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Re: Re: [ox] Gibs Gruppen? (war: ... Warum Herrschaftsdebatte?)



liste oekonux.de writes:

Kein Widerspruch. Und dennoch die Frage, warum wäre ein Begriff von
der Gruppe überflüssig? (jetzt mal vom sozoologischen Rahmenprogramm
abgesehen)

Hallo Casimir,

wenn die Kritik der Soziologie gegessen ist dann könnte man sich ja
tatsächlich
über "rationelle Soziologie" unterhalten. Das tue ich hiermit gerne.

Klar ist, daß der Ausgangspunkt beim ungesellschaftlichen Individuum in die
Irre führt, das Individuum ist selbst gesellschaftlicher Schein,
gesellschaftliches
Produkt. Da sind wir uns einig. Ist auch von Psychoanalyse und Marxismus 
aus verschiedenen Blickwinkeln mal beleuchtet worden, ohne daß wir schon
eine
volle Theorie der Individuation hätten.

Es war für mich übrigens total spannend, in verschiedenen Kulturen völlig
verschiedene Konzepte von Individualität kennenzulernen und zu sehen, daß
das handlungsleitende "Konzept vom Selbst" total differieren kann.

In der engeren Europäischen Tradition ist dies das als Grundkonflikt
zwischen
Individuum und Gesellschaft erscheinende "unglückliche Bewußtsein"...es
gibt
aber in anderen Kulturen diesen Grundkonflikt so nicht. Entweder existiert
die Form des Individuums als handlungsleitendes Konzept so nicht, oder
umgekehrt
wird Gesellschaft quasi als "zusammengesetzt" gedacht und praktiziert.
Letzteres
war für mich die spannende Entdeckung in Nordamerika, was die indianischen 
Traditionen anbelangt. Dort ist es usus, daß Individuum zu sein bedeutet,
sich einer
von vitalen gesellschaftlichen Grundfunktionen zugehörig zu fühlen, die
erst in einem
kommunikativen Akt einen gemeinschaftlichen Willen formen. Dann drückt
sich aber
durchs Individuum hindurch sozusagen gesellschaftliche Substanz aus, ein
Gedanke,
der uns Europäern ziemlich fremd ist - leider. Die Utopie einer
herrschaftsfreien 
Gesellschaft hat für mich überhaupt erst seit der Beschäftigung mit der
(natürlich
für die abendländischen Denk- und Begriffswelten aufbereiteten) Theorie der
indianischen Ratsversammlung einen greifbaren und nachvollziehbaren Inhalt 
bekommen!! Und das war ziemlich spät, wenn ichs bedenke....

Interessant ist, daß die Indianer "holarchisch" denken: sie kennen acht
gesellschaftliche
Grundkräfte (fast so wie im periodensystem der Elemente), die im
Individuum selbst
quasi binnenpsychologisch genauso Einheit des Lebendigen herstellen. Diese
Grund-
kräfte können beschrieben werden als: Kreativität, Affirmation, emotionale
Intelligenz,
Identitätssinn, Wissenschaft, Prognostik, Wille und
Gerechtigkeits/Vitalitätssinn.
die letzte Funktion steuert das Zusammenwirken aller anderen sieben
"Intelligenzen".
Nun ist, soziologisch ausgedrückt, die Funktion einer Gruppe wiederum die
Erweiterung
des menschlichen Handlungsspielraumes, indem Menschen bewußt diese
Funktionen
verkörpern und quasi füreinander Korrektive bieten. Das kommt dem schon
ziemlich 
nahe, was Du vielleicht ansprechen wolltest. Es ist spannend, diesen
Prozeß in actu
zu erleben, also eine möglichst vollständige Entfaltung der in einem
Prozeß schlummernden
menschlichen Intelligenzpotentiale. Das ist, was die Indianer
interessanterweise den 
"Weg der Schönheit" nennen. Dazu haben sie Rituale, die aber nicht
willkürlich festgesetzt
sind, sondern einem theoretisch genau ableitbaren Zweck dienen. Sogar die
Reihenfolge
des Sprechens (Osten, Südosten, Süden, ....) dient einem dialektischen
Entfaltungsprozeß 
eines gesellschaftlichen  Allgemeinwillens, der eben nicht abstrakt sein
darf. Außerdem 
sollte jedes Prinzip in sich selbst sowohl von männlicher als auch von
weiblicher Seite 
betrachtet werden, ein Prinzip, das auch bei Göttner-Abendroth in ihren
Matriarchats-
utopien eine wesentliche und für mich nachollziehbare Rolle spielt.

Alles in allem ein "soziales betriebssystem", das m.E. dem unseren, das
einfach atomistische
verhältnisse voraussetzt, haushoch überlegen zu sein scheint. Aber gerade
das bringt
mich eben sehr in Zweifel, ob ein begriff der "Gruppe", der gerade von
solchen gesellschaft-
lichen unterschieden abstrahiert, irgendeinen Sinn macht.

Gruß

franz

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