eine Gesellschaft, die wir als von uns Individuen geschaffene erfahren,
wÃre meines Erachtens keine Gesellschaft im eigentlichen Sinn, sondern
lediglich eine Summe von Individuen. Eine Kritik an gesellschaftlichen
Vermittlungsmechanismen Ãber die wir nicht Herr sind, geht also meines
Erachtens in Leere, weil Gesellschaft als eigene EntitÃt, als emergentes
PhÃnomen eben solche Mechanismen bedingt.

Gehen wir mal in die Praxis: Mir ist vorhin etwas ganz AlltÃgliches
passiert. Ich wollte den Begriff Paradoxon verwenden, habe schnell die
Wikipedia aufgeschlagen und war relativ bald kurz davor Kopfschmerzen zu
bekommen â ich habe die Seite also schnell geschlossen und entschieden,
den Begriff einfach nicht zu verwenden. Das Lesen der Wikipedia gibt mir
immer wieder ein Ãhnliches GefÃhl, wie wenn ich in eine Kirche gehe: das
GefÃhl von Ohnmacht, ich fÃhle mich winzig klein und unbedeutend.

Die Wikipedia aufzuschlagen heiÃt, einer mÃchtigen Gesamtheit ins Auge
zu blicken. Selbst wenn ich mitschreiben kann, ist die Gesamtheit nicht
meine; sie tritt mir als fremd gegenÃber. Noch viel, viel
offensichtlicher ist das bei Freier Software: So sehr ich mich bemÃhe
die Dinge zu verstehen und obwohl ich durchaus als technikaffin
bezeichnet werden kÃnnte â der Linux Kernel bzw. GNU Hurd oder einfach
Elemente wie der XServer sind nach wie vor BÃcher mit Sieben Siegeln fÃr
mich. Und da spreche ich noch gar nicht von jenen zig Teilen meines
Betriebssystems, die zwar fÃr den alltÃglichen Betrieb keineswegs
weniger notwendig sind, die ich aber nicht einmal benennen kann.

Ich verbringe wirklich relativ viel Zeit in der Auseinandersetzung mit
Freier Software â nicht dass ich programmieren kÃnnte, ich setze mich
halt gezielt mit den Bugs die ich habe auseinander & versuche ihre
Ursachen festzumachen. Die Handlungen die ich da setze sind immer auch
als Aneignungsprozesse zu begreifen; und jene Elemente meines Systems,
mit denen ich bisher die meisten Probleme hatte, mit denen ich mich
daher auch am meisten auseinandergesetzt habe, erlebe ich am ehesten als
"meine" â am *ehesten*. Es wÃre trotzdem vÃllig absurd zu behaupten, ich
wÃrde etwas vom radeon-Treiber verstehen. Dieses kleine DrecksstÃck
Software tritt mir trotz unzÃhliger Tage und NÃchte der
Auseinandersetzung in den letzten 7 Jahren als vÃllig fremd gegenÃberâ

Und ich bin ja noch ein fortgeschrittener User â ich habe aber etliche
FreundInnen die man getrost als "normale UserInnen" bezeichnen kann, die
sich im Laufe der letzten Jahre entschlossen haben Ubuntu oder Debian
Stable zu verwenden. Zu behaupten, sie wÃrden diese Welt, die sich auf
ihrem tÃglichen Desktop abspielt nicht als fremd wahrnehmen (ganz
besonders wenn etwas nicht so funktioniert wie erwartet), wÃre eine
zumindest sehr gewagte These.

Um das alles nochmal auf den Punkt zu bringen: Meine hier vorgebrachte
Kritik richtet sich kurz gesagt gegen die Vorstellung eines
Subjektstatus von menschlichen Individuen in Bezug auf den
gesellschaftlichen Prozess â und damit gegen die Macht der Ideen.
Zugleich negiere ich die MÃglichkeit einer "Nicht-Gesellschaft"; also
einer solchen, die keine Gesamtheit ist & die den Individuen daher als
nicht fremd, oder besser gesagt gar nicht entgegentritt (weil wir ja
hier nur eine Summe von Individuen imaginieren). Anders gesagt: Der
gesellschaftliche Prozess ist in meinen Augen nicht nur als eigene
EntitÃt anzuerkennen, sondern darÃber hinaus als Subjekt seiner selbst
zu fassen.

Nochmal zu den nicht gerade optimal gewÃhlten und ausgefÃhrten
Beispielen aus der Praxis: Jimmy Wales ist nicht Subjekt in Bezug auf
die Entstehung der Wikipedia â er ist, wie Ludwik Fleck sagen wÃrde â
lediglich deren FahnentrÃger. Dasselbe gilt fÃr Linus Torvalds und die
ganzen anderen, in meinen Augen etwas nervigen "HeldInnen". Subjekte
hier wie Ãberall wÃren die beteiligten Kollektive *als solche*, also
eben nicht als Ansammlung von Individuen.

Bevor ich mich immer weiter wiederhole mach ich hier mal Schluss. Sorry,
wenn ich etwas langatmig bin, ich tu mir wirklich schwer dabei mich
kÃrzer zu fassenâ

Liebe GrÃÃe,
Stefan.



