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Re: [ox] Re: Gegen die eigenen Beduerfnisse handeln?



Holger Weiss schreibt:

Um unseren Gegensatz vielleicht doch aufrecht zu erhalten: Aus dem
prinzipiell freien Willen des Individuums und der Tatsache, dass
gesellschaftliche Formen sich immer nur durch menschliches Handeln
durchsetzen, leitet sich ab, dass _kollektives_ Handeln prinzipiell
gesellschaftliche Verhaeltnisse aendern oder zerstoeren kann. Ich tippe
mal, dass Du auch hier von "Willensillusion" sprichst (Kind... Bad...
ausschuetten). Und nein, mir ging es bei diesem Thema weder um diesen
Punkt noch sitze ich hier beleidigt auf kollektive Handlung wartend.

Das mit dem kollektiven Handeln ist so irgendwie der Knackpunkt.

Meine Argumentation zielte darauf ab, daß das Kollektiv zwar als
Berufungsinstanz
existiert, aber de facto sich historisch und empirisch eine Trennung
zwischen 
"abstrakter" Allgemeinheit und empirischem Interesse ergeben hat.

Das ist aber nun nicht einfach böser Wille. Und ich gehe auch nicht so
weit, 
wie ich jetzt mal Stefan Mz interpretiere, daß ich a priori kollektives
Handeln
- Grund, Zweck und Mittel eingeschlossen - für unmöglich erkläre. (Das
war jetzt vielleicht eine Fehlinterpretation, ja ganz sicher, wenn ich
drüber 
nachdenke, aber aus Stefans Modus der ersten Person werd ich nicht
wirklich 
schlau, und vielleicht bringt diese Provokation eine Antwort).

Es ist einfach so, daß viele "kollektive" Handlungsmuster in einer
abstrakten
Allgemeinheit enden, es schleicht sich automatisch die Trennung ein von 
Repräsentation und Vollzug. Das "Spektakel" ist ja der Wertform immanent,
auch 
die hunderten Formen kollektiver Repräsentation, die dann sich scheinbar
ver-
selbständigen, sie alle werfen die Frage nach dem lebendigen Nexus
gesellschaftlicher
Synthesis auf. Das muß allerdings nicht bedeuten, daß alle Dinge immer
kommuniziert
werden müssen, wahre kollektive Handlung zeichnet sich auch durch
Verläßlichkeit
aus, was auch das "Verlassen-Können" in der Wortbedeutung hat. Dann
braucht 
kollektive Handlung, wenn Du so willst, einfach ein objektives Substrat.
Der Wille
muß zusammenstimmen mit einer objektiven, verläßlichen Form der
Vergesellschaftung.

Marx hat diese Vergesellschaftung fälschlicherweise im Industriesystem
verortet,
im emphatischen Begriff des Proletariats als lebendiger Produktivkraft, in
der 
Können (objektive Potenz) mit Wollen (subjektiver Wille) zusammengeht.
Was er zwischendurch immer wieder betont, daß dieser Schritt eigentlich 
ein "enormes Bewußtsein" voraussetzt, klingt wie eine unterdrückte
Einsicht, daß
es das Proletariat als Subjekt so gar nicht gibt, sondern eine
Interessenskoalition
existiert, die sich immer wieder an einem paradoxen gesellschaftlichen
Verhält-
nis abarbeitet wie Sysiphus. Diesbezüglich argumentiert er in "Lohn Preis
und 
Prfit" sehr illusionslos:

"Ich glaube nachgewiesen zu haben, dass ihre Kämpfe um den Lohnstandard
von dem
ganzen Lohnsystem unzertrennliche Begleiterscheinungen sind, dass in 99
Fällen 
von 100 ihre Anstrengungen, den Arbeitslohn zu heben, bloß Anstrengungen
zur 
Behauptung des gegebnen Werts der Arbeit sind....(daher) sollte die
Arbeiterklasse 
die endgültige Wirksamkeit dieser tagtäglichen Kämpfe nicht überschätzen.
Sie 
sollte nicht vergessen, dass sie gegen Wirkungen 
 kämpft, nicht aber gegen die Ursachen dieser Wirkungen; dass sie 
zwar die Abwärtsbewegung verlangsamt, nicht aber ihre Richtung ändert; 
dass sie Palliativmittel anwendet, die das Übel nicht kurieren. 
Sie sollte daher nicht ausschließlich in diesem unvermeidlichen Kleinkrieg
 aufgehen, der aus den nie enden wollenden Gewalttaten des Kapitals
 oder aus den Marktschwankungen unaufhörlich hervorgeht. 
Sie sollte begreifen, dass das gegenwärtige System bei all dem Elend, 
das es über sie verhängt, zugleich schwanger geht mit den materiellen 
Bedingungen und den gesellschaftlichen Formen, die für eine ökonomische 
Umgestaltung der Gesellschaft notwendig sind. 
Statt des konservativen Mottos: »Ein gerechter Tagelohn für 
 ein gerechtes Tagewerk!«, sollte sie auf ihr Banner die revolutionäre 
Losung schreiben: »Nieder mit dem Lohnsystem!«?

