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Geschlechterproporz und GPL-Gesellschaft (was: Re: [ox] Reality-Check)



Hi Benja und alle!

Puh. Na, schauen wir mal...

Vielleicht versuche ich erst mal mein eigenes Zitat nochmal näher zu
erläuten.

2 weeks (17 days) ago B Fallenstein wrote:
Stefan Merten schrieb:
Ähnliches gilt für die von dir wohl gemeinten Ziele des Feminismus.

Übrigens wohl auch nur bestimmter Fraktionen des Feminismus - aber das
wirklich nur BTW.

Wenn du immer alles durch die Brille des Geschlechterproporzes
betrachtest, dann kann keine Gesellschaft was taugen, wo nicht alles
annähernd 50-50 verteilt ist. Nun stellt sich mir aber die Frage, was
das noch mit Freiwilligkeit und dann eben auch Selbstentfaltung zu tun
hat. Das ist doch im Reich der Freiheit nur noch eine absurde
Einschränkung. Und BTW würde ich denken, daß nach der Aufklärung unter
                                                ^^^^^^^^^^^^^^^^^^^
Freien Bedingungen sich in vielem eine annähernde Gleichverteilung
einstellen würde.

Das "nach der Aufklärung" möchte ich nochmal unterstreichen. So wie
ich mir das alles momentan zusammenreime, kam im wesentlichen erst mit
der Aufklärung / der Moderne die (abstrakte und formale)
Gleichbehandlung / Gleichstellung von Männern und Frauen in die Welt.
Was in einer geistigen Großströmung nach der Aufklärung angesagt ist,
kann und will ich nicht sagen. Anyway bin ich aber sicher ein Kind der
Aufklärung und von daher teile ich die Basis dessen durchaus:
Chancengleichheit.

(Das dekliniert sich übrigens alles ganz prima in kapitalistische
Formationen durch - lasse ich hier weg.)

Irgendwie kommt mir dein Begriff dieser Brille komisch vor. Du scheinst
zu denken, dass sie sagt: "Von Natur aus gibt es viel mehr männliche als
weibliche SoftwareentwicklerInnen, und das führt zu einer
Ungleichverteilung der Macht; wir müssen dem abhelfen, indem wir
fordern, weibliche SoftwareentwicklerInnen bevorzugt einzustellen." Eine
solche Argumentation würde in einer GPL-Gesellschaft natürlich keinen
Sinn mehr machen. Sie ist aber auch in unserer Gesellschaft Quatsch und
ist hier auch nicht vertreten worden.

Was die "Brille des Geschlechterproporzes" sagt, ist: "Von Natur aus
müsste es im Großen und Ganzen ungefähr gleich viele weibliche und
männliche SoftwareentwicklerInnen geben. Wenn es deutlich mehr männliche
als weibliche SoftwareentwicklerInnen gibt, dann ist gesellschaftlich
etwas faul." (So ungefähr.) Wenn wir jetzt in der
proprietär/kommerziellen Softwareentwicklung 20-80, in der freien
Entwicklung 02-98 haben, dann sagt die "Brille des
Geschlechterproporzes": Bei letzterer ist etwas noch viel fauler als bei ersterer.

Ich sehe das Mittel der Forderung nach Geschlechterproporz durchaus
anders. Insbesondere brauche ich keine Natur, über die ich
irgendwelche Vermutungen anstellen muß. Geht ungefähr so: Wenn Männer
und Frauen (formal) gleich(gestellt) sind und wenn wir weiter davon
ausgehen, daß es keine naturgegebenen Unterschiede gibt, die auf die
gerade betrachtete Ebene durchschlagen, der abstraktifizierende Blick
also berechtigt ist, *dann* müßte es unter Bedingungen der
Chancengleichheit Geschlechterproporz geben. Wo es ihn nicht gibt,
kann das als Hinweis darauf genommen werden, daß die Chancengleichheit
nicht gegeben ist.

Ja, klar. Das ist logisch - halt unter den gegebenen Voraussetzungen.
Dann ist auch das Schielen auf den Geschlechterproporz sicher sinnvoll
und eine Forderung danach ebenfalls. Allerdings zäumt eine solche
Forderung auch heute schon das Pferd von hinten auf, da quasi nur am
Ergebnis gemessen wird. Warum der Geschlechterproporz in einem
bestimmten Bereich *nicht* erreicht ist, kann aber viele Gründe haben.
U.a. kann es auch Gründe geben, die eben doch eher an den
Unterschieden zwischen Männern und Frauen liegen. Glaube ich nicht,
aber ich kann's auch nicht ausschließen und der betrachtete Bereich
spielt sicher eine erhebliche Rolle. Beim Kinderkriegen schlagen die
Unterschiede jedenfalls stark durch ;-) .

