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Wissenschaft et al (was: Re: [ox] Wesen et al)



Hi Stefan!

Diese Mail ist in Teilen nicht freundlich.

Last week (10 days ago) Stefan Meretz wrote:
In der traditionellen Psychologie z.B. sind die Begriffe
immer schon "da", in der Regel werden sie "definiert" ("Ich
verstehe unter xy: ....").

Die Begriffe sind immer schon da? Werden aber in der Regel
definiert? Dieses "sie sind immer schon da" verstehe ich dann
nicht. Wenn etwas immer schon da ist, wird es in der Regel gerade
nicht mehr definiert, sondern gesetzt (wie bei den Prämissen in
Kuhns Paradigma). Musst mir nochmal erklären.

"Immer schon da" meint, das sie im Alltag (manchmal gehobener:
Wissenschaftsalltag) einfach verwendet werden. Als solche sind sie
natürlich mehrdeutig. Deswegen müssen sie in der
wissenschaftsförmigen Verwendung 'definiert' werden, damit klar
wird, welche der - eigentlich vorausgesetzten - Bedeutungen
gemeint ist.

Es gibt einen begrifflichen Unterschied zwischen Worten und Begriffen.
Was du hier beschreibst ist genau die Überführung eines im Alltag
vorgefundenen Wortes in eine wissenschaftlich umrissenen fixierten
Begriffen. Das ist m.E. auch genau das Wesen einer Definition.

Und das finde ich auch ganz legitim so vorzugehen. Wie willst du denn
sonst die neuen Dinge, die dir gerade in innovativen Wissenschaften
wie der Informatik andauernd begegnen respektive, die du entwickelst -
kurz: über die du plötzlich reden mußt -, wie willst du diese Dinge
denn benennen? Das Wort "schwarzes Loch" hat auch eine
alltagssprachliche Bedeutung, die mit dem komplexen physikalischen
Phänomen, das die PhysikerInnen entdeckt haben, so gut wie nichts zu
tun hat (seit Hawking sind sie ja nicht mal mehr schwarz...).

Das meine ich mit 'nicht expliziert': die Begriffe
sind nicht ausgewiesen, sie halt einfach 'da'.

Die Definition expliziert sie doch. Wo sollen die Worte denn sonst
herkommen als von Vorgefundenem? Sollen sie vom Himmel fallen? Nehmen
wir die natürlichen Zahlen als Bezeichner für die Begriffe?

Nun kannst du natürlich kritisieren, daß die WissenschaftlerInnen sich
nicht an ihre eigenen Definitionen halten, daß es keine Definitionen
gibt, daß bestehende Definitionen nicht einheitlich verwendet werden,
etc. pp. M.E. sagst du damit aber nur, daß sich eine bestimmte
Definition noch nicht durchgesetzt hat. Das findest du wahrscheinlich
nicht bei Wissenschaften, die sehr alt sind und wo nicht mehr viel
passiert. Aber bei neuen Feldern ist das m.E. unumgänglich.

Sie liegen sozusagen ausserhalb der Wissenschaft
selbst. Faktisch werden sie durch "Anschauung" gewonnen.
Damit haben sie den Charakter von wissenschaftsförmig
(sprachlich aufgemotzt) verdoppelten Alltagsbegriffen.

Das mit dem Verdoppeln verstehe ich auch nicht so recht. Du
meinst, die Begriffe sind im Kopf so verankert, entstanden in der
Wahrnehmungswelt ausserhalb des wissenschaftlichen
Erkenntnisprozesses werden sie in die Wissenschaft hinein
transformiert, dann dort nochmal affirmativ definiert und sind
deshalb "doppelt" Oder wie ????

Ja, so in etwa. Wobei sie nicht 'nochmal definiert' werden, denn
im (Wissenschafts-) Alltag wird ja normalerweise nicht definiert,
sondern von einem 'rough consensus' ausgegangen - was auch ok ist.

Na, was ist denn das, was die Leute in einem Studium lernen? Ist das
nicht u.a. eine geballte Ladung Definitionen? Definitionen als
sprachliche Fixierung eines bestimmten zugrundeliegenden Begriffes
führen natürlich in der Folge zu einem "rough consensus" - und BTW
auch zu "running code" ;-) .

