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Re: Wertabspaltung (war: Re: [ox] Re: Kooperation und den "Keimformen" auf der Spur)



Annette Schlemm schrieb u.a.:
...
... Und Werlhof ist ja sicher eher bekannt als Scholz. (Liest sich auch
besser).Über die konkreten Unterschiede hab ich inzwischen was im OT-Projekt
Feminismen.
Danke für das Zitat aus Scholz zur Verdeutlichung, es relativiert meine
Kritik berechtigt. Was ich noch nicht sehe, ist, daß Scholz ihre Position 
anschaulich machen könnte.

Bitte, bitte, erklär doch mal eine/r die Wert-Abspaltung so, daß auch ein
Nicht-Wert-kritisch-Vorgebildeter sie sich vorstellen kann....
(dies ist eine ernst gemeinte Bitte, muß ja nicht hier auf der Liste sein,
sondern wenn mirs jemand zumailt, würde ich gern eine Webseite draus machen
und die dann empfehlen).
...
Ahoi Annette

Hallo Annette,
vielleicht hilft Dir der folgende Ausschnitt aus einem Interview weiter.
Gruß Uli


WAS IST WERTKRITIK? 
Antwort auf Fragen der Studentenzeitschrift "Marburg-Virus" über den Begriff 
der Wertkritik und ihr Verhältnis zu linker Theorietradition, Feminismus, 
Dekonstruktivismus, Kulturalismus 
Dieses Interview mit Ernst Lohoff und Robert Kurz für die KRISIS-Redaktion 
wurde 1998 in der Zeitschrift MARBURG-VIRUS veröffentlicht. 
(Ist in voller Länge auch unter "krisis.org" zu finden. Vielleicht bald auch 
in "ot". Es könnte der Basis-Text für ein "Krisis"-Projekt/-Diskussion sein"

**************************** Ausschnitt Interview ***************************

Frage 4: Wie sieht die Integration feministischer Ansätze in Eure Wertkritik 
aus? Was heißt das konkret: "Der Wert ist der Mann" (Roswitha Scholz)? 

Antwort: Wie die meisten Theorie-Gruppen war und ist auch der 
Krisis-Zusammenhang keineswegs zufällig männlich dominiert; ist doch die 
moderne theoretische Sphäre als solche schon männlich konnotiert und Moment 
eines bestimmten Geschlechterverhältnisses. Insofern haben wir die Wertkritik 
auch zunächst über weite Strecken entwickelt, ohne das "störende" und irgendwie 
querliegende Problem des Geschlechterverhältnisses systematisch aufzunehmen, 
das zwar wahrgenommen, aber nicht mit der Wertkritik vermittelt werden konnte. 
Im Grundsätzlichen schien es sich ähnlich wie etwa bei der Politik rein 
"ableitungstheoretisch" und also subsumierend um eine unter mehreren aus dem 
Wert herausgesetzten gesellschaftlichen Sphären zu handeln (ungefähr wie Eva 
aus der Rippe des Adam entsprossen sein soll). 

Dieses Verständnis des Geschlechterverhältnisses, das nur die einschlägige 
Position des Arbeiterbewegungs-Marxismus wertkritisch "übersetzte", wurde 
jedoch durch die feministische Intervention von Roswitha Scholz durchbrochen, 
die sich als eine der wenigen unter den theoretisch aktiven Feministinnen auf 
die Wertkritik der Krisis positiv, wenn auch distanziert bezog. Aus diesem 
Bezug entstand schließlich ein eigenständiger theoretischer Ansatz, dem das 
Kunststück gelungen zu sein scheint, die Geschlechterfrage weder unter einen 
vermeintlich geschlechtsneutralen Allgemeinbegriff der Gesellschaft zu 
subsumieren noch dazu bloß parallel und unvermittelt zu setzen (in keiner 
Frage blamiert sich der Soziologismus derart wie in dieser). 

Diese Argumentation, die zunächst in einem Artikel mit dem polemisch 
zuspitzenden Titel "Der Wert ist der Mann" publiziert wurde, läuft im Kern 
darauf hinaus, dass der reale Totalitätscharakter des Werts bestritten wird; 
aber eben nicht von einem soziologistischen oder kulturalistischen Standpunkt 
aus, der die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen gegen das Wesen auszuspielen 
versucht (wie z.B. der Dekonstruktivismus), sondern in dem Sinne, dass der 
inhärente Anspruch der Wertabstraktion, sich die gesamte Welt von Mensch und 
Natur total zu subsumieren, real uneinlösbar ist. Die Durchsetzungsgeschichte 
des Werts kann also gar nicht zu einem absoluten Ende kommen, ebenso wenig wie 
die Formabstraktion des Werts jemals ohne Naturstoff und ohne real verausgabte 
Arbeitssubstanz zu ihrem eigenen Inhalt werden kann (auch wenn dies im 
Kasinokapitalismus suggeriert wird). 

Es gibt also immer Momente, Bereiche und Tätigkeiten, die sich ihrer Natur 
nach der Wertabstraktion sperren und darunter gar nicht oder nur unter größten 
Friktionen subsumiert werden können. Dazu zählen u.a. der in der Moderne als 
"Hausarbeit" bezeichnete Bereich, Kindererziehung, Altenbetreuung, an sich 
immaterielle und unökonomische Beziehungen wie "Liebe", Zuwendung usw. Die 
Wertvergesellschaftung hat auf dieses Problem reagiert, indem sie alle diese 
Momente und Bereiche, soweit sie nicht der "Inwertsetzung" unterworfen werden 
konnten, von der offiziellen Totalität "abgespalten" und sozialhistorisch als 
Aufgabe an "die Frau" delegiert (und gleichzeitig als "inferior" gesetzt) hat. 