Das ist ein Apell, aus dem später die Marxisten, von denen Marx keiner 
sein wollte, die Rede vom "objektiven Interesse" verfertigt haben.
Interessenskampf scheitert, das ist die Behauptung, und sie hat einiges
für sich. Die Form des Interesses ist selber eine Schranke.

Was aber bleiben dann für Formen "kollektiven Handelns" übrig? Die
Beseitigung einer politischen Herrschaft, der Sturm aufs Winterpalais?
Die Revolution als ewiges Fest? Eben nicht.

Um es in Deinen Worten auszudrücken: der Wille kann sich nur effektiv der
Struktur widersetzen, wenn er eine effektive Struktur mit sich bringt.
Sonst sind alle Zerstörungsversuche nur Donquichotterien.
Dem proletarischen Handeln ist eine solche Struktur eben nicht
immanent, und sie ist auch nicht von außen durch reine Organisations-
lehre aufzubauen.

Thema: Hat das Subjekt die Moeglichkeit, gesellschaftlich
undeterminierte Entscheidungen zu treffen und wenn ja, wie ist das
Verhaeltnis zu den gesellschaftl. Bedingungen? Die Frage kam nicht auf,
weil ich an den freien Willen der Arbeiterklasse appellieren wollte,
sondern weil ich versucht hatte, Joost Kluessendorfs These bezueglich
des Gegenstands "individuelles Handeln" differenziert zu besprechen,
indem ich besagtes Verhaeltnis aufdroesele. Die Frage ist IMO tricky,
aber beantwortbar. Wenn Du sagst, sie ist prinzipiell irrelevant, wuerde
mich interessieren, was Du denn zu Joosts Punkt gesagt haettest.

Joosts These hat mich furchtbar geärgert. Ich erinnere an seine 
Aussage:

Selbst wenn die Folgen einer Handlung (ein Krieg) mit großer Sicherheit
vorauszusehe sind, kann niemand wissen, wie das Individuum diese Folgen
bewertet - vielleicht ist Karl-Heinz ja stolz auf seine Uniform und die
Schussverletzungen, die seine Tapferkeit bezeugen ? Kann ich ihm
trotzdem objektiv attestieren, dass die Situation gegen sein Interesse
verstößt ?

Ich kann Karl-Heinz zumindest eines attestieren: daß er sein
Interesse den Verhältnissen akkomodiert. Ganz im Gegensatz zu
Stefan Mz und Joost bin ich (wahrscheinlich mit Dir) der Meinung,
daß es sich bei Karl Heinz Gebrauch seiner subjektiven Freiheit um
alles andere als ein subjektives Phänomen handelt; Sinnsuche und 
moralische Konstruktion sind massenhaft verbreitete Phänomene, mit
denen und durch die hindurch sich so etwas wie die Objektivität
gesellschaftlicher Verhältnisse durchsetzt. Ohne eine Myriade von
individuellen, pausenlosen Akkomodationsversuchen gäbe es diese
Verhältnisse gar nicht; Subjektivität ist ein objektiver Faktor,
und es ist richtig und wissenschaftlich, sich deren Gebrauch auch
typologisch anzusehen. Darin, wie Stefan behauptet, die Unmenschlichkeit
der Wertform sich austoben zu sehen, hieße die Verallgemeinerungs-
fähigkeit des menschlichen Denkens fundamental anzugreifen. Ich bezichtige
diese Position der Inkonsequenz, denn  dann dürfte man sich keinen Begriff
von irgendwas mehr machen und könnte nur noch blöken. das tut auch
Stefan nicht, sondern fertigt durchaus Urteile. Warum nicht zum 
Gegenstand "Interessen?". Weil man sie nicht direkt beobachten kann,
sondern nur an ihren Äußerungen?
Daß man Menschen nach ihren Bedürfnissen fragen muß, halte ich 
nicht unbedingt für richtig, wenn auch nicht für total verfehlt; man 
kann ihre Bedürfnisse sehr wohl aus ihren öffentlichen und privaten 
Manifestationen erschließen. Karl Heinz Stolz auf seine Uniform 
zeigt sich, wenn auch wahrscheinlich eher unter Gleichgesinnten.

Was Deine Frage anbelangt, so weise ich sie einfach zurück. Jede
Deiner Entscheidungen ist determiniert, genauso wie sie auch 
frei ist. Das ist einfach eine falsche Abstraktion. ich kann, wenn ich
eine "gesellschaftlich undeterminierte Entscheidung" treffen will,
ein Künstler werden und einen vertikalen Erdkilometer bauen. 
Aber selbst dann bin ich eigentlich durch den Kunstbetrieb, der 
gesellschaftlich zur Demonstration subjektiver Freiheit alimentiert
ist, determiniert - und nicht zu knapp, wie die Harmlosigkeit der
Kunst beweist.

So long,

Franz

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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de



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