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[ox] Nachhaltige Selbstorganisation (war: Wertkritik vs. Postoperaismus ..ad materielle Produktion)



Hei Franz und Liste,

Thursday, December 26, 2002, 2:50:30 PM, Franz wrote:
[...]
Wie nachhaltig und wie verläßlich kann Kooperation gestaltet werden?
Was mich an Christoph Spehrs Theorien stört, ist daß er das letztlich
in das bürgerliche Willensverhältnis auflöst. Aber ich denke, zumindest
ein Gutteil der Fragen ist strukturell - technologisch und nicht moralisch.
[...]

Ich finde deine Intervention sehr wichtig. Es genuegt eben nicht, eine
Website aufzusetzen und um massenhafte Beteiligung zu bitten, sich
dann nach einer Weile enttaeuscht vom Egoismus der Massen in den
Schmollwinkel zurueckzuziehen (1). Da wird der eigene
technisch-organisatorische Fehler (oder sagen wir mal: Naivitaet) in
einen moralischen der anderen umgebogen. Es ist andersherum natuerlich
auch nicht unbedingt der Fehler des Werkzeugs, wenn Selbstorganisation
nicht nachhaltig wird. Die gewitzteste technische Loesung wird sich
leider allzu oft nicht durchsetzen. Aber der Ruf nach einem besseren
Tool fuehrt sicher weiter als "der Mensch ist eben schlecht". Ein
Schuh wird m.E. daraus, wenn 'der Mensch' (als real existierendes
soziales Wesen) und Technologie (durchaus auch im Sinne einer sozialen
Technologie, also z.B. einer Methode, Menschen zu organisieren)
zusammengedacht werden.

Unter welchen Bedingungen werden also sozio-technische Innovationen
nachhaltig, wie beginnen sie, wo hakt es, warum scheitern sie, usw?
Ich vermute mal, dass es da einen Haufen Erfahrung auf dieser Liste
und anderswo gibt. Als Soziolog beziehe ich mich auf Empirie, genauer
gesagt auf Erfahrungen aus der kritischen Innovationsforschung (ich
nenn das, was ich betreibe, einfach mal so). Wir arbeiten hier in
Trondheim mit einem Ansatz, der sich um den Begriff 'Domestikation'
von Technologien dreht. Entwickelt wurde er bei der Untersuchung von
erfolgreichen technischen Innovationen in der Privatsphaere
(Literaturangaben haengen unten dran). Ich meine, dass er anwendbar
ist, um auf ein paar Fallstricke und Bedingungen fuer sozio-technische
Innovationen insgesamt hinzuweisen.

Als wichtige Themenkomplexe haben sich in da Aneignung, Einbettung und
Sinngebung herauskristallisiert.

ad Aneignung: Sie bezeichnet zuerst einmal den Akt des Erwerbs. Im
erweiterten Sinn koennen wir damit fragen, wie Leute mit einer
sozio-technischen Innovation in Beruehrung kommen. Die gibts ja
schliesslich nicht im Laden. Allerdings: Interessant dabei ist, dass
das Konzept 'Laden' immer mal wieder und durchaus erfolgreich
auftaucht, beispielsweise in Umsonstlaeden, Wissenschaftslaeden,
Dritte-Welt-Laeden. Hier gehen die Projekte in den oeffentlichen Raum
und machen sich erstmal allgemein sichtbar und zugaenglich.

Wichtig ist aber weiters eine niedrige Schwelle. Die kann z.B.
hergestellt werden ueber (anfaengliche) Anonymitaet, wie sie in
'normalen' Laeden ja der Fall ist.

Der Erwerb von Waren weist immer auch ueber sich hinaus. Das ist im
3.Weltladen so, wo das Paeckchen Tee fuer gerechtes Handeln stehen
soll. Das ist aber auch schon beim Kauf eines TV-Geraets so,
schliesslich kauft man damit neben einem Apparat auch die
Mitgliedschaft im Publikum des Fernsehprogramms.

FS zeigt, dass zumindest im Fall immaterieller Produktion oeffentliche
Online-Foren diese Funktion auch erfuellen koennen. Allerdings duerfte
der Erstkontakt mit FS oefter ueber die Programme selbst laufen oder
ueber existierende soziale Netzwerke (Freundeskreis, KollegInnen,
KommilitonInnen).

Nicht vergessen duerfen wir schliesslich auch den 'common itch', das
konkrete gemeinsame Beduerfnis, das die Innovation befriedigen muss.
Das kann durchaus weit gefasst sein. Bei FS ist das klar. Fuer
sozio-technische Innovationen ist Zeitsparen heutzutage einer der
heissesten Kandidaten fuer weit verbreitete Beduerfnisse. Aber das ist
natuerlich nur ein Beispiel.