Wenn aber dieser 'rough consensus' nur noch definitorisch
zugeschnitten wird, dann hat Wissenschaft ihre 'kritische' Potenz
verfehlt, dann bleibt nur noch 'Affirmation' und 'Verdopplung':
Es wird nichts Neues mehr hervorgebracht, sondern Alltägliches
wissenschaftlich verbrämt wiedergekäut.

Das sehe ich überhaupt nicht so. M.E. kommt es vielmehr darauf an, wo
du in der Wissenschaft hinschauen willst. Die Affirmation und
Verdopplung kommt nicht aus der simplen Übernahme von
Alltagswahrheiten, sondern ob du dazu bereit bist, über das Bestehende
hinauszudenken.

Daß selbst mit einem kritischen Instrumentarium wie dem Marx'schen die
MarxistInnen und die Arbeiterbewegung die Affirmation prima
hingekriegt haben, ist m.E. ein stützender Hinweise darauf.

Ein Beispiel, mit dem ich mich sehr eingehend beschäftigt habe,
ist der Konnektionismus - leidlich bekannt geworden unter der
Bezeichnung 'Neuronale Netze'. Kürzlich hatte ich das Vergnügen,
zu einem Aufsatz mit dem Titel 'Konnektionismus und Psychoanalyse'
eine Kritik schreiben zu dürfen. Dort habe ich drei Begriffe
herausgefischt:
- 'neuronales Netz': so als Redeweise ok, aber sobald man ein
wissenschaftliches Erkenntnisinteresse verfolgt, darf man IMO ein
mathematisches Verfahren nicht mehr so nennen - sonst fällt man
laufend auf seine eigene Redeweise rein;

<sarcasm>Wie beim Schwarzen Loch...</sarcasm>

Wer ist "man"?

- 'Bedeutung': hier wird vom Verständnis ausgegangen, das weltliche
Bedeutungen 'vereinbart' würden. Wenn man diese 'Vereinbarungen'
algorithmisch abbilden könne (als Syntax-Semantik-Relationen),
dann sei auch ein mathematisches Verfahren ('neuronales Netz')
in der Lage, 'Bedeutungen' aus der Umwelt zu extrahieren. Ohne es
hier vorzuführen: Das ist kompletter Unsinn.

Nur, wenn du einen anderen Begriff hinter "Bedeutung" legst als das
diese Herrschaften tun.

- 'Lernen': Lernen wird als bloße Adaption, als Anpassung gesehen,
wofür es entsprechende 'Lerntheorien' in der Psychologie gibt. Das
ist nicht nur Unsinn, sondern wird hier in seiner ideologischen
Funktion deutlich: Nichts hinterfragen, sondern an die Vorgaben
anpassen.

Das finde ich für ein Computer-Programm auch genau richtig. Das soll
gefälligst nicht mich hinterfragen, sondern sich an meine Vorgaben
anpassen. Oder findest du, wir sollten alle zurück zur Kommandozeile?

Well, IMHO kritisierst du hier genau das, was ich für zwei
unterschiedliche Sprachspiele halten würde (Wittgenstein soweit ich
weiß - ist nun wirklich nicht mein Fach). Und das kann ungeheure
Energien freisetzen. Ich habe auch schon Leute aus der Psychologie
beobachtet, wie die sich tierische aufregen konnten, weil sich
Computer-Leute erdreisteten das Wort Kommunikation zu verwenden. Und
solche Anhänger verschiedener Sprachspiele können auch ewig aneinander
vorbeireden - klar.

Wichtig wäre es m.E. sich nicht darüber aufzuregen, sondern darauf
hinzuweisen und nach Möglichkeit auf saubere Definitionen zu dringen,
damit die Beteiligten überhaupt wissen, worüber sie reden.

...well, weiter unten sagst du ganz ähnliches - ich versteh's
vielleicht einfach nicht.