Am Mittwoch, den 07.09.2011, 01:10 +0200 schrieb Stefan Meretz:
Hi Stefan!

On 2011-09-05 20:12, Stefan Nagy wrote:
Ich hab den Text auf unserem Weblog [2] unter dem Titel
"Gesellschaftstheoretische Gehversuche 01" verÃffentlicht, es gibt
dort auch eine PDF-Version; wÃrd mich sehr Ãber
Kritik/Anmerkungen/etc. freuen.

Ich hab' das als Kommentar geschrieben:

Exzellente Reflexion Ãber die Problematik gesellschaftlicher 
Transformation, auf der HÃhe der Zeit, wÃrde ich sagen!

In Details hÃtte ich ein paar EinwÃnde, aber die stelle ich hinten an. 
Wichtiger scheint mir, die aus meine Sicht richtige und zentrale Frage 
von dir noch etwas zuzuspitzen -- in dem Sinne, dass ich hoffe, dass die 
Frage richtig zu stellen, schon etwas von der mÃglichen Antwort 
hervorbringt. Du bestimmst den Wert -- Âals Realabstraktion von Arbeit 
schlechthin -- als ÂMittel der VergesellschaftungÂ, als Âspezifisches 
Mittel der gesellschaftlichen VermittlungÂ, als Âgesellschaftlicher 
SelbstorganisationsmechanismusÂ.

Klammer auf: Bei Selbstorganisation ist immer die Frage, was das 
ÂSelbst darin ist, dass Âsich dort organisiert, und die Antwort ist: 
das Kapital als automatisches Subjekt. Es stellt den 
Vermittlungszusammenhang her, aber genau besehen sind Âwir das, denn 
das Kapital ist die selbstreflexive Existenzform von Arbeit und Wert. Das 
heiÃt: Das von uns gemachte tritt uns als Fremdes entgegen, als etwas, 
von dem wir beherrscht werden. Es ist genau diese Quasi-
Naturgesetzlichkeit, die Marx sein Leben lang zu analysieren bestrebt 
war. Du sprichst das im ersten Teil an. Und Ãbrigens ist ÂDialektik 
nicht, WidersprÃche Âin Wohlgefallen aufzulÃsen, sondern im Gegenteil 
zur Geltung zu bringen, auf den Begriff zu bringen. Klammer zu.

Wenn also der Wert die gesellschaftliche Vermittlungsinstanz ist, die es 
aufzuheben gilt, dann ist die logisch zwingende Frage, was die 
gesellschaftliche Vermittlung denn dann in der Lage ist zu leisten -- 
ohne von personalen Herrschern und unpersonalen StrukturzwÃngen nach 
fremden Imperativen einer Zwangsvermittlung unterworfen zu werden. Ich 
wÃrde da nicht vom Âgesellschaftlichen Kitt sprechen, weil eine solche 
Redeweise ein AuÃenverhÃltnis impliziert: Da muss etwas dazu kommen, der 
Kitt eben, was die Verbindung, Vermittlung und Verallgemeinerung 
leistet. Damit ist klar, erstes Kriterium, es muss sich um eine 
immanente Vermittlung handeln, also ein Prozess, der sich selbst aus 
sich selbst erzeugt. Wenn dies kein fremder sein soll, zweites 
Kriterium, ist es nur denkbar, dass es die Menschen selbst sind, die 
diese Vermittlung hervorbringen. Es handelt sich also um einen bewussten 
Akt, dies jedoch nicht in dem Zentralplanungssinne, dass einige fÃr alle 
anderen die Dinge vermitteln, was zu Einschluss-Ausschluss-VerhÃltnissen 
fÃhrt, sondern, drittes Kriterium, es mÃssen alle in diesen 
Vermittlunsgprozess eingeschlossen sein, so dass alle auf der Welt mit 
allen auf der Welt verbunden sind. Wie ist also der soziale Prozess auf 
der ÂMikroeebene beschaffen, dass eine Verallgemeinerung (besserer 
Begriff als ÂSummeÂ) jene Gesellschaft ergibt, die wir dann tatsÃchlich 
als ganze und von uns geschaffene erfahren, die uns nicht mehr als 
fremde, sondern als eigene entgegentritt.

Damit stoppe ich mal. Habe ich jetzt spekuliert? Vielleicht im 
Hegelschen Sinne. Ich habe einfach nur versucht, deine Denkrichtung 
weiterzutreiben. Ich hoffe, du kannst was damit anfangen. Es ginge noch 
weiter...

Das kennst du?:
http://www.keimform.de/2011/fuenfschritt-methodische-quelle-des-keimform-ansatzes/
http://www.keimform.de/2011/faq-zum-fuenfschritt-und-zum-keimform-ansatz/

Ich habe fÃr Keimform noch einen Text in Arbeit, nÃmlich zur Frage der
gesellschaftlichen Vermittlung. Der wird aber noch etwas brauchen.

Ciao,
Stefan



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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: http://www.oekonux.de/projekt/
Kontakt: projekt oekonux.de



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