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[ox] Re: Wahrheit oder was



Hi Holger!

Gar nicht so unspannend, sich mal wieder über diese ziemlich
philosophischen Sachen Gedanken zu machen. Ich lerne daran auch ein
bisschen, wo meine Schwerpunkte mittlerweile liegen :-) .

2 weeks (18 days) ago Holger Weiss wrote:
* Stefan Merten <smerten oekonux.de> [2003-01-03 17:27]:
Oder soll es einfach nicht eine bessere, ueberlegenere usw. sondern
nur eien "andere" Position sein, genauso gut oder schlecht wie meine

Über "genauso gut" oder "genauso schlecht" lässt sich nur in einem
Bezugsrahmen sprechen. Dein Bezugsrahmen kann von meinem gänzlich
unterschieden sein.
[...]
Den allgemeinen, überhistorischen Bezugsrahmen (aka Wahrheit, Gott,
Nation, etc.) gibt es aber nicht - bzw. er scheint mir das zu sein,
was Transzendenz für manche Leute heutzutage zu bedeuten scheint.

Das ist hier die Kernfrage: Koennen Leute einen Begriff ausschliesslich
an ihren je individuellen Bezugsrahmen ueberpruefen (womit sich jeder
Begriff letzlich auf eine reine `Meinung' reduziert) oder gibt es
Objektivitaet, die ich prinzipiell erkennen und somit als Massstab fuer
die Begriffsbildung nehmen kann.

Eine Frage wäre dann, wer diese Objektivität als solche feststellt.
Kann das ein Mensch? Damit würde der Mensch sich quasi selbst zur
Objektivität machen. Ja, das widerspricht meinen Vorstellungen
ziemlich fundamental.

Du hast klar gesagt, dass nur individuelle Bezugsrahmen sinnvoll sind.

Bei individuell meine ich natürlich eine gesellschaftlich geprägte
Individualität. Das nur BTW.

Meine "Kernfrage" koennte man aber nochmal in mehrere "Teilfragen"
aufsplitten, die mich interessieren wuerden:

- Gibt es Objektivitaet? Gibt es wie auch immer geartete "Wahrheiten",
  die unabhaengig von unserem genuin subjektivem Bezugsrahmen sind?
  Sprich: Ist die Aussage "es gibt die Sonne" auch ohne den
  individuellen Bezugsrahmen wahr? Wuerdest Du hier noch ja sagen?

Gegenfrage: Wer sollte denn außerhalb eines subjektiven Bezugsrahmens
diese Aussage überhaupt treffen? Diese Aussage *kann* nur im Rahmen
eines subjektiven Bezugsrahmens überhaupt getroffen werden. Wenn der
Mensch sich nicht als Objektivität setzt, dann kann es also objektive
Aussagen gar nicht geben, da es für eine Aussage schon ein Subjekt
braucht. Das Universum macht ohne Beobachter jedenfalls keine
Aussagen. Es ist einfach.

- Kann ich diese Objektivitaet erkennen? Oder koennen wir uns deswegen
  keinen Begriff von dieser Objektivitaet machen, weil wir sie notwendig
  durch die Brille unseres individuellen Bezugsrahmens verklaeren?

Verklären, ja. Das Universum da draußen kommt nicht als Ganzes in uns
rein sondern durch Filter. Diese Grenze ist vermutlich niemals
aufhebbar - zumindest nicht in körperlichen Daseinsformen.

Oder
  waere ein solcher Begriff irrelevant, weil ein Begriff ausschliesslich
  im Kontext des eigenen Bezugsrahmens `interessant' ist?

Auch. Wozu brauche ich einen Begriff denn, wenn nicht in irgendeinem
Bezugsrahmen?

- Oder habe ich mit der Frage nach der Sonne das Thema verfehlt, weil es
  Dir um historisch spezifische Fragen geht? Gibt es also
  naturwissenschaftliche, aber keine gesellschaftswissenschaftlichen
  "Wahrheiten"?

Auch naturwissenschaftliche Fragen (und Fragestellungen!) sind
historisch spezifisch. Da gibt es also keinen Unterschied.

Oder gibt es bestimmte Formen von Aussagen (z.B. rein
  empirische im Gegensatz zu erklaerenden Begriffen), die unabhaengig
  vom individuellen Bezugsrahmen "wahr" sein koennen?

Wozu sollte es die denn geben?

Ich meine, wenn wir über Menschen reden, dann reden wir doch im
Wesentlichen über Denken, Handeln und Kommunikation. Was ich mit
meinem individuellen Denken für "wahr" halte und durch mein Handeln
zum Ausdruck bringe, das kann ich anderen kommunizieren. Dadurch kann
deren Denken und ggf. Handeln beeinflusst werden.