Also: Die Annahme, dass der Mensch ein Individuum ist, die
Abstraktion also vom konkreten Menschen, die ist noch nicht
so alt, geschichtlich betrachet. Eigentlich ist dieses Denken
ein Produkt der Entstehung der bürgerlichen Welt. (...)

Das ist ja richtig beschrieben - aber doch kein Grund, heute
Wissenschaft nicht zu betreiben, nur weil diese vor 1000 Jahren
oder wieviel Jahrne nicht betrieben wurde?

ups. Dass Du das, was die Altvorderen so dachten,
unwissenschaftlich nennst, erstaunt mich dann doch. In deren
historisch-kontextuellen Wahrnehmung (in ihrem Paradigma) war
das sehr wohl wissenschaftlich.

Gemessen am modernen Wissenschaftsbegriff - denn der Begriff ist
selbst ein Produkt der Modernen genauso wie das Denken des
Menschens als Individuum - war das keine Wissenschaft. Aber das
ist unerheblich, denn natürlich gabs Erkenntnisse. Aus heutiger
Sicht relative Erkenntnisse in relativer Sichtweise. Das
Oberflächendenken gehört in diese Zeit, ein anderes Denken war
nicht möglich. Heute ist ein "Entwicklungsdenken in Widersprüchen"
(dialektisches Denken) möglich.

Sorry, aber diese historische Siegessicherheit und die resultierende
Arroganz nerven mich gewaltig: Ja, ja, was wir heute machen ist hehere
Wissenschaft. Früher gab es bestenfalls Erkenntnisse - so viel
gestehen wir früheren Zeiten ja zu - wir sind ja gar nicht so. Aber
wir haben's heute gut, weil wir die ersten sind, die sich mit etwas
anderem als seichter Oberflächenverdopplung befassen können. Wir sind
die, die den Dingen wirklich auf den Grund gehen können - alle vorher
waren ja zu schlicht zu blöd oder hatten vielleicht nur das Pech der
frühen Geburt.

Mich tröstet nur eins: Genau das wird ein Stefan Meretz in hundert
Jahren über den Stefan Meretz von heute sagen...

Wir _sind_ rückblickend
schlauer, und das ist gut so.

Sind wir? Gemessen woran "schlauer"?

Gemessen am jeweiligen (wissenschaftlichen) Gegenstand. Gelingt es
uns, in die Wesensstruktur erkennend einzudringen oder bleiben wir
an der Oberfläche kleben. Letztlich geht's dabei immer um die
Praxis: Werden wir handlungsfähiger oder nicht?

Du hast ja keine Ahnung, wie handlungs*un*fähig wir heute auf manchen,
im übrigen gar nicht so irrelevanten Gebieten so sind. Es kommt halt
schon sehr auf die Perspektive an und es kotzt mich an, wie du mit
deiner letzlich linearen Sicht der Geschichte den heutigen Zustand mal
eben zum Höchstmöglichen erklärst.

Für mich hat jede Sorte Wissen(schaft) ihren Platz und ich muß nicht
hingehen und andere abwerten, weil sie etwas anderes für Wissen halten
als ich. Du magst mich jetzt postmodern schimpfen, aber für mich
gehört das zum je individuellen dazu.

Deswegen stehen
wir heute wieder in einer globalen Umbruchsituation, für die uns
die Freie Software zeigt, wie man neu mit akkumuliertem Wissen
umgehen kann (muss), um global als Menschheit wieder
handlungsfähiger zu werden.

Eben nicht handlungsfähiger im Sinne eines wirklichen Zuwachses. Wir
werden (hoffentlich) z.B. verlernen mit Geld umzugehen, an der Börse
zu spekulieren, oder andere zum eigenen Vorteil zu hintergehen. Aber
ob wir z.B. unsere magischen Potenzen wiederentdecken, möchte ich doch
bezweifeln - oder nimm die sexuellen wenn dir das besser paßt.

Ich kann die nur wärmstens Paul Feyerabend ("Wider den Methodenzwang"
- eine Empfehlung, die mir viel gebracht hat) empfehlen, der mit
dieser Sorte Gewißheiten gründlich aufräumt.


						Mit li(e)bertären Grüßen

						Stefan


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http://www.oekonux.de/



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