Re: [ox] Freiwirtschaft (war: interessantes Interwiev)
- From: Jürgen Ernst <jrernst gmx.de>
- Date: Sun, 06 Jun 2004 21:52:26 +0200
Franz Nahrada schrieb:
Was einige hier in der Liste die sich Kapitalismuskritiker nennen bewegt
ist die schlichte Frage, warum dieses Verhalten "Akkumulation" überhaupt
rational ist. Warum muß man überhaupt Reichtum akkumulieren, und zwar
nicht bloß den Reichtum den man selbst bewohnt und besitzt, sondern den
Reichtum in einer ganz anderen Form, nämlich als abstrakte Quantität von
etwas, das es einem erlaubt, auf den Reichtum anderer (der ganzen Welt?)
in einem Austauschprozeß zuzugreifen? Und wer kann überhaupt Reichtum
akkumulieren? Was bewirkt der, der Reichtum akkumuliert?
Vielleicht kann ich zur Diskussion noch eine andere Sicht beisteuern.
Auch wenn man den homo oeconomicus weglässt, der angeblich nur rational
und egoistisch handelt, gibt es ein Prinzip, dass dazu führt, dass die
Reichen immer reicher werden und die Armen immer ärmer...
Es basiert auf der sog. Small-World-Theorie nachder jeder Mensch nur ca.
6 Schritte von jedem anderen Menschen entfernt ist. Man kann dies mit
Graphentheorie mathematisch beschreiben.
(Mark Buchanan: Small Worlds, Campus Verlag, ISBN 3-593-36801-3)
Das hat jetzt in erster Linie scheinbar nichts mit dieser Diskussion zu
tun, aber das täuscht.
Wenn man mit der Graphentheorie sog. Small-Worlds untersucht, dann
findet man dieses Prinzip in sozialen Netzwerken, im Aufbau der
neuronalen Struktur von Gehirnen, Erosionsmustern von Flüssen, im
Bauplan des elektr. Stromnetz., in der Struktur des Internet, im
Stammbau der Arten, Ökosysteme etc.
Ich kürze stark ab, damit es nicht zuviel wird. Kann das Buch jedenfalls
sehr empfehlen. (Übrigens: Milgram kommt auch drin vor.)
Jedenfalls, wenn man untersucht wie solche Netzwerke entstehen und
welche Eigenschaften sie haben, kristallisieren sich zwei Arten dieser
Netzwerke heraus: sog. egalitäre und aristokratische Netzwerke.
Am Beispiel ist es einfacher. Das Internet ist ein aristokratisches
Netz, da es Supercluster gibt, also Knoten mit extrem vielen Links.
Existieren diese Supercluster nicht, ist es ein egalitäres Netz.
Luis Amaral und seine Mitarbeiter von der Boston University haben das
genauer untersucht und festgestellt, dass ein aristokratisches Netzwerk
IMMER dann entsteht, wenn man es nach dem Prinzip "Die Reichen werden
immer reicher" konstruiert. Es ist fast so als würde es sich um ein
Naturgesetz handeln.
Die ökonomischen Theorien des freien Marktes gehen bis auf den Schotten
Adam Smith zurück, der in seinem berühmten Werk "The Wealth of Nations"
(1776) die Behauptung aufstellte, dass der freie Handel zwiaschen den
Mitgliedern einer Gesellschaft zum Wohl aller führt, obwohl jeder
Beteiligte nur auf seinen persönlichen Vorteil aus ist.
Außerdem gibt es in der ökonomischen Welt zahlreiche bemerkenswerte
Strukturen, von denen einige schon mehr als ein Jahrhundert bekannt sind
und nun mit dem Netzwerkansatz erklärt werden können.
1897 hat der italienische Ingenieur, Colkswirtschaftler und Soziologe
Vilfredo Pareto eine solche Struktur entdeckt. Nach ihm folgt die
Verteilung des Reichtums ähnlich universellen Gesetzen, wie sie in der
Thermodynamik oder der Chemie gelten. Die Kurve, die Paretos Gesetz
wiedergibt, fällt wesentlich langsamer ab als die Glockenkurve einer
Normalverteilung, was nichts anderes heisst, als dass es signifikant
mehr superreiche Menschen gibt, als man bei einer Normalverteilung
erwarten würde. Der Versuch, eine rationale Erklärung der Entstehung
dieser Ungleichheit zu finden, hat einige der größten oder zumindest
einige der einfallsreichsten Talente unter den
Wirtschaftswissenschaftlern bestimmt. Von der mathematischen Seite her
hat sich Paretos Gesetz bisher hartnäckig allen Erklärungsversuchen
widersetzt, deshalb hat man es auf die Fähigkeiten der Menschen
zurückzuführen versucht.
