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Re: [ox] Die Finsternis der "Aufklaerung"




Hallo Benni,

du schreibst:

Dennoch möchte ich doch die Aufklärung nicht gänzlich verdammen. Sie
hat nämlich den Individualisierungsprozess, der mit der Neuzeit begann
vollendet, bis hin zu Menschenrechten, Demokratie et al. Das alles ist
nicht genug und es ist auch zum Teil kontraproduktiv, aber es ist und
bleibt trotz allen Wahnsinns doch die Basis ohne die wir heute sowas
wie "Selbstentfaltung" oder "Emanzipation" nicht mal denken könnten.
Kurz und die Krisis schiessen in diesem Punkt immer deutlich übers
Ziel hinaus IMHO.

Irgendwie scheint das, was du und auch Stefan Mn unter Aufklärung
verstehst, etwas ganz anderes (nahezu entgegengesetztes) zu sein,
als das, was mir unter Aufklärung bekannt ist. Nach meinem Wissen
ist die sogenannte "Aufklärung" eine historische Epoche oder
philosophische Strömung des 18.Jahrhunderts. Nach dem, was ihr damit
identifiziert (Chancengleichheit, Menschenrechte, Demokratie usw)
wäre es jedoch eine Angelegenheit des 20. Jahrhunderts.

Und noch immer sind Chancengleichheit und Menschenrechte nur propagierte
Ideale, mehr Schein als Sein, im Kern der bestehenden Ordnung
sind sie nicht zu finden. Wo sich zB Menschenrechte im Konflikt zu
Geld- bzw Eigentumsrechten befinden, haben die Geldrechte immer Vorrang.
Das wenige, was bisher an Chancengleichheit oder Menschenrechten
erreicht wurde, wurde gegen die herrschende Ordnung erkämpft, die
von den "Aufklärern" begründet und legitimiert wurde. Was für
eine ideologische Verdrehung, das dann als Errungenschaften der
"Aufklärung" zu feiern.

Es ist wohl eher ein Mythos der Aufklärung, dem ihr da anhängt.
Klingt ja auch wunderbar. Wer kann schon etwas dagegen haben, das
Licht und Klarheit ins Dunkel gebracht werden, wer will sich
gegen Vernunft aussprechen, wer wäre nicht für das "größtmögliche
Glück der größtmöglichen Zahl" ?

Doch es ist gefährlich, eine Denkweise nach der Schönheit ihrer
Begriffe zu beurteilen. Wie wenige haben schon mal etwas von
Bentham gelesen und wissen, welche menschenverachtende
Ideologie hinter dem "größtmöglichen Glück" steckt. Und wer
ahnt, dass Vernunft auch ein totalitärer Kampfbegriff ist, um
sowohl Gefühle als auch andere Sicht- und Denkweisen zu unterdrücken
und zu diffamieren.

Wenn du glaubst, dass Aufklärung die Basis ist, "ohne die wir heute
sowas wie "Selbstentfaltung" oder "Emanzipation" nicht mal denken
könnten", zeigt dies den Erfolg solcher Diffamierung. Als wäre
erst in der Aufklärung das Denken erfunden worden. Ein solcher
"Anfang der (geistigen) Geschichte" ist genauso Blödsinn, wie
das schon wieder überholte "Ende der Geschichte".

Es ist mir zu Genüge bekannt, das weit verbreitete Bild vom
finsteren Mittelalter, von den grausamen Barbaren und von den
Wilden, die dumpf vor sich hin vegetieren.  Doch wo immer mensch
genauer hinschaut, merkt es, dass dies vorne und hinten nicht
stimmt, dass es nur ein selbstgefälliges Mythos unserer Kultur ist.
Um von der Finsternis, Brutalität und Dumpfheit dieser unserer
Kultur abzulenken. In der Psychologie nennt man so etwas Projektion.

Was du mit "Individualisierungsprozeß" meinst, ist mir auch nicht
ganz klar. An der Vereinzelung, also der Auflösung der
sozialen Beziehungen ist die Aufklärung durch Förderung der Konkurrenz
und des Erfolgsstrebens beteiligt, aber daran kann ich nichts
emanzipatorisches entdecken.

Positive Individualisierung im Sinne der Anerkennung von Eigenheiten und
Eigensinn ist dagegen von der Aufklärung heftig bekämpft worden. Es
durfte nur eine richtige Sichtweise geben, nur eine objektive
Wahrheit, und die durchzusetzen war auch eine Frage der Macht.

Zur Illustration des Verhältnisses der Aufklärung zum Eigensinn
ein paar Zitate aus einem Erziehungsbuch von 1748:
(J.Sulzer, "Versuch von der Erziehung und Unterweisung der Kinder"
zitiert in Alice Miller: Am Anfang war Erziehung,S25ff)


  "Ich rate also all denen, die Kinder zu erziehen haben, dass sie
  die Vertreibung des Eigensinns und der Bosheit gleich ihre
  Hauptarbeit sein lassen und solange daran arbeiten, bis sie zum
  Ziel gekommen sind.  Man kann, wie ich oben bemerkt habe,
  unmündigen Kindern nicht mit Gründen beikommen; also muß der
  Eigensinn auf mechanische Weise vertrieben werden, und hierfür
  gibt es kein anderes Mittel, als dass man den Kindern den Ernst
  zeigt."

  "Sind die Eltern aber so glücklich, dass sie ihnen gleich anfangs
  durch ernstliches Schelten und durch die Rute den Eigensinn
  vertreiben, so bekommen sie gehorsame, biegsame und gute Kinder,
  denen sie hernach eine gute Erziehung geben können."

