Message 03741 [Homepage] [Navigation]
Thread: oxdeT03581 Message: 13/21 L7 [In index]
[First in Thread] [Last in Thread] [Date Next] [Date Prev]
[Next in Thread] [Prev in Thread] [Next Thread] [Prev Thread]

Re: Re(2): Re(2): [ox] Zuviel an Zivilisation?




Wenn Weltfrieden etwas anderes sein soll, als der Endsieg der einen
Seite mit perfektioniertem Herrschaftssystem, brauchen wir nicht
noch mehr Erziehung, sondern Ent-ziehung. Keine Anpassung der Menschen
zum Rädchen im Getriebe der Zivilisation, sondern Förderung und
Wiederherstellung von Autonomie und Mitgefühl in jedem Einzelnen
als kritische Instanz gegenüber verselbstständigten Apparaten
und Prozessen. (Ein gutes Buch dazu: Arno Gruen: Der Verlust des
Mitgefühls, dtv 35002)

Franz J. Nahrada schreibt:

Du wirst eine Menge Leute in unserer Gesellschaft treffen, die
genau das unter dem Wort "Erziehung" verstehen....

Mag ja sein, aber dann haben sie (aus meiner Sicht) entweder einen
falschen Begriff von "Autonomie" oder von "Erziehung". Autonomie
ist nicht die Selbstständigkeit, auch ohne Druck das zu tun, was die
Gesellschaft erwartet, sondern Eigensinn: Unabhängigkeit in der
Bewertung von Dingen und Personen, von Ereignissen und Situationen.
Und Erziehung ist nicht jeglicher Umgang mit Kindern und jungen
Menschen, sondern zielgerichtete Manipulation von ihnen, zB durch
Lob und Tadel, Belohnung und Bestrafung. Autonomie und Erziehung
stehen in direktem Widerspruch zueinander. Wenn ich die Autonomie
eines Menschen anerkenne, wie jung er/sie auch immer sein mag, kann
ich nicht zugleich Erziehungsziele für ihn/sie entwerfen und
anstreben. Nur ein Subjekt kann autonom sein, Erziehung aber
behandelt Menschen als Objekte.


Vielleicht ist da auch ein wichtiges Moment dran, denn die
Fähigkeit zu Autonomie und aus freiem Willen geborenener
gewaltfreier Zusammenarbeit ist dem Menschen nicht angeboren.

Wo soll Autonomie und freier Wille denn sonst herkommen, als
aus der angeborenen Lust zu leben? Die Zivilisation oder Kultur
hat nur Interesse sich selbst zu erhalten, aber nicht daran,
sich in Frage stellen zu lassen. Eine Menge Fähigkeiten werden
gebraucht, um die Autonomie gegen Erziehungsmaßnahmen zu
verteidigen, aber weder die Autonomie noch diese Fähigkeiten
sind ein Geschenk der Zivilisation. Autonomie ist entweder
von Anfang an da, oder es gibt sie nicht.


Genauso wenig wie "der Mensch" "vom Grund auf böse" ist, ist er
"vom Grund auf gut".

Gut und böse sind Kategorien der Zivilisation und der Erziehung.
Gut ist das, was zu belohnen ist und böse das, was zu bestrafen ist.
Ein Neugeborenes ist noch jenseits von gut und böse. Das "Böse"
entsteht durch die Erziehung und den Widerstand des Kindes dagegen,
weil seine Interessen nicht identisch sind mit den Interessen der
Zivilisation. Trotz, Streit, Wutanfälle und viele andere für
Erwachsene unverständliche "böse" Verhaltensweisen von Kindern sind
nichts weiter als Kampf um Anerkennung als eigene Person und Subjekt,
die ihnen von den Erwachsenen oder älteren Kindern verweigert wird.


Wenn Du so willst bedürfen wir zumindest der Begegnung mit
uns selbst, bevor wir in der Lage sind, die destruktiven und die
konstruktiven Konsequenzen unseres HAndelns richtig einzu-
schätzen.

Warum bevor? Wir begegnen uns doch erst selbst, indem wir handeln
und unsere Umwelt darauf reagiert.

Wo könnten wir dies besser lernen als in der kritischen Auseinander-
setzung mit allen Versuchen, gegen die Zumutungen unserer
"Zivilisation" zu revoltieren? Wie schnell reproduzieren wir da
die Muster die wir eigentlich bekämpfen wollen...!

Erstmal find ich eine tiefere kritische Auseinandersetzung mit der
Zivilisation notwendig, bevor die Kritik der Kritik angegangen wird.

Bei brecht gibt es eine wunderbare Stelle in Me_Ti-Buch der Wendungen...
Der Revolutionär Mi_En_Leh füttert die Vögel. Jemand beobachtet
ihn bei dieser Tätigkeit und fragt verwundert, warum er sich so lange
mit den Piepmatzen aufhält. Da sagt Mi_En_Leh: "Ihnen geht es schlecht...
sie können keinen Verein bilden."

In dieser Stelle ist eine Menge Hybris, denn die Vögel bilden sehr wohl
"Vereine", aber auch eine wunderbare Wahrheit: die Menschen können
miteinander viel erreichen, damit es ihnen gut geht.

Doch dieses Miteinander, die freie Kooperation oder wie auch immer,
entsteht nicht von selbst.

