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[ox-de-raw] Re: [ox-de] keimform.de: Open Source Jahrbuch: Das erste Kapitel



Hallo Christian,

Christian Siefkes schrieb:
Stallman spricht schließlich von der Freiheit, die eigenen
Lebensbedingungen (in Bezug auf die für ihn wichtige Komponente der
Verfügbarkeit von Quellcode und Wissen allgemein) selbst zu gestalten.
Und das ist wohl kaum was anderes als Marxens Kommunismusverständnis im
Vorwort der "Deutschen Ideologie": Kommunismus = Produktion der
Verkehrsformen der Gesellschaft.

Ich kenne den Film nicht und er scheint ja auch nicht frei zugänglich zu
sein,

http://www.revolution-os.com, ich habe ihn mehrfach hier in Leipzig gesehen, u.a. im Rahmen der GlobaLE

So sieht das ja auch Bärwolff, der es ja toll findet, dass Open Source sich
so einwandfrei ins bürgerliche Konzept fügt, statt es in Frage zu stellen.

Was das auch immer heißt, wenn es zugleich Keimform sein sollte und Sprengkraft hat. Dass ich das unter dem Aspekt "pubertäre Form ..." anders sehe als die Mehrheit hier ist bekannt.

Aber die bürgerliche Freiheit, andere ausbeuten (= für sich arbeiten zu
lassen) zu dürfen, setzt natürlich an andere Stelle den strukturellen Zwang,
sich ausbeuten lassen zu müssen, voraus.

Genau hier frage ich, ob das die ganze Story ist, weil ja, zumindest bei Marx, Ausbeutung als "Ausbetung *fremder* Arbeitskraft" daherkommt, mit Eigentum, aber genau die Selbstkomponente betont wird.

Der Kapitalismus stellt diesen Zwang über sein Eigentumskonzept her
(wer nicht hinreichend Eigentum hat oder bekommen kann, um andere
ausbeuten zu können, ist gezwungen, sich selbst ausbeuten zu lassen,
sofern er/sie sich nicht mit einem äußerst kläglichen Leben abfinden
will).

Das ist dann ein begrifflicher Bruch, weil die ganze Marx'sche ökonomischen Theorie eben auf Ausbeutung *fremder* Arbeitskraft in einem Verdingungsverhältnis (wie es (Ruben-98) vollkommen richtig auseinandernimmt) aufbaut, du mit "Selbstausbeutung" also bereits nolens volens wenigstens aus mikroökonomischer Sicht ins Unternehmerlager gewechselt (worden) bist.

Und die Stallmans, Perens', Raymonds' usw. sind mit ihren Aktivitäten in Richtung GPL, Open Source etc. eben unternehmerisch tätig, indem sie die Bedingungen ihrer eigenen Kooperation verhandeln und dabei auch teilweise streitbare Kollektivorgane (FSF) geschaffen haben statt sich zu verdingen. Stallman hat dazu 1984 bekanntlich sogar das MIT mit sehr ungewisser Perspektive verlassen.

Wer aber diesen strukturellen Zwang, sich ausbeuten zu lassen, aufhebt, hebt
damit natürlich zugleich auch die bürgerliche Freiheit, andere ausbeuten zu
können, auf (sie besteht dann vielleicht noch auf dem Papier, hat aber
keinerlei praktische Relevanz mehr, da es niemand gibt, auf den sie sich
bezieht).

Wer ist das Subjekt dieser deiner Aussagen?

Stallman & Co. stellen die bürgerliche Rechtsordnung, d.h. den strukturellen
Zwang, sich ausbeuten lassen zu müssen, der sich aus dem kapitalistischen
Eigentumskonzept ergibt, aber explizit _nicht_ in Frage. Im Gegenteil
berufen sie sich sogar explizit darauf, weil sowohl die praktische
Absicherung (FOSS-Lizenzen) als auch die theoretische Begründung ihrer
Konzepte auf dem Idee des *Eigentümers*, der seine Lizenz nach eigenem
Gutdünken wählen kann, aufbaut.

Und haben mich dabei auf ihrer Seite, weil ich den kulturellen Gehalt dieser Art von Regelung auf die gleiche Weise hoch halte wie Stallman & Co. Es gibt Praxisformen, hinter die ich nicht zurück möchte. Da bin ich durch "realsozialistische" Erfahrungen wahrscheinlich viel stärker konditioniert als die "jungen Generation". Einem wie auch immer konstituierten "kollektiven Subjekt", das in deiner Argumentation an allen Ecken hervorlugt, kann ich nichts abgewinnen, weil es historisch bisher immer wieder in "die alte Scheiße" geführt hat, dass einige Tiere nach endlicher Zeit gleicher waren als andere.