Unter patriarchalen Verhältnissen liegt es jetzt nahe, solche
Ungleichheiten eben dem Patriarchat zuzuschreiben - und wahrscheinlich
hängt es auch damit zusammen. Unter Bedingungen der Selbstentfaltung -
die dann im übrigen genauso formal abstrakt für alle Geschlechter
gelten würde wie die Chancengleichheit - wäre das aber auch dann nur
eine Forderung, die am Ende mißt.

Wenn wir von einer vollendeten GPL-Gesellschaft ausgehen, wäre eine
Proporzforderung dann aber absurd. Dann wäre nämlich davon auszugehen,
daß die beobachtbaren Abweichungen aus anderen als patriarchalen
Gründen, auf jeden Fall aber selbstentfalteten kommen. In einer
nicht-vollendeten GPL-Gesellschaft wäre das vielleicht genauso ein
Gradmesser wie heute für Chancengleichheit - aber mit einem
entscheidenden Unterschied: Während heute Chancengleichheit eine
Forderung sein muß, da sie eben nicht im allgemeinen Alle gegen Alle
naheliegend ist, ist sie unter selbstentfalteten Bedingungen so wie
wir sie diskutieren eine automatische Folge.

Kurz: Chancengleichheit ist eine Voraussetzung für Selbstentfaltung.

Well, alles noch nicht endgültig ausgegoren. Vielleicht aber doch ein
paar Denkanstöße.

Die Brille sagt also, in einer nicht-faulen Gesellschaft wird das
Verhältnis so ungefähr 50/50 sein (40/60 ist sicherlich auch mal o.k.).
Sie ist also völlig mit deinem Schlusssatz einer Meinung: sie würde auch
denken, dass sich "unter Freien Bedingungen in vielem eine annähernde
Gleichverteilung einstellen würde."

Unter den vorausgesetzten Annahmen: Ja.

Die Brille macht sogar den
Umkehrschluss und sagt: Wenn keine annähernde Gleichverteilung herrscht,
sind die Bedingungen nicht wirklich frei, egal, wie es aus anderen
Blickwinkeln aussehen mag.

Nur, wenn die Ununterscheidbarkeit von Geschlechtern in den je
betrachteten gesellschaftlichen Bereichen ein Beweis für
Selbstentfaltung ist.

Die Erkenntniss, die wir durch das Aufsetzen dieser Brille gewinnen
können, ist, dass unsere Keimform in einer Hinsicht nicht die Tendenz zu
einer freien Gesellschaft, sondern zu einer noch unfreieren Gesellschaft
als der gegenwärtigen in sich trägt.

Nein, das kannst du eben nicht schließen, wenn du nicht umstandslos
die ganzen Voraussetzungen von heute mitnimmst. Ich würde da lieber
vorsichtiger sein.

Wenn sich in einer GPL-Gesellschaft
der Frauenanteil z.B. im IT-Bereich von 1/5 auf 1/50 verringern sollte,
wenn sich der Trend gar in anderen Bereichen fortsetzen und die
Geschlechterstereotypen sozusagen "um Faktor 10 verstärken" würde, dann
wäre in dieser Gesellschaft zu leben für mich eine absolute Horrorvorstellung.

Nochmal die durchaus ernstgemeinte Frage: Warum konkret, wenn alle -
also auch die Frauen - von sich sagen, daß sie maximal selbstentfaltet
sind?

Das ist IMHO das Problem, um das es hier geht. Das heißt natürlich
nicht, dass die Geschlechterproporz-Brille die einzige ist oder dass die
Eigenschaften der Keimform sich notwendigerweise in einer
GPL-Gesellschaft forsetzen müssten. Das heißt aber meiner Meinung nach,
dass wir uns darüber ernsthaft Gedanken machen sollten: warum ist das
bei FS so, was könnte sich bei FS daran ändern, und was macht uns
Glauben, dass sich der Trend in einer GPL-Gesellschaft nicht fortsetzt?

Ich kann halt den Trend nur von heute beurteilen. Ich weiß nicht, ob
meine Maßstäbe dann noch die richtigen sind.

Die Abwehrhaltung, die ich bei dir doch wahrnehme ("Mal als offene
Frage: Warum hältst du diese Entwicklung eigentlich *konkret* für ein
Problem?") finde ich da überhaupt nicht hilfreich. :-(

Das ist keine Abwehrhaltung sondern wirklich eine Frage. Mich würde es
wirklich interessieren, was du daran *konkret* schlimm findest.


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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