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Re: [ox] Noch mal zur Freien Gesellschaft



(Re: Hans-Gert Gräbe, 2006-02-24 12:50 [PHONE NUMBER REMOVED])

Hallo Hans-Gert!

Deine Interpretation des von mir zitierten Satzes von Sostschenko
beruht m.E. auf einem beträchtlichen Mißverständnis.  Es ist mir
wichtig dies zu erläutern, obwohl ich an das Buch z.Z. nicht
rankomme... Der Satz, das Leiden sei eine der größten Geißeln der
Menschheit und man müsse es ausrotten, um sich von ihr zu
befreien, fällt nicht (wie von Dir angenommen) in einem
"subjektlosen" Zusammenhang:  Er ist ein Fazit aus der
Auseinandersetzung des Autors mit seiner eigenen Wasserphobie
(wenn ich mich recht entsinne).  Dadurch, daß er, als er dieses
Fazit aufschrieb sich selbst weder sichtlich haßte noch
ausgerottet hatte, beantwortet sich Deine Frage, ob man das
praktisch wirklich trennen könne, das Hassen und Ausrotten des
Leidens einerseits und das Hassen und Ausrotten von Menschen
andererseits.  Ebenso widerlegt sich m.E. damit Dein Vorwurf, er
verkenne, daß "die je eigene Überwindung von Barrieren nur von
innen heraus kommen kann".  Im Gegenteil ist genau dies sein
Anliegen, dessenthalber er nicht nur diesen Satz, sondern das
ganze Buch geschrieben hat.  Allerdings ging er m.E. nicht davon
aus, daß 'von innen heraus' bedeuten könnte 'aus einer "autonomen"
Abgeschiedenheit' oder so heraus.  (Das mag ihm verziehen sein, da
er ein Schriftsteller war, also einen Beruf hatte, welcher ohne
andere Menschen nicht funktioniert ... wie übrigens alle Berufe).
All Deine Interpretationen, daraus abgeleiteten Vorbehalte,
Warnungen und Einsprüche treffen m.E. nicht in erster Linie ihn
und "seine Zeit, sondern illustrieren vor allem *Deine*
Denkrichtung und also unsere Zeit.  Warum Du versuchst, das auf
seinen Rücken abzuwälzen, verstehe ich nicht.  Es sei denn, dies
geschieht aus der Sehnsucht heraus, die Aspekte, die Dich heute zu
dieser kategorisch einseitigen Interpretation zwingen oder
verleiten, die Dir eine andere Interpretation offenbar geradezu
unmöglich erscheinen lassen, nicht wahrnehmen zu müssen.  Oder
diese Aspekte unseres heutigen Lebens wenigstens in einem anderen
Licht wahrnehmen zu können, nämlich im Lichte der Liebe.  Indem Du
dies aber nicht einmal in der Erwägung von Interpretationsräumen
für diesen Satzes tust, illustrierst Du m.E. nichts anderes, als
daß die gemeinte Vorstellung von Liebe (zumindest heutzutage)
nicht mehr ist, als eine Illusion bzw. eine Parole.  Was mich
frappiert, ist nicht Dein Anspruch, den Du dem (von mir aus dem
Zusammenhang gerissenen) Zitat gegenüber behauptest.  Sondern die
Tatsache, daß Du gar nicht auf den Gedanken gekommen bist, Deinen
Anspruch und seinen Anspruch in einem Zusammenhang sehen zu
wollen, oder nach einem solchen zu suchen, oder ihn zumindest
nicht von vornherein "kategorisch" auszuschließen. (Was ja nicht
zuletzt auch eine Aussage über Deinen Eindruck von Deinem
Gesprächspartner, also von mir, beinhaltet.) Daß Erich Fromm nicht
diese Worte verwendet und eines seiner Bücher "Die Kunst des
Liebens" genannt hat, konstituiert für mich noch längst keinen so
offensichtlichen Gegensatz zu dem Gedanken von Michail Sostschenko
wie offenbar für Dich.  Ich kann mich nämlich nicht erinnern, bei
Fromm etwas von Symphatie für Leiden entdeckt zu haben, ganz im
Gegenteil.  Deshalb hatte ich Dich nach näheren Anhaltspunkten
gefragt, denn unterschiedliche Blickwinkel und Ausdrucksweisen
machen für mich noch längst keinen wesentlichen inhaltlichen
Widerspruch aus.  Und gerade hier habe ich den Eindruck, daß die
Gemeinsamkeiten von Fromm und Sostschenko, sowohl bezüglich der
Sichtweise als auch bei der Einschätzung und Einordnung des
Gegenstandes, überwiegen.

Den "neuen Menschen" kann man nicht "erziehen" - für mich eine
der zentralen Erfahrungen aus den realsozialistischen
Experimenten.

Da ohne Erziehung kein Mensch entstehen kann, verstehe ich diesen
Satz nicht. Ein Mensch, ob neu oder alt, wird und ist immer
erzogen.  (Selbst Romulus, Remus und Tarzan und Konsorten sind ja
wohl nicht ganz ohne "Zieheltern" am Leben geblieben, um nicht zu
sagen: aufgezogen worden.)  Dies zu leugnen, bedeutet nur, den
faktischen Einfluß von Menschen auf Menschen dem Bereich des
bewußten Handelns, also des Bewußtseins zu entziehen -- und diesen
Einfluß damit im Bereich einer weiteren unsichtbaren Hand
anzusiedeln.  So etwas halte ich schlicht für rückschrittlich und
antiaufklärerisch.  So wie die unsichtbare Hand des Marktes die
gängige (positiv wertende) Formulierung für den Waren- bzw.
Wert-Fetischismus ist, so ist die die Leugnung und Ablehnung der
Erziehung ein Ausdruck des individualistischen
Selbstverwirklichungsfetischismus, der für die fortschreitende
Warengesellschaft ebenso typisch und unabdingbar ist, wie die
Illusion der Autonomie.

Grüße,
El Casi.

--
»Man bräuchte unvorstellbar viel Phantasie, um sich die Welt so
vorzustellen, wie sie ist.«
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