<Einschub zu Stallman>
Stallman geht in seiner Kritik hier zwar tatsächlich weiter als der Rest der
FOSS-Bewegung. Aus Texten (wie dem seinerzeit von mir übersetzen) "Warum
Software keine Eigentümer haben sollte"
[http://www.gnu.org/philosophy/why-free.de.html] wird aber sehr schnell
klar, dass er das bürgerliche Eigentumskonzept nicht grundsätzlich in Frage
stellt (Software sollte vielleicht keinen Eigentümer haben, materielle Dinge
aber schon).

... weil es sich um verschiedene Vergesellschaftungsmodi handelt. Software (schreiben) ist denken, raisonnieren, öffentlicher Gebrauch der Vernunft, materielle Dinge (incl. Software einsetzen) aber privater Gebrauch der Vernunft im Handeln, das - in einem vernünftigen Freiheitskonzept - letztlich nur zusammen mit Verantwortung für das eigene Tun zu denken ist (incl. der Verantwortung für Schäden beim Einsatz von Software). Dem Eigentum in der bürgerlichen Rechtsordnung (BGB Buch 3) sind genau die beiden Konzepte Verantwortungsfähigkeit (Buch 1) und Sanktionsfähigkeit (Buch 2) vorgelagert. Das bürgerliche Eigentumskonzept allein in Frage zu stellen bringt also gar nichts.

Genau zu den Fragen findest du übrigens im Buch von Sabine Nuss nichts.

Grundsätzlich wird das Eigentum, und damit der strukturelle Zwang, also
anerkannt und keineswegs in Frage gestellt, weder von Stallman noch vom Rest
der FOSS-Bewegung. Das ist der Punkt, den sowohl Sabine Nuss als auch
Bärwolff sehen, nur dass Nuss ihn als unzureichend kritisiert, während
Bärwolff ihn toll findet.

Wovon der strukturelle Zwang ausgeht (dessen Existenz ich keineswegs in Frage stelle), das wäre genauer zu analysieren. Ob es also wirklich bereits die konzeptionelle Dimension von Eigentum ist oder "nur" die heutige gesellschaftliche Realität. Ob also auf vielen bürgerlichen Grundlagen "eine andere Welt möglich" ist, insbesondere wenn die Bedeutung von Verdingungsverhältnissen zurückgedrängt wird. Auf diesem (für viele schmerzvollen) Weg befinden wir uns ja offensichtlich.

Wobei die kommunistische Situation, dass sowohl der unmittelbare Zwang des
Königs (Köpfen) als auch der strukturelle Zwang der Bürgertums (Verhungern
bzw. Verelenden) aufgehoben sind, in der _Praxis_ der Freien Software ja
schon partiell besteht. Ein Linus Torvalds _kann_ seine Mitarbeiter/innen
(die mit ihm am Linux-Kernel arbeiten) nicht ausbeuten

Richtig - weil sie nicht in einem Verdingungsverhältnis zu ihm stehen. Das heißt aber keineswegs, dass Torvalds nicht auch inzwischen eine goldene Nase hat, wo ich keinen Grund sehe, warum seine Nase um so Vieles goldener ist als meine. Allerdings hält sich mein Neid da wahrlich in engen Grenzen.

Auch kooperatives Zusammengehen enthält immer Momente der Ausbeutung. Dass der Ausbeutungsbegriff weit jenseits seiner monetären Aspekte auszudehnen ist hatten Jac und ich im Nachgang zu Hütten-06 hier auf der Liste an einem sehr konkreten Beispiel thematisiert.

Ich finde die Existenz der Praxis schon mal sehr wichtig, und beurteile das Potenzial der Freien Software daher weniger pessimistisch als Sabine. Aber dass das Fehlen einer zu dieser Praxis
passenden Theorie ein erhebliches Problem ist, das Weiterentwicklung
und Ausbau dieser Praxis _zumindest_ stark erschwert, sehe ich auch.

Die Betonung liegt auf *einer* Theorie?

Viele Grüße, Hans-Gert

--

  Prof. Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig
  Johannisgasse 26, D-04109 Leipzig, Raum 5-18	
  tel. : +49 341 97 32248
  email: graebe informatik.uni-leipzig.de
  Home Page: http://www.informatik.uni-leipzig.de/~graebe



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