Message 02843 [Homepage] [Navigation]
Thread: oxdeT02737 Message: 17/22 L7 [In index]
[First in Thread] [Last in Thread] [Date Next] [Date Prev]
[Next in Thread] [Prev in Thread] [Next Thread] [Prev Thread]

Re: [ox] Wieder ausgegraben



Hallo Ingo,

Ingo Heer schrieb am 24 Jun 2001 

Ich gehe davon aus, dass dieser "Maschinenpark", seine Existenz und
seine Struktur, auch sehr stark die Art und Weise und die Formen
(mit)bestimmt, in denen sich der Mensch als Gesellschaftswesen
organisiert. Also doch eher _bestimmt_ als _bedingt_.

Ich gehe davon aus, dass die gesellschaftlichen Formen, in welchen sich
der Mensch als gesellschaftliches Wesen organisiert, ein Produkt seiner
Tat sind. Das heißt, er bestimmt diese Formen. Dass er dies nur unter
den gegebenen Bedingungen, sowohl nichtmenschliche Natur als auch
menschliche Natur, nämlich der Maschinenpark, kann, ist klar. 
Deshalb bleibe ich dabei: die vorgefundenen als auch die
selbstproduzierten Lebensmittel bedingen die Formen der
gesellschaftlichen Produktion, seine eigene Tat bestimmt diese Formen.

Bedingen und bestimmen sind für mich zwei Verben mit entgegen
gerichteter kausaler Wirkung, wobei wir vielleicht sogar die je andere
kausale Richtung mit den Begriffen verbinden, wie Deine weitere Mail
zeigt. Wie dem auch sei, mir kam es darauf an, dass _beide_ kausale
Richtungen in dieser Frage zu beachten sind, so dass weitere
Begriffsschärfung hier in Haarspalterei ausarten würde.

Vielleicht einigen wir uns auf "subtiles Wechselverhältnis", denn mein
Einwand war ja, dass nicht nur Sozialisationsformen technische
Entwicklungen ermöglichen oder verhindern, sondern auch umgekehrt
technolgische Entwicklungen neue Sozialisationsformen ermöglichen und
oft auch erfordern. 

Außerdem ist "der Mensch als gesellschaftliches Wesen" in diesem
philospohischen Kontext ein hochgradiges Abstraktum und
grundverschieden von "der Mensch als Mensch". Jedenfalls kann ich "der
Mensch als Gesellschaftswesen" und "er bestimmt ..." (in dieser
personalisierten Form) nicht zusammen denken. Das Problem sind die
unterschiedlichen Zeithorizonte verschiedener sozialer Prozesse, die
bei oberflächlicher Betrachtung gewisse Komponenten als statisch
erscheinen lassen, obwohl gerade deren Dynamik subtilen Einfluss auf
das Gesamtbild hat. Aber das ist die Keimformdebatte, die will ich
hier nicht weiter führen.

Das weitere Stichwort wäre für mich "Kulturlandschaft" als die
durch menschliche Tätigkeit veränderte "Naturlandschaft", die
ihren Kulturcharakter (positiv wie negativ) nur durch die weitere
Tätigkeit des Menschen erhalten (reproduzieren) kann. Sonst
"verwildert" sie und wird wieder reine "Naturlandschaft".

Du stellst hier Naturlandschaft und Kulturlandschaft nebeneinander. Für
mich gibt es nichts außerhalb der Natur, daher ist alles
Naturlandschaft. Kulturlandschaft ist daher immer Naturlandschaft.
Kulturlandschaft ist Naturlandschaft, allerdings eine besondere.
Kulturlandschaft ist vom Menschen geprägt, während Naturlandschaft auch
ohne den Menschen da sein kann. Und sie war es auch, bis der Mensch in
der letzten Sekunde der Evolutionsuhr auf der Erde aufgetaucht ist. Seit
es den Menschen gibt, findet neben der bisherigen Naturveränderung auch
eine Naturveränderung durch den Menschen statt, was Du mit dem Begriff
der Kulturlandschaft beschrieben hast.

Da hast Du sicher recht, aber brauchen wir nicht gerade diese
Unterscheidung, um über das menschliche Tun zu reflektieren?  Und dann
auch einen Begriff, der das Gegenteil von "Kulturlandschaft"
bezeichnet? Wenn Dir "Naturlandschaft" als solcher Begriff nicht
gefällt, dann vielleicht "unberührte Natur"?

PS.: Ich habe mal die Marx-Werke, welche ich digital auf Scheibe
habe, mal nach Wissenschaft durchsucht. Ich konnte keine Stelle
finden, in welcher Marx dezidiert von Produktivkraft Wissenschaft
schreibt. Das ist meines Wissens nach eine Erfindung der Apologeten.

