[ox] Re: Arbeit
- From: Hans-Gert Gräbe <graebe informatik.uni-leipzig.de>
- Date: Wed, 10 May 2006 16:43:43 +0200
Hallo Wolfram und Jakob,
Wolfram Pfreundschuh wrote:
Jac: Tja, Wolfram, hier haben wir wohl einen Dissenz. Als
revolutionärer Psychoanalytiker kann ich nur feststellen, daß es
nicht reicht, die inneren Vorgänge des Kapitalismus zu begreifen,
solange daß diesen zugrunde liegende verinnerlichte Machtmodell als
Modell sozialer Beziehungen intakt bleibt und in eine freie
Gesellschaft hinein fortgeschrieben wird.
Marx benötigt eine Ergänzung durch Otto Gross u.a., um zu erkennen,
daß die Annahme, die Entfremdung des Menschen vom Menschen sei
allein seinen (Re-)Produktionsbedingungen geschuldet, Teil dieser Ent-
fremdung des Menschen von sich selbst ist.
... oder gleich durch Hoevels: Marxismus, Psychoanalyse, Politik
Beide Seiten - Entfremdung und psychische Konstitution - stehen in einem
engen Wechselverhältnis, was wohl erstmals die Frankfurter Schule
deutlich thematisiert hat. Hoevels begründet auch schön, warum da weder
Marx noch Freud je über ihren Schatten springen konnten.
Ich hätte mich gefreut, meine Argumentation überhaupt wieder zuerkennen.
Ich hab doch nirgendwo behauptet, dass die "Entfremdung des Menschen
vom Menschen allein seinen (Re-)Produktionsbedingungen" geschuldet sei.
Wenn, dann ist sie zum einen dem Wert als Abstraktionsmacht zwischen
den Menschen geschuldet und zum andern der Identitätslosigkeit von
Menschen, die ihre Abhängigkeit von ihren Lebensbedingungen nicht zu
überwinden vermögen (z.B. Konsumfixierung usw.), also unfähig zu einer
Kritik ihrer eigenen abstrakten Bedingtheit sind.
Und was machst du mit den Leuten, die auch weiterhin "unfähig zu einer
Kritik ihrer eigenen abstrakten Bedingtheit sind"? Was ja wohl auch in
weiterer Zukunft eher die große Mehrheit sein wird (eben "Zivilisten" -
C.Spehr).
Schließlich ist eine solche Kritik kein enifaches Ding, besonders in
Zeiten, in denen "das geschwächte und der Realität immer hörigere
Bewusstsein ... die Fähigkeit verliert, jene Anspannung der Reflexion zu
leisten, die ein Begriff von Wahrheit fordert, der nicht dinghaft und
abstrakt der bloßen Subjektivität gegenübersteht, sondern sich entfaltet
durch Kritik, kraft der wechselseitigen Vermittlung von Subjekt und
Objekt." (Adorno)
Vielleicht gibt es ja andere Formen und Wege der Erkenntnis und es ist
für eine THEORIE der Freien Gesellschaft wichtig, auch - bzw. viel mehr
- über diese nachzudenken. So habe ich jedenfalls Jakob verstanden.
Der Mensch wird nicht nur von äußeren Umständen geformt, sondern
von Beginn an vom Konflikt seines existentiell Eigenem im Verhältnis zu
den äußeren Umständen.
Und vom Konflikt der verschiedenen Teile seines "existentiell Eigenen"
untereinander, denn nicht nur das Verhältnis zu den äußeren Umständen
ist konflikthaft, sondern diese Umstände selbst sind es auch (was m.E.
übrigens NICHT mit einer Freien Gesellschaft verschwunden sein wird) und
diese Konflikthaftigkeit findet ihren Ausdruck in der
Widersprüchlichkeit des eigenen Wollens und Tuns.
Er ist nicht nur seinem Produkt, sondern auch seinen in diesem
Konflikt nicht erlaubten Anteilen seiner Selbst entfremdet.
Dadurch wird die schizophrene Spaltung jedes Menschen zum
gesellschaftlichen Normalzustand.
Was hier "schizophrene Spaltung" und was "nur normaler" Umgang mit
Widersprüchlichkeit ist, wäre auszuloten.
Diese außeren Umstände sind teilweise den aktuellen
Produktionsbedingungen geschuldet, teilweise jedoch sehr viel
älteren tradierten Bedingungen, deren Bezug auf
Produktionsbedingungen nicht erkennbar bzw. nicht überliefert
ist.
In der Tat, das kommt noch hinzu. "Alle naturwüchsigen Voraussetzungen
zum ersten Mal mit Bewußtsein als Geschöpfe der bisherigen Menschen
behandeln, ihrer Naturwüchsigkeit entkleiden und der Macht der
vereinigten Individuen unterwerfen" - wir reden also von Kommunismus im
Verständnis des jungen Marx (MEW 3, S. 70). Da gehört Psychoanalyse als
Handwerkszeug immanent dazu.
Vielleicht ist da bisher zu wenig begriffen von dem, was der Grund der
Selbstentfremdung ist. Das hat nichts mit "älteren tradierten
Bedingungen" zu tun, etwa Archetypen oder so was. Das hat mit der
Kernspaltung der Menschen in ihrer Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung zu
tun, die sie als bloße Geldbesitzer haben ....
Das greift VIEL zu kurz.
Sie können das, was sie wahrnehmen, nicht mehr menschlich beziehen
auf das, was sie wahrhaben.
Ist das ein Effekt des Kapitalismus oder der Industriegesellschaft?
Sie haben, wie Du ja auch schreibst, eine Spaltung in sich. Diese
begreift die Psychonanalyse allerdings nur als einen bloßen Dualismus
und arbeitet daher auch nicht an dem Erkenntnisproblem, das die
Menschen wirklich haben, sondern an einem ontischen, vorzeitlichen
Gegensatz. Ich sehe nicht, wie das die Kritik an diesen Verhältnissen
befördern soll und weiß daher nicht, was ein "revolutionärer
Psychoanalytiker" ist.
Bleibt nur die Gegenfrage? Was ist "die Psychoanalyse"?
HGG
--
Prof. Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig
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