Re: Wertabspaltung (war: Re: [ox] Re: Kooperation und den "Keimformen" auf der Spur)
- From: UlrichLeicht t-online.de (Ulrich Leicht)
- Date: Sun, 17 Jun 2001 12:10:18 +0200
Annette Schlemm schrieb u.a.:
...
... Und Werlhof ist ja sicher eher bekannt als Scholz. (Liest sich auch
besser).Über die konkreten Unterschiede hab ich inzwischen was im OT-Projekt
Feminismen.
Danke für das Zitat aus Scholz zur Verdeutlichung, es relativiert meine
Kritik berechtigt. Was ich noch nicht sehe, ist, daß Scholz ihre Position
anschaulich machen könnte.
Bitte, bitte, erklär doch mal eine/r die Wert-Abspaltung so, daß auch ein
Nicht-Wert-kritisch-Vorgebildeter sie sich vorstellen kann....
(dies ist eine ernst gemeinte Bitte, muß ja nicht hier auf der Liste sein,
sondern wenn mirs jemand zumailt, würde ich gern eine Webseite draus machen
und die dann empfehlen).
...
Ahoi Annette
Hallo Annette,
vielleicht hilft Dir der folgende Ausschnitt aus einem Interview weiter.
Gruß Uli
WAS IST WERTKRITIK?
Antwort auf Fragen der Studentenzeitschrift "Marburg-Virus" über den Begriff
der Wertkritik und ihr Verhältnis zu linker Theorietradition, Feminismus,
Dekonstruktivismus, Kulturalismus
Dieses Interview mit Ernst Lohoff und Robert Kurz für die KRISIS-Redaktion
wurde 1998 in der Zeitschrift MARBURG-VIRUS veröffentlicht.
(Ist in voller Länge auch unter "krisis.org" zu finden. Vielleicht bald auch
in "ot". Es könnte der Basis-Text für ein "Krisis"-Projekt/-Diskussion sein"
**************************** Ausschnitt Interview ***************************
Frage 4: Wie sieht die Integration feministischer Ansätze in Eure Wertkritik
aus? Was heißt das konkret: "Der Wert ist der Mann" (Roswitha Scholz)?
Antwort: Wie die meisten Theorie-Gruppen war und ist auch der
Krisis-Zusammenhang keineswegs zufällig männlich dominiert; ist doch die
moderne theoretische Sphäre als solche schon männlich konnotiert und Moment
eines bestimmten Geschlechterverhältnisses. Insofern haben wir die Wertkritik
auch zunächst über weite Strecken entwickelt, ohne das "störende" und irgendwie
querliegende Problem des Geschlechterverhältnisses systematisch aufzunehmen,
das zwar wahrgenommen, aber nicht mit der Wertkritik vermittelt werden konnte.
Im Grundsätzlichen schien es sich ähnlich wie etwa bei der Politik rein
"ableitungstheoretisch" und also subsumierend um eine unter mehreren aus dem
Wert herausgesetzten gesellschaftlichen Sphären zu handeln (ungefähr wie Eva
aus der Rippe des Adam entsprossen sein soll).
Dieses Verständnis des Geschlechterverhältnisses, das nur die einschlägige
Position des Arbeiterbewegungs-Marxismus wertkritisch "übersetzte", wurde
jedoch durch die feministische Intervention von Roswitha Scholz durchbrochen,
die sich als eine der wenigen unter den theoretisch aktiven Feministinnen auf
die Wertkritik der Krisis positiv, wenn auch distanziert bezog. Aus diesem
Bezug entstand schließlich ein eigenständiger theoretischer Ansatz, dem das
Kunststück gelungen zu sein scheint, die Geschlechterfrage weder unter einen
vermeintlich geschlechtsneutralen Allgemeinbegriff der Gesellschaft zu
subsumieren noch dazu bloß parallel und unvermittelt zu setzen (in keiner
Frage blamiert sich der Soziologismus derart wie in dieser).
Diese Argumentation, die zunächst in einem Artikel mit dem polemisch
zuspitzenden Titel "Der Wert ist der Mann" publiziert wurde, läuft im Kern
darauf hinaus, dass der reale Totalitätscharakter des Werts bestritten wird;
aber eben nicht von einem soziologistischen oder kulturalistischen Standpunkt
aus, der die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen gegen das Wesen auszuspielen
versucht (wie z.B. der Dekonstruktivismus), sondern in dem Sinne, dass der
inhärente Anspruch der Wertabstraktion, sich die gesamte Welt von Mensch und
Natur total zu subsumieren, real uneinlösbar ist. Die Durchsetzungsgeschichte
des Werts kann also gar nicht zu einem absoluten Ende kommen, ebenso wenig wie
die Formabstraktion des Werts jemals ohne Naturstoff und ohne real verausgabte
Arbeitssubstanz zu ihrem eigenen Inhalt werden kann (auch wenn dies im
Kasinokapitalismus suggeriert wird).
Es gibt also immer Momente, Bereiche und Tätigkeiten, die sich ihrer Natur
nach der Wertabstraktion sperren und darunter gar nicht oder nur unter größten
Friktionen subsumiert werden können. Dazu zählen u.a. der in der Moderne als
"Hausarbeit" bezeichnete Bereich, Kindererziehung, Altenbetreuung, an sich
immaterielle und unökonomische Beziehungen wie "Liebe", Zuwendung usw. Die
Wertvergesellschaftung hat auf dieses Problem reagiert, indem sie alle diese
Momente und Bereiche, soweit sie nicht der "Inwertsetzung" unterworfen werden
konnten, von der offiziellen Totalität "abgespalten" und sozialhistorisch als
Aufgabe an "die Frau" delegiert (und gleichzeitig als "inferior" gesetzt) hat.
