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Re: [ox] Re: Knappheit von Zeit




Hi Benni,

du schreibst
Nun, dein Credo "Zeit hat man nicht, Zeit nimmt man sich" ist doch nur
eine andere Art zu sagen "aber für alles habe ich einfach nicht genug
Zeit".  

Nein. Wie kommst Du darauf? Vielleicht ist es eine Frage des Defaults?
Ich nehme mein Leben so wahr, dass ich erstmal defaultmässig nichts
tue, vor mich hin döse, mich der Muße hingebe. Dabei wird mir dann
gelegentlich langweilig und ich fange dann an, irgendwas zu machen
(z.B. diese Mail zu schreiben). Natürlich gibt es auch noch äußere
Zwänge, aber die hab ich jetzt mal aussen vor gelassen. Bei Dir
scheint es umgekehrt zu sein, Du tust also Defaultmässig erstmal immer
irgendwas (und möglichst viel) und gelegentlich kannst Du nicht mehr
und musst Dich ausruhen. 

Das ist in der Tat richtig beobachtet. Ich knapse mir die Zeit, auf
der Liste mal was zu schreiben, definitiv ab (z.B. muss ich auch noch
irgendwann die SymbolicData-Webseiten überarbeiten, die
Ausschreibungen für unser Mathelager im Sommer entwerfen, kopieren und
rausschicken, vorher noch mit unserem Partner über den Preis
feilschen, meine Vorlesungen weiter vorbereiten, die in zwei Wochen
beginnen etc.). Und wenn ich hier rund um mich herum schaue, dann bin
ich bei weitem nicht der Einzige mit so einem "Zeitregime".

Insofern haben wir da sehr unterschiedliche "Reality-checks". Wenn
unsere Überlegungen hinten heraus trotzdem konvergieren - um so
interessanter. 

Das klingt für mich nach protestantischem Arbeitsethos.

Oh, da wäre der Begriff wohl etwas näher zu spezifizieren.  Bei all
den o.g. Dingen bin ich ja durchaus intrinsisch motiviert,
d.h. "entfalte mich selbst".

Das man Prioritäten setzen muss ist schon klar. Aber eine dieser
Prioritäten ist eben auch die Gesamtmenge an Dingen, die ich tun will
und auch die ist durchaus variabel und muss nicht einfach nur
möglichst maximiert werden. Oben sagen Du auf Stefan aber, dass Du es
für "eine Wesensart des Menschen" hältst, nicht nur, dass er sich in
der zur Verfügung stehenden Zeit bestimmte Dinge aussuchen muss, die
er tun will, sondern auch, dass er immer "noch viel mehr Dinge" tun
will. Das kann ich wirklich überhaupt nicht nachvollziehen. Ich kann
mir auch ein glückliches Nichtstun vorstellen.

Meine These bedarf der Schärfung.  Stellen wir also den *Fakt* der
Auswahl in den Mittelpunkt (Prioritäten setzen bedeutet auswählen) und
nicht den Grund (Überziehen des Zeitbudgets).  Nur auf ersteren kommt
es ja in der weiteren Argumentation an

Im Übrigen haben "die Experten" oft mehr Recht als man auf sie
hört.  Das ist eine Variation der Luxemburgthese von den "Anders
Denkenden"

Das mit der Freiheit? Verstehe den Zusammenhang nicht.

Habe ich danach erklärt: 

... dass es in Zukunft nicht um Demokratie als "die Entscheidung
der Mehrheit" geht, sondern darum, berechtigte Interessen und
Positionen von Minderheiten zu berücksichtigen und zur Geltung zu
bringen.  Kompetenz ist *immer* in der Minderheit (schon aus rein
kombinatorischen Gründen).  

Ich ergänze: Kompetenten Minderheiten (und das sind zu
unterschiedlichen Themen unterschiedliche Gruppen!) ausreichend Gehör
zu verschaffen.  Denn selbst heute ist es ja in den seltensten Fällen
so, dass die Experten entscheiden. Schau dir mal die Politik an.
Meist ist es ja umgekehrt das Lobbying, das sich seine "Experten"
schafft - siehe den SwPat-Thread, den Hartmut Pilch hier dankenswerter
Weise trotz gelegentlicher Flames (cross)postet. 

Bitte verstehe mich richtig, ich plädiere damit nicht für
Expertokratie im Sinne dessen, dass Entscheidungen an "Experten"
delegiert werden. Einfach deshalb, weil es komplexe Prozesse
erfordern, viele verschiedene Sichten zusammenzubringen. Insofern kann
deine Replik

Die einzige Alternative? 

In der Tendenz schon. Wenn diese Dynamik nicht funktioniert, muss an
den Stellen, wo sie nicht funktioniert eben einfach auf die Experten
vertraut werden.

nicht das letzte Wort sein.  Auch hier geht es um Koordinierung und im
Vorfeld um Kommunikation. Was bedeutet, dass man miteinander reden
will, aber auch reden *kann*. Letzteres erfordert gemeinsame
Begriffswelten, in denen Kommunikation auf dem erforderlichen und von
Fall zu Fall sicher unterschiedlichen Niveau von Detailliertheit
überhaupt erst möglich ist. 

Das macht es ja erforderlich, die (gedankliche)
"Selbstentfaltungsfessel" zu sprengen und in der nächsten Stufe
über "kooperative Zusammenarbeit kreativer, kompetenter und
natürlich damit selbstentfalteter - d.h. intrinsisch motivierter,
anders funktioniert Kreativität nicht - Produzenten" zu sprechen.

"kooperative Zusammenarbeit" ist immer schon Bedingung von
Selbstentfaltung.  Wo soll da also eine Fessel sein?

Die Fessel sehe ich in der gedanklichen Beschränkung auf bzw. die
Hypertrophierung des Ansatzes "Selbstentfaltung", die hier auf der
Liste gelegentlich gepflegt wird und z.B. von Petra schon mehrfach
explizit aufgezeigt wurde. Brauche ich hier nicht zu wiederholen.
Wenn sie die Fragen, die ich oben aufgeworfen habe, ausblendet.

-- 
Mit freundlichen Gruessen, Hans-Gert Graebe

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     |  PD Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig |
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