Aber Paretos Gesetz kümmert sich nicht um Individuen. Es gibt nur
wieder, was auf der Ebene vieler Individuen passiert und lässt jede
persönliche Geschichte aussen vor. Hier liegt eine Analogie zur
Untersuchung der Gestalt von Flussnetzwerken vor. Dabei ging es nicht um
die spezifische Gestalt dieses oder jenes Stromes, sondern um die
allgemeine Struktur von Flussnetzen. Die Forschung kam zu dem Ergebnis,
dass sich eine bestimmte Netzwerkordnung einstellt, obwohl die Gestalt
der einzelnen Flüsse und Nebenflüsse vom Zufall geprägt wird.
Man vermutet also ganz recht ein tieferliegendes Ordnungsprinzip.
Vor einigen Jahren sind die Physiker Jean Phillippe Bouchard und Marc
Mezard von der Pariser Universität der Beantwortung dieser Frage einen
großen Schritt weitergekommen, indem sie in das Modell noch die triviale
Tatsache einbezogen, dass Reichtum relativ ist. Die Konsequenz ist, dass
reiche Menschen dazu neigen, mehr zu investieren als arme.
Die Physiker simulierten viele Varianten mit unterschiedlichen
Anfangsbedingungen durch. Es zeigt sich, dass keine einzige dieser
Varianten die Grundstruktur der Reichtumsverteilung veränderte!
Mehr noch: Die mathematische Verteilung folgt exakt Paretos Gesetz - in
hervoragender Übereinstimmung mit den Daten aus der realen Welt. Dieser
Endzustand stellt sich ein, obwohl jede Person die gleichen Fähigkeiten
zum "Geldmachen" verfügte. Also hat Reichtum nichts mit Intelligenz zu
tun :o)
Das Geheimnis scheint ganz einfach zu sein. Zunächst wird bei den
Transaktionen Kapital zwischen den Personen hin und her geschoben. Wen
nun dabei eine Person zu einem bestimmten Zeitpunkt besonders reich
wird, kann sie eine Firma gründen, Häuder bauen und mehr ausgeben. In
all diesen Fällen fließt Kapital zu anderen Mitgliedern des Netzwerks.
Andererseits wird jemand, der besonders arm wird, weniger Kapital in das
Netzwerk werfen, denn er kann natürlich keine Häuser bauen und wird
seine Ausgaben einschränken müssen. Der Fluss von Kapital über die
Kanäle des Netzwerks wird also insgesamt Differenzen des Reichtums
ausgleiche. Bouchard und Mezard stellten jedoch fest, dass dieser
Ausgleichseffekt nie die Überhand gewinnt, da die zufallsgesteuerten
Profite auf Investitionen einen Prozess nach dem Muster "Die Reichen
werden immer reicher" anheizen, der schwerer wiegt. Unter 1000 Personen
werden keine zwei exakt das gleiche Glück mit ihren Kapitalanlagen
haben. Die meisten werden in der Hälfte der Zeit gewinnen und in der
anderen Hälfte verlieren. Die Reichen investieren aber mehr als die
Armen und haben damit eine höhere Chance auf einen höheren Gewinn.
Die Kombination von Zins und Zinseszins scheint selbst in einer Welt, in
der alle "gleich" sind und unter völlig vom Zufall bestimmte Profite
(oder auch Verluste) auf ihr angelegtes Kapital erhalten, zu einer
Konzentration des Reichtums zu führen.
Das Modell zeigt auch, dass Besteuerung die Unterschiede im Reichtum
ausgleicht, solange das abgeschöpfte Kapital mehr oder weniger
vollständig wieder in das Netzwerk hineingesteckt wird.
Das Pareto-Gesetz wird durch Steuern in seiner Grundstruktur nicht
verändert, aber die Reichen werden letztlich einen kleineren Anteil am
Kuchen besitzen.
Etwas überraschender ist ein anderes Ergebnis des Modells: Man erhält
eine ähnliche Umverteilung des Reichtums, durch alle ökonomischen
Maßnahmen, die überall im Netz die Ausgaben erhöhen. Höhere
Verkaufsteuern führen also beispielsweise dazu, dass das Ungleichgewicht
zunimmt.
Ich hoffe das war nun interessant für die Diskussion. Falls gewünscht
kann ich bestimmte Dinge näher erklären und aus dem Buch zitieren.
Ciao
Jürgen
--
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