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[ox] Re: Geltungsanspruch und Gesellschaft



Hi Franz,

Franz Nahrada wrote:
HGG: Etwas zu gestalten ist ein Anspruch im Sinne eines positiven 
Freiheitsrechts (wie bei Karsten Weber, siehe dessen Text zur
Chemnitzer Konferenz), d.h. er beinhaltet einen eigenen Anspruch an
die Gesellschaft, die Bedingungen für die Realisierung eines
solchen Anspruchs vorzuhalten. Und umgekehrt kann die Gesellschaft 
Verantwortlichkeit fordern, wenn ich einen solchen Anspruch
realisieren möchte und dafür die Möglichkeiten bekomme. Es ist
derselbe Prozess der Sozialisierung von Arbeit wie im Kapitalismus,
jedoch nicht so sehr auf die Herstellung von Gütern gerichtet,
sondern auf die Herstellung von Verkehrsformen - eben der
"Anspruch, ein Stück Gesellschaft selbst zu gestalten".

jetzt sind wir schon einen sehr großen Schritt weitergekommen: die Rede
vom Geltungsanspruch macht nur Sinn, wenn ich "Gesellschaft" als ein
Subjekt denken kann.

Hier sind wir vielleicht sogar beim Kern der Sache, denn die Vorstellung
daß "die Gesellschaft" den Individuen gegenübertritt und neben den
Individuen eine separate Realität hat, ist für mich eine Projektion der
Individuen selbst. 

Das hat noch eine paradigmatische Dimension. Du weißt, dass ich meinem
Denken sehr stark Paradigmen aus dem Bereich der dynamischen Systeme
(Koevolution, Mikro- und Makroevolution etc.) zu Grunde lege, wo
derartige Ansätze - die durch Fouriertransformation auf einer bestimmten
Zeitskala "separatierten Realitäten" einer eingegrenzten "Halbwertzeit"
- zum Grundhandwerkszeug gehören, die Komplexität der Welt zu
reduzieren. Und dann natürlich über Mehrskaleneffekte, das
Zusammendenken so separierter (lang- vs. kurzwelliger Phänomene) zu
raisonnieren.  Es ist damit in der Tat eine Projektion der Realität in
einen "zeitartigen" (Phasen)Raum, genau wie bei Dürr et al in der
"Potsdamer Denkschrift" angemahnt:

Sie muss ersetzt werden durch einen ‚Komos’, in dem nicht mehr 
Fragen: „Was ist? Was existiert?“ [HGG: also raumartige Projektionen]
am Anfang stehen, sondern nur Fragen der Art: „Was passiert? Was
bindet?“ [HGG: also zeitartige, prozessuale Projektionen]

Allerdings in keiner Weise (automatisch) eine Projektion in dem von dir
verwendeten Sinn des Wortes:

Sie entspringt der Tatsache daß menschliche Gesellschaft (als
"naturwüchsiger", quasiobjektiver Prozeß) bis dato nur in Form eines
"llusorischen Allgemeinwohls" organisiert war, das sich gegenüber den
Individuen als separate Macht konstituierte, eben als politische
Klasse, als Staat.

--------------------

Schlimm ist wenn unmittelbar - positiv so getan wird als müßte ich bloß
"Gestaltungsansprüche" an irgendjemanden formulieren. 

Die Semantik dieses Begriffs ist zu schärfen. Wenn ich den Begriff ins
Feld führe, dann im Kontext der Rejustierung von Begrifflichkeit, die
sich aus der Verschiebung der Sicht auf die Hauptkonfliktlinie dieser
Gesellschaft von "Bourgeoisie und Proletarier" (Marx - Manifest,
Überschrift Kapitel 1) zu "Creators and Owners" (Moglen - Manifest,
Überschrift Kapitel 1) erforderlich machen. Weil du heute (und die
Kirchbacher Mannschaft ist ein extrem aussagekräftiges Lehrbeispiel)
nicht mehr von einem abhängig lohnarbeitszentrierten Arbeitsbegriff
ausgehen kannst ohne die vielen free lancer, Halb-Selbstständigen etc.
außen vor zu lassen (die oft beides zugleich sind, Unternehmer _und_
abhängig Beschäftigte). Es geht (mir) also darum, dieses alte "Arbeit
her" durch einen _Anspruch_ zu ersetzen, ein Stück Gesellschaft selbst
gestalten zu wollen. In anderem Kontext haben wir hier auch schon von
Selbstverwirklichung und Selbstentfaltung gesprochen, denn es ist _auch_
ein "Selbst". Insofern ist ein "Gestaltungsanspruch" erst mal etwas, was
ich mit mir selbst ausmache. Aber eben nicht nur, denn (1) kann sich das
konflikthaft mit anderen Gestaltungsansprüchen überlappen und (2)
brauche ich Ressourcen, um den Anspruch zu realisieren.
Selbstverwirklichung ohne einen solchen Resonanzboden geht in einer
kulturell überformten, interdependenten Welt wie unserer nicht wirklich.
Übrigens in vielem konform mit Holloway (instrumentelle vs. kreative
Macht). Und wie konflikthaft so was zuweilen zugeht, kannst du an
unserer Wiki-Debatte en detail studieren.

