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Re: [ox] Noch mal zur Freien Gesellschaft



Hallo El Casi,

noch einen Nachsatz zu dem "hassen" und "ausrotten". Habe dazu gerade
eine interessante Stelle bei Hoevels (S. 213 ff., bes. 220)

Hoevels: Wilhelm Reichs Beitrag zu Psychoanalyse. Ahriman-Verlag 2001

gelesen.

<zitat>
Das Überich ist der Nachhall erlittenen Zwangs in der Situation
extremer Schwäche (nämlich der frühen Kindheit), noch dazu in später
unvorstellbar großer emotionaler Abhängigkeit; es ist der verlängerte
Arm der frühkindlich erlebten Eltern und wirkt aufgrund dieser Genese
weit über deren Lebenszeit und seine Ursprünge hinaus, gegenüber denen
es sich bald verselbständigt hat, als "psychisches Introjekt". Es kann
sich aufgrund dieses Ursprungs in wirklich externen Personen leicht
selber personalisieren (der "liebe Gott" in den Gläubigen, als
"Verfolger" - oder ganzer Verfolgerorganisationen - in den
Paranoikern) [... Dies] erklärt ausreichend, wer da wohl unsichtbar
dem "Patienten", d.h. jedem Menschen die Pistole an die Schläfe hält,
wenn er sich über seine Wünsche und Wahrnehmungen (übrigens sind auch
Wünsche nur - innere - Wahrnehmungen) klarwerden will und über gewisse
Impulse befremdet ist; die frühe Gewalt, der frühe Zwang persistiert
in permanenter Form und deformiert seinen Träger.

Das Überich besteht hauptsächlich aus Sätzen; sie sind wie gesagt, in
tiefer Schwäche und emotionaler Abhängigkeit erlebt worden und hallen
in ihm lebenslang wider - "du sollst ..", "du darfst ..", das und das
"ist so". Derlei gibt es noch mehr und trotz aller Einförmigkeit durch
gesellschaftliche Selektion ist es individuell verschieden und
spezifisch; die Psychoanalyse hat die therapeutische Aufgabe, diese in
den "Stimmen" vieler Paranoiker oft nur wenig verzerrt wiederkehrenden
Sätze akustisch zu verstärken und zu fixieren, den inneren Feindsender
abzuhören, sie durch ihren genauen Wortlaut und womöglich ihre
<b>Stimmfärbung</b>, ihren <b>Klang</b> wieder erkennbar zu machen;
dadurch verlieren sie ihre Kraft. (Die intelligentesten und
freiwilligsten meiner Leser können das auch ohne Psychoanalytiker
versuchen: ruhig abhören, genau hinhören; sicher und deutlich, aber
spontan, identifizieren. UND DANN EINS IN DIE FRESSE! (upcase im
Original - HGG) Das nützt tatsächlich.)
</zitat>

Das dürfte in etwa die emotionale Grundstimmung treffen, die
Sostschenko bewegt hat und die dich vielleicht bewogen hat, auf ihn in
dem Kontext Bezug zu nehmen. Und vielleicht auch Christophs
producer/predator Dichotomie.  Die für ein akademisches Traktat
ungewöhnliche Sprache untersetzt Hoevels ein paar Seiten weiter so:

<zitat>
"Dem Überich eins in die Fresse! (und allen seinen Abkömmlingen
selbstverständlich dazu)" - diese Parole klingt nicht gerade
akademisch, aber nichtsdestoweniger ist sie die treffendste Widergabe
des Wirkzentrums der psychoanalytischen Therapie, die mit so wenigen
Worten möglich ist, und wer der in diesem zentralen Sätzlein
gebundenen Emotionshöhe davonsaust, macht sein zages und gehorsam
gartenzwergendes Therapieren ziemlich wirkungslos [...]
</zitat>

Wenn du diese innere Barriere durchstoßen hast, dann bist du selbst
ein Stück weiter, aber du siehst die anderen vor deren eigenen
Barrieren stehen und kannst ihnen nicht helfen. Wenigstens nicht
unmittelbar und in der Geschwindigkeit, die du gern hättest.  Du hast
damit eine Form des Leidens abgelegt (die ihre Quelle im unterdrückten
ES hat), um nun in eine andere Form des Leidens zu geraten, das in
Werken wie "Verstand schafft Leiden" oder "Kassandra" trefflich
beschrieben ist; Leiden am Verhalten der "Zivilisten" (in C.Spehrs
Terminologie), die das, was du für dich als wichtig herausgefunden
hast, weiter fleißig verdrängen und damit bestenfalls sogar
glücklicher leben als du. Oder selber weiter leiden und nicht
verstehen, warum. Dem mit "hassen" und "ausrotten" begegnen zu wollen
- eben mit "revolutionärer Ungeduld" - verkennt, dass die je eigene
Überwindung der Barrieren *nur* von innen heraus kommen kann.  Den
"neuen Menschen" kann man nicht "erziehen" - für mich eine der
zentralen Erfahrungen aus den realsozialistischen Experimenten.

Viele Grüße, HGG

-- 

  Prof. Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig
  Augustusplatz, D-04109 Leipzig, Raum 5-53	
  tel. : [PHONE NUMBER REMOVED]
  email: graebe informatik.uni-leipzig.de
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