Wenn ich irgendwelche anderen zu bestimmtem Handeln bewegen will -
oder sie mich -, dann kann ich irgendwelche Formen von Einfluss
nehmen. Ich kann z.B. versuchen, sie durch Argumente zu überzeugen.
Meine Argumente werden aber *vom Inhalt* her kein Jota besser oder
schlechter, wenn ich da jetzt das Label "Wahrheit" / "Objektivität" /
"Gott" oder - auch immer wieder gerne genommen - "Natur" dranpappe.
Überzeugen kann ich damit jedenfalls niemensch. Bestenfalls überreden.
Das von der inhaltlichen Argumentation Entfremdete ist hier glaube ich
ohne langes Nachdenken erkennbar.

Und wenn meine Einflussnahme scheitert habe ich erst recht nichts
davon, mich auf solche Kategorien zu beziehen. Denn dann kommt dabei
raus, dass die anderen doof / zu dumm / nicht erleuchtet /
Untermenschen sind. Jedenfalls wird es auf dieser Basis zumindest wohl
kaum zu einem weiteren Einigungsversuch kommen.

Verabschiede ich mich dagegen von diesen Kategorien, dann stehen mir
mehrere Möglichkeiten offen. Ich kann versuchen, meine Argumente
besser darzustellen - kann ich auch bei Wahrheitsanspruch. Ich kann
aber auch versuchen zu verstehen, ob die "Wahrheit" meines Gegenübers
vielleicht auch für mich Interessantes beinhaltet. Dann bietet sich
mir die Chance zu Lernen. Das ist doch prima. Ich kann aber auch
feststellen, dass die Bezugsrahmen einfach zu unterschiedlich sind -
und es dabei belassen. Damit bricht letztlich auch niemenschem ein
Zacken aus der Krone.

Ich sehe nicht wo da das Problem ist. Ich kann jedenfalls auch ohne
ein Konzept von Wahrheit (TM) gegen Nazi-Ideologie sein. Ich muss
keine Wahrheit (TM) bemühen, um erklären zu können, warum das in
meinem Bezugsrahmen Sch... ist.
[...]
Ich habe es nicht nötig, in der Kommunikation mit anderen mich auf
irgendeine Wahrheit (TM) zu berufen. Ich (TM) genüge mir sozusagen als
Grund ;-) .
[...]
Impliizit meint doch jeder, dass das was er sagt "wahr" ist
[...]
Das mag so sein. Die Nazis fanden das auch. So gesehen hilft dein
Konzept von Wahrheit gegen die jedenfalls auch nicht.

Der Punkt ist: Nach Deinem "Wahrheitskonzept" ist Nationalsozialismus
nichts als eine _Meinung_. Dir fehlt ja der objektive Bezugsrahmen, an
dem Du (gegenueber wem auch immer) festmachen kannst, dass der Nazi
falsch liegt. Der Nazi braucht also nur sagen "mein individueller
Bezugsrahmen schaut halt anders aus als Deiner" und haette somit einen
ebenso legitimen Anspruch auf seine "Meinung" wie Du.

Seine Meinung schon. Aber beim Handeln wird's ja dann deutlich anders.
Denn da stößt er auf die Meinungen / "Wahrheiten" von anderen und da
ist doch der Bezugsrahmen gegeben - oder?

Wichtig aber: Mit einem solchen individuellen Konzept von Wahrheit
rücken auch die Menschen wieder in den Fokus.

M.E. ist das Gegenteil der Fall. Dein "individuelles Konzept von
Wahrheit" hat Beliebigkeit in der Begriffsbildung zur Folge, reduziert
also in seiner Konsequenz jede Aussage auf nichts als eine subjektive
Meinung. Dafuer steht `die Postmoderne', dafuer stehen die `Daily
Talks'. Das fetischisiert die Subjektivitaet des Individuums, reduziert
aber die Bedeutung seiner Aussagen ganz erheblich. Ob "die Menschen" den
groessten Bullshit von sich geben oder nicht ist wurscht, ist ja alles
Meinung.

Nun reden wir ja hier über Absoluta wie Wahrheit etc. Innerhalb eines
gesellschaftlichen Bezugsrahmens gibt es natürlich schon eine relativ
fixierte Begriffsbildung. Gäbe es die nicht, gäbe es keine
Gesellschaft.

Aber dennoch sehe ich keinen Grund, aus einer solchen relativ
fixierten Begriffsbildung eine ewige Wahrheit machen zu müssen. Reicht
nicht der Bezug auf eine solche Begriffsbildung? Gelingt es nicht nur
mit einem solchen schwankenden Fundament der historischen Entwicklung
emanzipativ - d.h. bedürfnisorientiert - gerecht zu werden? Ich denke
nur mit einem solchen schwankenden Boden unter den Füßen kann es
klappen - auch wenn das sicher nicht immer angenehm ist und zuweilen
mega-anstrengend ist.


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de



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