Die Totalität des Werts ist also gar nicht die wirkliche Totalität, sondern es 
gibt eine Rückseite oder einen Schatten, der davon nicht direkt erfasst ist, 
aber dennoch dazugehört. Denn diese Momente und Bereiche stellen ja kein 
unabhängiges Jenseits des Werts dar, sondern sie sind eben per definitionem 
das vom Wert Abgespaltene und insofern mit diesem dialektisch verbunden. Die 
wirkliche Totalität wären also der Wert und das von ihm Abgespaltene als 
dialektische Einheit. Man/frau müsste insofern statt vom Wertverhältnis vom 
Wertabspaltungs-Verhältnis sprechen; und Wertvergesellschaftung in diesem 
Sinne schließt immer schon das Mitdenken der Abspaltung ein. Im Kontext der 
Wertkritik wurde dieser ganze Ansatz schließlich als Abspaltungstheorem 
bezeichnet. 

Das Abspaltungstheorem meint natürlich nicht, dass Frauen ausschließlich dem 
abgespaltenen Bereich angehören und Männer grundsätzlich außerhalb der 
abgespaltenen Momente stünden. Aber das Geschlechterverhältnis als 
Strukturverhältnis ist in der Moderne gewissermaßen wesenslogisch auf das 
Abspaltungsproblem zentriert, was sich sowohl historisch als auch empirisch 
zeigen lässt. Grundsätzlich und bis heute (die Postmoderne eingeschlossen) 
sind die Haushaltstätigkeiten, die Versorgung von Kleinkindern usw. 
gesellschaftlich auf die Frauen konzentriert. Soweit Frauen mehr als früher 
berufstätig sind, werden sie im Unterschied zu Männern "doppelt 
vergesellschaftet" (Regina Becker-Schmidt). Innerhalb der warenproduzierenden 
"Arbeit" bleiben sie systematisch benachteiligt, werden beruflich auf "sinkende 
Schiffe" gesetzt oder konzentrieren sich in sogenannten "weiblichen" Berufen, 
sind auf den Kommando-Ebenen unterrepräsentiert usw. Alles, was außerhalb oder 
unterhalb der Geldebene stattfinden muss, wird selbst noch in den Slums bei 
völlig zerfallenen Familienstrukturen nach wie vor an die Frauen delegiert. 
Auch die dazugehörigen geschlechtsfetischistischen Konnotationen, 
zugeschriebenen "Eigenschaften" usw. setzen sich bis in die Ausdrucksformen des 
sexuellen Begehrens hinein durch alle Brüche und Umformungen der 
Wertvergesellschaftung hindurch fort. 

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass das Abspaltungstheorem eine 
theoretische Integration leistet, die das bisher ungeklärte Problem der 
logisch-historischen Beziehung von Geschlechterverhältnis und 
gesellschaftlicher Grundstruktur (Wert) löst und einen unvermittelten 
Parallelismus ebenso vermeiden kann wie eine bloße Subsumtionslogik. Damit ist 
der feministische Ansatz natürlich noch lange nicht bruchlos in die Wertkritik 
integriert. Zum einen steht der wertkritisch-abspaltungstheoretische Durchgang 
durch die feministische Theorie an, um das Abspaltungstheorem 
theoriegeschichtlich und gesellschaftlich genauer zu positionieren. Zum andern 
ist die wertkritische Diskussion und Theoriebildung, soweit sie sich nicht 
direkt auf das Geschlechterverhältnis bezieht, bis jetzt keineswegs 
ausreichend mit diesem neuen Ansatz vermittelt und die Konsequenzen sind noch 
lange nicht ausgelotet. 

Die Weiterentwicklung der Wertkritik durch das feministische 
Abspaltungstheorem, so unabgeschlossen sie ist, wird gegenwärtig überlagert 
durch die beginnende polemische Auseinandersetzung mit dem Dekonstruktivismus. 
Während das Abspaltungstheorem noch vor zehn oder fünfzehn Jahren in der 
feministischen Debatte vielleicht Furore gemacht hätte, trifft es heute auf
einen seinerseits abgerüsteten Feminismus, der seinen Frieden mit dem 
warenproduzierenden System gemacht hat. Ebenso wenig wie in der "männlichen" 
Theorie wurden die marxistischen Bezüge, der fetischistische "Arbeits"-Begriff 
und das Problem der Wertabstraktion in der feministischen Theorie kritisch 
überwunden und aufgehoben. 

Auch in der Frauenbewegung avancierte stattdessen der 
Postmodernismus/Dekonstruktivismus zur modischen Entsorgungs- und 
Abrüstungsideologie von radikaler Gesellschaftskritik. Weiblein wie Männlein 
erfreuen sich gerade deswegen an der "Inspiration" durch den feministischen 
Dekonstruktivismus von Judith Butler, weil dabei im krassen Gegensatz zum 
Abspaltungstheorem von Roswitha Scholz das Wertverhältnis und die tiefsitzende 
Struktur der Abspaltung überhaupt nicht berührt werden. Die systematische 
Ausblendung der Wertform und damit des Kapitalismus erlaubt eine 
"diskurs"-soziologistische, enthistorisierte Verkürzung des 
Geschlechterverhältnisses und eine Oberflächenstrategie, die sich auf eine 
Art performativen Geschlechterfasching beschränkt, ohne die sozialhistorischen 
Grundstrukturen der negativen Wertabspaltungs-Totalität in Frage stellen zu 
können. Auch in der Kritik des kapitalistischen Geschlechterverhältnisses 
muss es also zum Show-down zwischen Wertkritik und 
Postmodernismus/Dekonstruktivismus kommen. 

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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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