Die Totalität des Werts ist also gar nicht die wirkliche Totalität, sondern es
gibt eine Rückseite oder einen Schatten, der davon nicht direkt erfasst ist,
aber dennoch dazugehört. Denn diese Momente und Bereiche stellen ja kein
unabhängiges Jenseits des Werts dar, sondern sie sind eben per definitionem
das vom Wert Abgespaltene und insofern mit diesem dialektisch verbunden. Die
wirkliche Totalität wären also der Wert und das von ihm Abgespaltene als
dialektische Einheit. Man/frau müsste insofern statt vom Wertverhältnis vom
Wertabspaltungs-Verhältnis sprechen; und Wertvergesellschaftung in diesem
Sinne schließt immer schon das Mitdenken der Abspaltung ein. Im Kontext der
Wertkritik wurde dieser ganze Ansatz schließlich als Abspaltungstheorem
bezeichnet.
Das Abspaltungstheorem meint natürlich nicht, dass Frauen ausschließlich dem
abgespaltenen Bereich angehören und Männer grundsätzlich außerhalb der
abgespaltenen Momente stünden. Aber das Geschlechterverhältnis als
Strukturverhältnis ist in der Moderne gewissermaßen wesenslogisch auf das
Abspaltungsproblem zentriert, was sich sowohl historisch als auch empirisch
zeigen lässt. Grundsätzlich und bis heute (die Postmoderne eingeschlossen)
sind die Haushaltstätigkeiten, die Versorgung von Kleinkindern usw.
gesellschaftlich auf die Frauen konzentriert. Soweit Frauen mehr als früher
berufstätig sind, werden sie im Unterschied zu Männern "doppelt
vergesellschaftet" (Regina Becker-Schmidt). Innerhalb der warenproduzierenden
"Arbeit" bleiben sie systematisch benachteiligt, werden beruflich auf "sinkende
Schiffe" gesetzt oder konzentrieren sich in sogenannten "weiblichen" Berufen,
sind auf den Kommando-Ebenen unterrepräsentiert usw. Alles, was außerhalb oder
unterhalb der Geldebene stattfinden muss, wird selbst noch in den Slums bei
völlig zerfallenen Familienstrukturen nach wie vor an die Frauen delegiert.
Auch die dazugehörigen geschlechtsfetischistischen Konnotationen,
zugeschriebenen "Eigenschaften" usw. setzen sich bis in die Ausdrucksformen des
sexuellen Begehrens hinein durch alle Brüche und Umformungen der
Wertvergesellschaftung hindurch fort.
Zusammengefasst lässt sich sagen, dass das Abspaltungstheorem eine
theoretische Integration leistet, die das bisher ungeklärte Problem der
logisch-historischen Beziehung von Geschlechterverhältnis und
gesellschaftlicher Grundstruktur (Wert) löst und einen unvermittelten
Parallelismus ebenso vermeiden kann wie eine bloße Subsumtionslogik. Damit ist
der feministische Ansatz natürlich noch lange nicht bruchlos in die Wertkritik
integriert. Zum einen steht der wertkritisch-abspaltungstheoretische Durchgang
durch die feministische Theorie an, um das Abspaltungstheorem
theoriegeschichtlich und gesellschaftlich genauer zu positionieren. Zum andern
ist die wertkritische Diskussion und Theoriebildung, soweit sie sich nicht
direkt auf das Geschlechterverhältnis bezieht, bis jetzt keineswegs
ausreichend mit diesem neuen Ansatz vermittelt und die Konsequenzen sind noch
lange nicht ausgelotet.
Die Weiterentwicklung der Wertkritik durch das feministische
Abspaltungstheorem, so unabgeschlossen sie ist, wird gegenwärtig überlagert
durch die beginnende polemische Auseinandersetzung mit dem Dekonstruktivismus.
Während das Abspaltungstheorem noch vor zehn oder fünfzehn Jahren in der
feministischen Debatte vielleicht Furore gemacht hätte, trifft es heute auf
einen seinerseits abgerüsteten Feminismus, der seinen Frieden mit dem
warenproduzierenden System gemacht hat. Ebenso wenig wie in der "männlichen"
Theorie wurden die marxistischen Bezüge, der fetischistische "Arbeits"-Begriff
und das Problem der Wertabstraktion in der feministischen Theorie kritisch
überwunden und aufgehoben.
Auch in der Frauenbewegung avancierte stattdessen der
Postmodernismus/Dekonstruktivismus zur modischen Entsorgungs- und
Abrüstungsideologie von radikaler Gesellschaftskritik. Weiblein wie Männlein
erfreuen sich gerade deswegen an der "Inspiration" durch den feministischen
Dekonstruktivismus von Judith Butler, weil dabei im krassen Gegensatz zum
Abspaltungstheorem von Roswitha Scholz das Wertverhältnis und die tiefsitzende
Struktur der Abspaltung überhaupt nicht berührt werden. Die systematische
Ausblendung der Wertform und damit des Kapitalismus erlaubt eine
"diskurs"-soziologistische, enthistorisierte Verkürzung des
Geschlechterverhältnisses und eine Oberflächenstrategie, die sich auf eine
Art performativen Geschlechterfasching beschränkt, ohne die sozialhistorischen
Grundstrukturen der negativen Wertabspaltungs-Totalität in Frage stellen zu
können. Auch in der Kritik des kapitalistischen Geschlechterverhältnisses
muss es also zum Show-down zwischen Wertkritik und
Postmodernismus/Dekonstruktivismus kommen.
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