  "Sind nun die Kinder schon über ein Jahr alt, wenn sie also
  anfangen etwas zu verstehen und zu sprechen, so muß man auch auf
  andere Dinge denken, doch nicht anders als mit der Bedingung, dass
  der Eigensinn der Hauptvorwurf aller Arbeit sei, bis er völlig
  beseitigt ist.  Unsere Hauptabsicht ist immer, die Kinder zu
  rechtschaffenen, tugendhaften Menschen zu machen, und an diese
  Hauptansicht sollten die Eltern allemal denken, so oft sie ihre
  Kinder ansehen, damit sie keinen Anlass versäumen, an ihnen zu
  arbeiten."

  "Kann man nun schon mit den Kindern sprechen,so muß man ihnen bei
  allen Anlässen die Ordnung als etwas Heiliges und Unverletzliches
  vorstellen.  Wollen sie etwas haben, das wider die Ordnung
  ist so sage man ihnen: Mein liebes Kind, dies kann unmöglich
  geschehen, es ist wider die Ordnung, diese darf niemals
  überschritten werden u dgl..."

  "Ein Kind das gewohnt ist, seinen Eltern zu gehorchen, wird auch,
  wenn es frei und sein eigener Herr wird, sich den Gesetzen und
  Regeln der Vernunft gern unterwerfen, weil es einmal schon gewöhnt
  ist, nicht nach seinem Willen zu handeln.  Dieser Gehorsam ist so
  wichtig, dass eigentlich die ganze Erziehung nicht anderes ist,
  als die Erlernung des Gehorsams."


Nur so ist zu erklären, warum über
mehrere Jahrhunderte nur herrschaftskompatible Philosphien
hervorgebracht wurden.

Zeig mir eine nicht herrschaftskompatible Philosophie aus
Vor-Aufklärungszeiten. Und selbst danach sind die meisten sehr
fragwürdig in diesem Punkt inklusive Marx und Folgende.

Vielleicht hätte ich das lieber etwas härter formulieren sollen,
herrschaftssichernd oder ähnlich. Wenn herrschaftskompatibel
meint, dass Herrschaften damit nicht leben können, ist es schwer
Philosophien zu entwerfen, die das nicht sind. Es ist ja oft eher
das Problem von nicht kompatiblen DenkerInnen, das sie unter den
Bedingungen von Gewaltherrschaft nicht mehr lange damit leben
können bzw dürfen. Und die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Gedanken
überliefert werden, dh in Büchern gedruckt, in Bibliotheken bewahrt
und von angesehenen Philosophen diskutiert werden, sinkt auch rapide
mit der Inkompatibilität. Aus der Tatsache, dass die bekanntesten
Philosophien herrschaftskonform sind, kann nicht geschlossen werden,
dass es nichts anderes gab. Dass auch früher schon Menschen
herrschaftskritisch gedacht haben, ergibt sich unter anderem aus
der Tatsache, dass viele als Ketzer verfolgt wurden.

Dennoch unterscheidet sich die Philosophieszene der Aufklärung deutlich
von anderen Zeiten und Regionen, in denen viel philosophiert wurde,
wie im alten China oder im antiken Griechenland. Gegenüber der Vielfalt
der Richtungen und Bandbreite der Themen dort war die Aufklärung eine
Monokultur, die in wesentlichen Fragen ohne Opposition blieb.

In China und Griechenland gab es ähnliche Gedankengebäude wie in der
Aufklärung, dualistische Ordnungssysteme und Verhaltensanweisungen
nach denen sich alle richten sollten.  In China war das der
Konfuzianismus, bei den Griechen die Lehren von Sokrates, Platon und
Aristoteles. Doch da gab es wenigstens auch oppositionelle Richtungen,
in China zB den Taoismus, in Griechenland die Kyniker und Stoiker, die
sie immer wieder mit verdrängten Aspekten der Realität konfrontierten.

Patriarchen waren sie mehr oder weniger alle, Frauen kamen wenn dann
nur am Rande vor, Philosophie war Männersache. Auch mussten sie sich
irgendwie mit den Herrschenden arrangieren. Dennoch enthält der
Taoismus mE viel emanzipatorisches, antipatriarchales,
herrschaftskritisches Potential. Salopp gesagt ist der Taoismus
eine atheistische Religion für anarchistische Monarchen. Seine
Vertreter geben zB den Kaisern, Königen und Fürsten Ratschläge,
die darauf hinauslaufen, dass die beste Regierung die ist, die
fast nichts tut, ihr Volk in Ruhe läßt und ihm nur ein Vorbild in
Sachen Bescheidenheit ist.

Für noch bedeutender halte ich jedoch den ausgeprägten
Anti-Dualismus zumindest der bedeutendsten Taoisten Lao-tse und
Tschuang-tse. Die beißende Kritik an hochgehaltenen Werten, das
Aufmerksammachen auf die dunklen Seiten des vordergründig Guten und
die Wertschätzung und Anerkennung der verachteten und verdrängten
Wesen und Eigenschaften zieht sich wie ein roter Faden durch ihre
Werke.

Der Taoismus greift also zwar nicht direkt die Herrschenden
an, wohl aber die Wertordnung, das Bild von Gut und Böse, mit
dem sich Herrschaft immer wieder legitimiert. Insofern würde
ich es schon als Beispiel für eine nicht-herrschaftskompatible
Philosophie aus Vor-Aufklärungszeiten gelten lassen.

Gruß, Jobst



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