Also, Lessons learnt:

- Oeffentlichkeit
- Geringe Schwelle
- Artefakte, die ueber sich hinausweisen
- real existierende soziale Netzwerke
- common itch

ad Einbettung: Nachhaltigkeit, dieser etwas abgelutschte Begriff,
bezeichnet ja auch eine Zeitdimension. Damit ein technisches Artefakt
nicht nach einer Weile in der Ecke des Haushalts verschwindet,
ungenutzt, muss es eingebettet werden in den Alltag. Das gilt auch
allgemein fuer sozio-technische Innovationen. Routine und die
Verschmelzung mit anderen taeglichen Routinen spielen hier eine
wichtige Rolle. Bennis Verknuepfung von Arbeitspendeln und
Eierdistribution ist ein gutes Beispiel. Bei FS-Produktion koennen wir
ebenfalls fragen, wie sie in den Alltag eingebettet ist. Hier gibt es
zum einen die, die als Abfallprodukt der Erwerbsarbeit entsteht. Das
andere Modell ist FS als Hobby. Beides bezeichnet wahrscheinlich die
wichtigsten Modelle fuer erfolgreiche Einbettung. Ersteres setzt
voraus, dass ArbeitgeberInnen bereit sind dafuer zu zahlen, letzteres,
dass es die magische Qualitaet hat, die Leute unendlich viel Muehe in
Hobbies stecken laesst. Wichtige Determinanten duerften hier wieder
soziale Netzwerke sein. Der Hobbyist bastelt ja mit Gleichgesinnten
und fachsimpelt fuer sein Leben gern ueber das Feld seiner Expertise.

Lessons:
- Regelmaessigkeit
- Unhinterfragtheit, Routinisierung
- Einbettung in Arbeit oder
- Hobby
- soziale Netzwerke

ad Sinngebung: Es wurde bereits angesprochen: Das Artefakt selbst
zieht einen Rattenschwanz an Sinn hinter sich her. Fernseher bedeutet
Vieles, Teilhabe am Publikum, Suchtmittel, ... . Ebenso FS, sie wird
mit Sinninhalten wie Freiheit, technische Versiertheit, usw. gefuellt.
Wir wissen, dass die sog. interpretative Flexibilitaet (in gewissem
Rahmen) eine wichtige Determinante ist fuer erfolgreiche
'Domestikation'. D.h., dass viele Vieles darin sehen koennen muessen.
Das erweitert ganz einfach den 'Kundenstamm'. Ganz flexibel darf es
aber auch nicht sein, denn Sinn ergibt sich nicht rein individuell,
sondern in Gruppenprozessen, d.h. Sinngebung ist immer auch Teilhabe
an Sinngemeinschaften. Diese grenzen sich gern mal gegen andere ab,
bei FS ist das natuerlich kommerzielle Software, allen voran M$. Damit
sind wieder die real-existierenden sozialen Netzwerke angesprochen,
aber auch Kampf um Bedeutung. Gemeinsame Feinde vereinen und
motivieren ungemein, das wissen alle, die schonmal wieauchimmer
politisch unterwegs waren.

Lessons:
- interpretative Flexibilitaet
- Sinngemeinschaften
- soziale Netzwerke
- Feinde und Freunde

Wenn wir nun Umsonstlaeden durch diesen Kriterienkatalog laufen
lassen, dann sehen sie gar nicht so schlecht aus. Er ist interpretativ
offen, kann als Hobby taugen, steht in der Oeffentlichkeit (was ein
Trade-Off ist: je oeffentlicher, desto hoeher u.U. die Ladenmiete) und
ist ueber Ladenoeffnungszeiten routinisierbar. Ein bisschen hapert es
vielleicht mit dem konkreten Feind und dem 'common itch'. Hier fuehrt
u.U. - das hier nur angedacht - eine Eingrenzung des 'Waren'sortiments
weiter. Die Identifikation (Sinngebung) von Umsonstladen mit Muell und
wertlosem Gerempel duerfte zusaetzlich damit verhinderbar sein. Ein
Umsonstkleidungsladen koennte sich als Anti-H&M profilieren, damit ist
der Feind benannt und viele Leute hassen es, Geld fuer Kleidung
auszugeben, die dann doch zu gross/klein ist (common itch). Ein
FS-Laden (mit FS-Beratung) als Anti-M$-Shop liegt als Alternative
ohnehin auf der Hand.

Eine zentrale Schwaeche von FS im Licht der skizzierten Kriterien ist
die relativ hohe Schwelle. Linux auf dem Desktop hat daran schon viel
geaendert, gleichwohl ist FS zu oft noch ein Ding von Nerds fuer Nerds
(was auch mit Sinngebung und Einbettung zu tun hat). Das gilt
zwangslaeufig auch fuer andere High-Tech-Bereiche 'an der Spitze der
Produktivkraftentwicklung'. Das wurde auf dieser Liste ja schon
diskutiert (Frauen und FS, Herrschaft und FS), ist fuer mich aber
immer noch ein gedanklicher Stolperstein. Aber dazu wannanders
vielleicht mehr.

Die Liste der Kriterien ist, das sollte klar sein, ein bisschen
schnell hingeschrieben und beliebig erweiterbar. Vielleicht hat ja
jemand Lust. Zum Schluss noch 2 Literaturangaben zu unserem
'Domestication-Ansatz' (Warnung: ist halt Soziologie!)

Hirsch, E. and R. Silverstone (1992). Consuming technologies : media
and information in domestic spaces. London, Routledge.

Sørensen, K. H., M. Aune and M. Hatling (2000). Against linearity : on
the cultural appropriation of science and technology. In: Between
understanding and trust : the public, science and technology. M.
Dierkes and C. von Grote. Amsterdam, OPA: 237-257.

mfg

Thomas (Be)


(1) Ich hab fuer meine Diss private studentische Homepages analysiert
und diesen Typus sehr haeufig aufgefunden. Auch im Umfeld dieser Liste
scheint mir das vorzukommen.

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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