Da muß ich dir widersprechen. Ich hab die Erfahrung gemacht, dass
freie Kooperation immer wieder von selbst entsteht, wenn die
Dominanz erzwungener Kooperation wegfällt. Als wir in meiner
Kindheit (vor ca 40 Jahren) losgezogen sind, um Höhlen zu bauen oder
andere Abenteuer zu erleben, waren unsere Entscheidungsstrukturen
genau die, die jetzt als freie Kooperation beschrieben werden.
JedeR konnte Vorschläge machen oder Kritik/ Unlust an bestehenden
Vorschlägen äußern. Entweder wurden wir uns einig, oder es machten
manchmal eben nicht alle mit. Da war aber keiner, der uns diese direkte
Form der Demokratie beigebracht hätte. Im Gegenteil, die Methoden
"der Erwachsenen" waren eher ein abschreckendes Beispiel von Verhalten,
das wir unter uns nicht dulden wollten.

Auch jetzt kann ich immer wieder Kindergruppen beobachten, die
freie Kooperation praktizieren, wenn auch Dominanzverhalten und
Statusgehabe sich immer mehr ausbreiten.

Hier wird schon fleißig diskutiert zum Thema
welche Strukturen wir brauchen, um tatsächlich dauerhafte Kooperation
erzielen zu können. Dein Aspekt ist ein sehr wesentlicher, wenn Du das
Problem der Autonomie ansprichst.

Autonomie heißt, in uns selbst ganz und rund zu werden, dann aber auch
zu erkennen daß wir zu Mitgliedern ganzer und runder Kooperationen
werden, die wiederum zu ganzen und runden Metakooperationen zusammen-
finden.

Wenn Autonomie oder Eigensinn nur dann anerkannt wird, wenn sie ganz und
rund ist, können wir sie ganz vergessen, dann ist sie nur ein Idealbild.
Perfektion ist nur möglich in einem beschränktem Wertsystem, und das
Wesen der Autonomie besteht ja gerade darin, das jeder seine eigenen
Wertvorstellungen hat. Die Kunst der Kooperation liegt darin, trotz aller
Fehlerhaftigkeit der Einzelnen ein funktionierendes Ganzes zu bilden.


Stefan hat eine lange Epistel gepostet, die vor einer Verabsolutierung
des Organischen warnt, und da hat er nicht ganz unrecht: wir sind kein
einfaches Spiegelbild der Natur. Die Fähigkeiten, das Wissen und die
Werkzeuge der Kooperation müssen wir, um es irgendwie auszudrücken,
uns schon erwerben.

Das meinte ich mit "mehr Zivilisation" und Du hast das schon richtig
verstanden.

Die Natur gibt uns kein fertiges Bild, an dem wir uns spiegeln können,
sondern Möglichkeiten: die Lust zu leben und die Fähigkeit zu lernen.
Lernen ist aber nicht nur unterrichtet werden und es geht auch ohne
Zivilisation.

Schau mal, ich kehr zurück zu unserem Laden hier und sage: mit diesem
"shooting of opinions" werden wir nicht viel erreichen. Das kann nicht
alles gewesen sein, das ist vielleicht die erste Phase. Opentheory
funktioniert
in ganz kleinen Zusammenhängen, aber mehr auch noch nicht.

Dennoch müssen wir schon hier an Werkzeugen wie FAQs etc. arbeiten, um
Leuten
den Einstieg zu erleichtern. Da gibt es eine Welt von neuen Werkzeugen zu
bauen und zu erfinden. Das so scheint es mir erarbeiten wir uns grade,
Werkzeuge, wie wir kooperieren, ich meine wirklich und nachhaltig
kooperieren können. Freie Software hat da einen Riesenschritt vorwärts
gebracht.
In Ansätzen diskutieren wir bereits Ansätze, aber mehr auch nicht, wie
sich dieser Fortschritt auf die Koperation in anderen Bereichen der
menschlichen
Aktivität ausdehnen läßt.

Das ist doch nicht einfach "Ent"ziehung, oder? Und die bisherigen Revolten
haben
doch keine einladende Form der freien Kooperation anbieten können, oder?

Oh doch. Freie Kooperation ist für mich nicht nur Utopie, ich habe
sie öfters erlebt. Zwar noch nicht stabil und dauerhaft und mit
vollständiger ökonomischer Basis, aber genug um zu erkennen, dass es
auch ganz anders geht und dass es sich lohnt, mehr davon
anzustreben. Und meistens waren es Revolten, Negationen des
Bestehenden, die den Rahmen dafür bereitgestellt haben: Haus- und
Platzbesetzungen, Blockadeaktionen, Camps, Karawanen und ähnliches.

Konstruktive Aktivitäten sind schön und gut und oft auch notwendig,
aber sie können die Negation nicht ersetzen. Solange uns die Augen
verbunden sind, hat es nicht viel Zweck, noch eine Brille aufzusetzen,
um besser sehen zu können. Erst müssen wir uns befreien von dem,
was uns behindert und uns abhängig macht. Diesen Befreiungsprozeß
von allem, was uns die Erziehung angetan hat, nenne ich Entziehung.

Danach können wir sehen, was wir noch zusätzlich brauchen.

Gruß, Jobst



________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


[English translation]
Thread: oxdeT03581 Message: 13/21 L7 [In index]
Message 03741 [Homepage] [Navigation]