Ich meine es ist wesentlich besser von einem Modell auszugehen wo ich
a priori von einem "Experiment" ausgehe, dessen Randbedingungen
formuliere und dafür versuche andere Individuen zu gewinnen und
zugleich feindselige Interessen (oder das staatliche prima facie
konservative Ordnungsinteresse) unter Hinweis auf realen Nutzen zu
neutralisieren oder "umzudrehen". Das Experiment und sein positiver
Ausgang selbst entscheiden über die Geltung, nicht ein abstrakter
Rechtsanspruch.

Das hat aber zwei Komponenten, das Vorher (was du tun _darfst_) und das
Nachher (ob du es _wohl getan_ hast). Tun in einer interdependenten Welt
bedeutet immer, sich in Verantwortung für das Getane zu begeben. Schon
allein deshalb, weil sich andere in ihrem Tun darauf verlassen. Ich
erinnere an meine Emnaziptaionsthesen vor mehr als 4 Jahren,
http://www.hg-graebe.de/EigeneTexte/e-thesen2.html, besonders These 4,
die ich hier noch mal im Wortlaut anführe

<zitat>
Die Entfaltung individueller Kompetenz im gesellschaftlichen
Arbeitsprozess erfordert neben einem freizügigen Zugang zur Wissensbasis
der Gesellschaft die relative Autonomie der Subjekte dieses Prozesses
hinsichtlich Zwecksetzung und Motivation. Moderne Technologien stellen
die Gesellschaft also vor die Herausforderung, die Rahmen für ein derart
emanzipatorisches Handeln nachhaltig zu sichern.

    In diesem Sinne verstandene Emanzipation bildet eine Einheit aus
Freiräumen und Kompetenz, aus Vertrauen und Verantwortlichkeit.

In diesem Begriff verbindet sich damit sowohl individuell als auch
gesellschaftsbezogen Anspruch und Herausforderung. Die hauptsächliche
individuelle Herausforderung besteht in der Aneignung und Entwicklung
von Kompetenz, um Freiräume verantwortlich zu gestalten. Die
hauptsächliche gesellschaftliche Herausforderung besteht in der
Schaffung von Freiräumen, in denen kompetente Individuen Verantwortung
übernehmen können, sowie von Bedingungen, unter denen sich Kompetenz
eigenverantwortlich reproduzieren und weiter entwickeln lässt.

In diesem Sinne verstandene Emanzipation ist eine reflexive, keine
relationale Kategorie. Emanzipation ist zuerst Selbstverwirklichung,
nicht Abgrenzung. Individuelle Emanzipation auf Kosten und zu Lasten
anderer ist nachhaltig nicht möglich. Eigene Emanzipation schließt die
Berücksichtigung des begründeten Emanzipationsanspruchs anderer und die
Ablösung hierarchisch geprägter Kommandostrukturen durch sachlich
geprägte Kommunikations- und Vernetzungsstrukturen ein.
</zitat>

Du wirst auch hier das Wort "Gesellschaft" monieren, aber es steht
schlicht für "die Umstände müssen so und so sein", wobei genau diese
Umstände nicht statisch sind, sondern als dynamisch und von Menschen
gemacht erkannt werden müssen. Sie sind allerdings Ergebnis
längerwelliger Effekte des gemeinsamen Tuns und auch nur auf einer
solchen längerwelligen Skala überhaupt zu beeinflussen.

Die Realisierung hängt eher an der temporären und limitierten
Außerkraftsetzung von geltenden Regeln als an einem Andocken an sie.

Das kommt auf die Regeln an. Siehe Holzkamps "Werkstattpapier".

Der Anspruch ist nur kollektiv - genauer kooperativ - zu denken.

Hier nur der Verweis darauf, daß die staatliche Reaktion auf
Gestaltungsansprüche umso schärfer ist, je kollektiver sie sich
manifestieren. Sie werden dann einer sehr eingehenden Untersuchung
unterzogen, integriert oder kriminalisiert.

Für einen Alien-Staat nur folgerichtig.

Da gefiele mir "Gestaltungskompetenz" schon viel besser! 

Die ist die (individuelle) Voraussetzung für die Realisierung des
Anspruchs.

Das zumindest müßtest Du ausführen. Gibt es einen Zusammenhang von
Gestaltungskompetenz und Gestaltungsanspruch, und wie ist der beschaffen?

Siehe obiges Zitat aus den Emanzipationsthesen. Kompetenz ist die
Voraussetzung für Verantwortungsfähigkeit und erst damit kannst du
überhaupt begründet Ansprüche stellen (vereinfacht gesagt, lässt das
"Lernen" und alle Entwicklungsaspekte außen vor). Dann allerdings sind
deine Ansprüche ein positives Recht im Sinne von Webers Ausführungen in
Chemnitz, d.h. andere haben dich dabei zu unterstützen, indem z.B. eben
Gesellschaft adäquat strukturiert ist bzw. wird.

Viele Grüße, HGG

-- 

  Prof. Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig
  Augustusplatz, D-04109 Leipzig, Raum 5-53	
  tel. : +49 341 97 32248
  email: graebe informatik.uni-leipzig.de
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