Mit dem Wort 'Apologeten' bin ich in dem Zusammenhang vorsichtig, denn
das Thema "Produktivkraft Wissenschaft" kommt mE stark aus den
Überlegungen der 60er Jahre, den Marx unter modernen Gesichtspunkten
weiter zu entwickeln.
Ich weiß nicht, was Du mit vorsichtig einst, ich verwende den Ausdruck
jedenfalls nicht als Schimpfwort. Ich sehe das auch so wie Du, dass
diese Konzeption aus der Diskussion um die Zeitschriften Prokla, Das
Argument und anderen hervorging. 

Oh, das kenne ich überhaupt nicht. Ich bezog mich auf die Debatte der
60er Jahre in Ost wie West um Kybernetik, Systemwissenschaften, NÖS
und wie sie alle heißen, die letzlich zu den 68ern (West) und dem
Prager Frühling (Ost) geführt haben und in der DDR seit wenigstens
Mitte der 70er Jahre abgewürgt war. Ein Weizenbaum oder eben
Fuchs-Kittowski wurden da nur noch sehr marginal in absoluten
Fachkreisen wahr genommen. Aber da gibt es viele Anknüpfungspunkte zum
heutigen Diskurses.

Das zentrale Problem des Begriffs "Wissenschaft als
Produktivkraft" sehe ich in der dabei vorgenommenen Verkürzung des
Wissensbegriffs auf "nützliches Wissen".
Zuerst mal eine Frage: gibt es anderes als nützliches Wissen? Was wäre
überhaupt Wissen, welches nutzlos wäre?
Also damit kann ich momentan nichts anfangen.

Es geht um a-priori bekannten Nutzen, also die Geschichte von der
Biene und dem Baumeister bei Marx. Für einen funktionierenden Markt
müssen Verkäufer und Käufer nicht nur klare (Gebrauchswert)-Nutzen-
Vorstellungen von der gehandelten Ware haben, sondern dieser Nutzen
muss schon (wenigstens im klassischen Marktmodell) _vor_ der
Produktion der Ware selbst im Kopf des Verkäufers als Vorstellung
vorhanden sein. Der Markt besorgt dann die Sozialisierung dieser
Vorstellungen, d.h. den Abgleich mit der Wirklichkeit (Stichwort
"Erfolg am Markt"). Für Wissen gilt das alles nur, wenn ich bereits
grobe Vorstellungen habe, dass es geht, und wie es geht. Das kann dann
ein Diplomand bearbeiten und er hat für 6 Monate sein Brot, aber so
richtig interessant ist es nicht. Wirklich interessantes Wissen (bei
F.-K., und da stimme ich zu) ist solches, dessen Nützlichkeit sich auf
kausal (und auch zeitlich) nicht vorhersehbare Weise manifestiert und
deshalb weder plan- noch steuerbar ist.


Bei Fuchs-Kittowski wird klar herausgearbeitet,
dass das für die Menschheit wirklich relevante Wissen im Zeitpunkt
seiner Kreation gerade _nicht_ in diese Kategorie fällt.  Und was das
Thema "nützliches Wissen" betrifft, da sind wir ja wohl hier und heute
(in diesem System) auch nicht viel weiter.
Leider hast Du zu Fuchs-Kittowski keine Literaturangabe gemacht. 

Das Mail-Archiv der Oekonux-Liste hat eine schöne Suchfunktion, mit
der Du vieles findest, auf was schon einmal Bezug genommen wurde.

   ... Steht auf meiner Texte-Seite
   http://www.informatik.uni-leipzig.de/~graebe/projekte/moderne/Texte
   und empfehle ich allen, die am Thema "Wissen" interessiert sind, zur
   Lektüre. (Mon, 7 May 2001)

Ich habe zu dem Thema vor einigen Jahren mal einige Stichpunkte aus
dem Philosophischen Wörterbuch (DDR) von 1974 synoptisch
aufgearbeitet, die die Ansätze dieser 'Apologeten', glaube ich, recht
gut wiedergeben.  Steht als "Informationsgesellschaft und
Arbeitsgesellschaft" auf
http://www.informatik.uni-leipzig.de/~graebe/projekte/moderne/Texte

Die Seite ist sehr informativ, aber so schnell kann ich mich da nicht
durchlesen.

Musst Du auch nicht, wir haben alle nebenbei noch anderes zu tun.
Meinungen dazu interessieren mich aber trotzdem.

-- 
Mit freundlichen Gruessen, Hans-Gert Graebe

      -----------------------------------------------------------
     |  PD Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig |
     |            Augustusplatz, D - 04109 Leipzig               |
     |         	     tel. : +49 - 341 - 97 32 248                |
     |         email: graebe informatik.uni-leipzig.de           |
     |  Home Page: http://www.informatik.uni-leipzig.de/~graebe  |
      -----------------------------------------------------------
________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


[English translation]
Thread: oxdeT02737 Message: 17/22 L7 [In index]
Message 02843 [Homepage] [Navigation]